Von der Willkommenskultur zum Abschiebungswettbewerb

Aus den Augen, aus dem Sinn

Aus den Augen, aus dem Sinn

Von hier aus entwi­ckelte sich im deutschen Diskurs eine weitere Spaltungs­linie, die als solche jedoch nie benannt wurde : Die Trennung zwischen denje­nigen, die den Weg nach Deutsch­land bereits geschafft hatten und „integriert“ werden mussten, und den anderen, die unter­wegs an irgend­wel­chen Grenzen und Kontrollen hängen­blieben und nun als „illegale Immigranten“ bezeichnet wurden. Inter­es­san­ter­weise waren die einen oft die Angehö­rigen der anderen. Natür­lich waren im Grenz­lager Idomeni reich­lich viele Frauen und Kinder von jenen jungen Männern, die schon hier angekommen waren, und die bereits in diversen Unter­stüt­zer­gruppen, Gesprächs­kreisen, Deutsch­kursen usw. integriert waren. Es gab erste kleine, vorsich­tige Protest­ak­tionen von Geflüch­teten ; Kundge­bungen vor dem Auswär­tigen Amt, Mahnwa­chen mit der Forde­rung nach schnel­leren Bearbei­tung der Asylan­träge vor den Rathäu­sern einiger Städte, denn dies war die Voraus­set­zung, die Familie sicher nachholen zu können. Denn selbst für die, bei denen das Asylver­fahren im beschleu­nigten schrift­li­chen Verfahren nach wenigen Monaten mit positivem Bescheid abgeschlossen wurde, begann danach ein ewiges Warten darauf, dass die Familie endlich einen Termin im Libanon, in der Türkei oder im Irak bekam, um ihren Visums­an­trag stellen zu können.

Ich habe im Februar 2016 den ersten Antrag auf einen Famili­en­nachzug begleitet. Die Familie hat erst jetzt, im März 2017, endlich ihr Visum bekommen. Und sie hatte noch Glück : Eine andere Klientin, die im April 2016 um einen Termin in Beirut für ihren Mann, ihre Tochter und die zwei Söhne gebeten hatte, hat bis heute (ein Jahr später) keine Antwort bekommen – trotz mehrfa­cher Zusiche­rung des Auswär­tigen Amts, dass ihre Anfrage bearbeitet werden würde.

Auch die ersten Freiwil­ligen-Initia­tiven begannen es seltsam zu finden, jungen Männern, deren eigent­li­ches Problem es war, dass ihre Frau mit den Kindern gerade in einer Schlamm­wüste in Griechen­land zelten musste, bei der Wohnungs­suche zu helfen. Im Frühjahr begannen die ersten Initia­tiven, die Forde­rung nach Resett­le­ment wieder aufzu­greifen und eine neue Flücht­lings­auf­nah­me­kam­pagne, ausge­hend von den Kommunen, zu starten. Die Kampagne war in einigen Städten sogar recht erfolg­reich ; mehrere Stadt­rats­be­schlüsse erklärten ihre Bereit­schaft zur Aufnahme und forderten die Bundes­re­gie­rung auf, diese – schließ­lich bereits zugesagte – Aufnahme auch umzusetzen.

Verrück­ter­weise wurde der verhin­derte Famili­en­nachzug  in der öffent­li­chen Debatte nie zum zentralen Thema, und das trotz fortge­setzter Bericht­erstat­tung und obwohl es in der Flücht­ling-Beratung das wichtigste Problem des Jahres 2016 war. Die vorsichtig-verhal­tenen Proteste einiger syrischer Geflüch­teter verzahnten sich nicht mit den vor allem von deutschen Unter­stüt­ze­rInnen dominierten Resett­le­ment-Initia­tiven. Trotz deren relativen Erfolgs – im Februar 2017 wurden 50.000 Unter­schriften unter einer Petition in Berlin übergeben  – war der Druck auf die Bundes­re­gie­rung, endlich die bereits 2015 im Rahmen eines Reloca­tion-Programms zugesagten 27.400 Aufnah­me­plätze bereit­zu­stellen, nicht wirklich groß : Bis April 2017 wurden ganze 2.030 Flücht­linge aus Griechen­land und weitere 1,689 aus Italien aufge­nommen.

Es scheint, dass spätes­tens mit den Wahler­folgen der AfD in Baden-Württem­berg, Rhein­land Pfalz und Sachsen-Anhalt ein breites Einver­ständnis in Bevöl­ke­rung und Politik herrschte, dass mit der Zuwan­de­rung von 2015 die „Grenze der Belast­bar­keit“ überschritten worden war, und jede weitere Zuwan­de­rung die Aufnah­me­fä­hig­keit des Landes übersteigen würde. Diese Grund­an­nahme brach sich auch nicht an der Realität von allmäh­lich leerste­henden Aufnah­me­ein­rich­tungen und an nicht mehr verlän­gerten Zeitver­träge von Sozial­ar­bei­te­rInnen oder Catere­ring-Unter­nehmen, die auf nicht mehr ankom­mende Flücht­linge warteten.

Schizophrene Diskurse

Parallel dazu wurde in diesem Klima die „Integra­tions-Debatte“ fortge­setzt – ganz so, als ob es nie einen Bruch gegeben hätte. Es war ein absurdes Szenario : Auf der einen Seite Innen­po­li­tiker, die „Vollzugs­de­fi­zite“ abbauen und mit allen Mitteln die „Flücht­lings­zahlen“ senken wollten ; auf der anderen Seite Integra­ti­ons­po­li­ti­ke­rinnen, die einfach ignorierten, wie Menschen unter die Räder der Abschie­be­ma­schi­nerie gerieten und beharr­lich so taten, als wären die Struk­turen schon prima, nur die Perfor­mance müsse noch verbes­sert werden. Ich war im Frühjahr bei einer „Integra­tions-Konfe­renz“, die von weit über tausend Leuten besucht wurde, darunter Politiker, Migra­ti­ons­ex­per­tinnen, Handels­kam­mer­spre­che­rinnen, Lehrer, Schul­so­zi­al­ar­beiter, Kirchen­ver­tre­te­rinnen, Freiwil­li­genagen­turen und sogar einige Geflüch­tete. Es ging um Integra­tion, ergo wurde in dieser ganzen Konfe­renz nicht einmal das Wort „EU-Außen­grenze“, geschweige denn das Wort „Abschie­bung“ genutzt. Der Hinweis, dass Integra­tion auch daran schei­tern kann, dass Menschen panische Angst um ihre Angehö­rigen haben, weil diese keine Visa bekamen und in Kriegs­ge­bieten festhingen, war nicht willkommen, lenkte er doch vom Wesent­li­chen ab. Denn das Wesent­liche ist für Integra­ti­ons­po­li­tiker : Arbeit ! Und Bildung ! Und Sprach­kennt­nisse ! Früher Zugang zu Arbeit und deutscher Sprache ist in der Paral­lel­kultur der Integra­ti­ons­po­litik der Schlüssel zu allem. Und dort, im Paral­lel­uni­versum, wird mit leiser Stimme und verschämt hinzu­ge­fügt : Wenigs­tens für die mit „guter Bleibe­per­spek­tive“.

Denn für die anderen ist man als Integra­ti­ons­po­li­ti­kerin nicht zuständig. Für all die afgha­ni­schen, ghanai­schen, pakista­ni­schen, nigeria­ni­schen Geflüch­teten, die im Asylver­fahren hängen und die unbedingt Deutsch lernen wollen… für die gibt es nichts ; keine Integra­ti­ons­kurse, kein B2-Zerti­fikat und keine finan­zi­elle Unter­stüt­zung durch das BAMF.

Glück­li­cher­weise hat sich die Spaltung über die „Bleibe­per­spek­tive“ Geflüch­teter in der Zivil­ge­sell­schaft noch nicht überall festge­setzt : Es gibt weiter selbst­or­ga­ni­sierte, oft von freiwil­ligen und verren­teten Lehre­rInnen angebo­tene Sprach­kurse. Ohne Abschluss, ohne Zerti­fikat, aber zumin­dest mit der Chance, in der neuen fremden Umgebung kommu­ni­zieren und sich zurecht­zu­finden zu können. Für das Mensch-Sein ist das eine grund­le­gende Voraus­set­zung.

Bürokratischer Umbau

Während­dessen lud Innen­mi­nister De Maizière gemeinsam mit dem von ihm einge­setzten Behör­den­leiter Weise die Unter­neh­mens­be­ra­tung McKinsey ein, die internen Prozess­a­b­läufe des BAMF zu optimieren. Hundert­tau­sende aufge­lau­fene Asylan­träge sollten möglichst schnell „abgear­beitet“ werden. Zunächst war man aber mit dem Abbau des so genannten „EASY-Gap“ beschäf­tigt ; mit etlichen tausend Menschen, die noch darauf warteten, ihren Asylan­trag überhaupt stellen zu können. Manche warteten bereits über ein Jahr ; diese Leute kamen nun immer öfter in die Beratung und wollten, dass ich ihnen helfe, endlich einen Termin zu bekommen. Es waren die frustrie­rendsten Beratungen, die ich in endlosen Warte­schleifen mit enervie­renden Telefo­naten zumeist ohne greif­bare Ergeb­nisse zubrachte.

Die einen mussten ewig lange auf ihre Anhörung beim BAMF warten. Wenn sie eine Untätig­keits­klage einlegten, durften sie sich von den Verwal­tungs­ge­richten anhören, dass aufgrund der hohen Asylzahlen eine zügigere Bearbei­tung ausnahms­weise unmög­lich und daher eine Warte­zeit von andert­halb Jahren zumutbar sei. Gleich­zeitig straffte das BAMF die beschleu­nigten Verfahren für die Leute aus den sogenannten sicheren Herkunfts­län­dern, und ich erfuhr von Bearbei­tungs­zeiten von unter zwei Wochen – dann waren die Leute rechts­kräftig abgelehnt.

Immerhin : Die lange Warte­zeit der „Chancen­rei­chen“ auf die Asylan­hö­rung hatte zumin­dest den Vorteil, dass wir in der Beratung eine inten­sive Vorbe­rei­tung machen konnten, die sich auch manchmal über mehrere Treffen hinwegzog. Das änderte sich gegen Ende des Jahres 2016 : Jetzt prasselten auf einmal Vorla­dungen über Vorla­dungen auf Geflüch­tete ein, sodass wir mit Anhörungs­vor­be­rei­tungen kaum hinter­her­kamen und manche Kollegin noch abends um zehn ihren letzten Termin machte, weil die Anhörung bereits am nächsten Tag statt­finden sollte. Leute aus sogenannten „sicheren Herkunfts­län­dern“, die teils schon seit zwei Jahren hier waren und – im Bewusst­sein über die relative Chancen­lo­sig­keit ihrer Asylge­suche – bereits die leise Hoffnung hegten, das BAMF habe sie schlicht vergessen : Auch sie bekamen auf einmal Post in gelben Umschlägen und wurden – zu Recht – nervös.

Paradigmenwechsel hin zum Primat der Abschiebung

Mit dem Jahres­wechsel 2016/2017 kamen die Ableh­nungs­be­scheide. Nicht nur für Leuten aus den „Sicheren Herkunfts­län­dern“ - auch für Irake­rInnen, Afgha­nInnen, Irane­rInnen und andere. Die Ableh­nungs­be­grün­dungen sind zum Teil juris­tisch wie politisch himmel­schreiend. Bei Afgha­ni­stan wird immer wieder auf die inlän­di­sche Schutz­al­ter­na­tive verwiesen, die es aber nach Auffas­sung sämtli­cher Experten – einschließ­lich des UNHCR – nicht gibt. Ein Klient, dessen Freund von Taliban enthauptet wurde – der Kopf wurde anschlie­ßend an seine Familie geschickt – wurde mit der Begrün­dung abgelehnt, er selbst sei ja nicht bedroht. Dieselbe Begrün­dung erhielt ein Klient, dessen Bruder ermordet worden war. Eine allein­ste­hende Frau Mitte fünfzig, ohne familiäre Anbin­dung in Afgha­ni­stan, wurde mit der Begrün­dung abgelehnt, sie könne als Lehrerin ihren Lebens­un­ter­halt selbst­ständig verdienen.

Diese Begrün­dungen belegen die Qualität der  „sorgfäl­tigen Einzel­fall­prü­fungen“, die jeder „Rückfüh­rungs­maß­nahme“ voran­gehen sollen. Wer sich nur ein bisschen mit der Realität in dem Bürger­kriegs­land befasst, erkennt ihre Absur­dität.

Immer öfter kommen nun auch wütende und frustrierte „Ehren­amt­le­rInnen“ und Mitar­bei­te­rInnen von Flücht­lings­ein­rich­tungen auf mich zu, die fassungslos sind, dass die Menschen, denen sie inzwi­schen Deutsch beige­bracht hatten, die hier längst in der Schule waren oder sich selbst in Vereinen engagieren, Ableh­nungs­be­scheide und Abschie­be­an­dro­hungen bekommen. Es ist nicht immer ganz einfach zu erklären, dass die Asylent­schei­dungen absolut nichts mit „guter Integra­tion“ zu tun haben. Und dass es nötig sein wird, auf verschie­denen Ebenen nach anderen Lösungen zu suchen.

Zumin­dest das Rücküber­nah­me­ab­kommen mit Afgha­ni­stan und die Ende 2016 tatsäch­lich wieder verstärkt aufge­nom­menen Abschie­bungen in das Bürger­kriegs­land hatten und haben das Poten­tial, eine relativ breite Empörungs­welle zu erzeugen. Es wird nun deutlich, dass eigent­lich niemand davor sicher ist, Opfer einer politi­schen Flücht­lings­ab­wehr­stra­tegie zu werden. Herkunfts­länder wie Transit­länder werden inzwi­schen ohne jede Erfor­dernis einer Evidenz als „hinrei­chend sicher“ dekla­riert, und zwar nicht obwohl, sondern weil viele Menschen von dort flüchten. Die deutsche Bundes­re­gie­rung ist bei den Rücküber­nah­me­ab­kommen wie auch bei den sog. „Migra­ti­ons­part­ner­schaften“ für die gesamte EU feder­füh­rend.

Nicht nur bei der Vorver­la­ge­rung der Grenze, auch bei der Wieder­her­stel­lung der Grenzen im Inneren ist die Bundes­re­gie­rung die treibende Kraft. Hatte Merkel noch Ende 2015 erklärt, dass das Dublin-System in der bishe­rigen Form nicht funktio­niere, so wird inzwi­schen in Berlin und Brüssel mangels durch­setz­barer Alter­na­tiven an diesem nicht funktio­nie­renden inner­eu­ro­päi­schen Grenz­re­gime geflick­schus­tert und herum­ge­bas­telt. Seit Mitte März 2017 sollen sogar inner­eu­ro­päi­sche Abschie­bungen nach Griechen­land wieder aufge­nommen werden. Diese waren wegen „syste­mi­scher Mängel“ seit 2011 ausge­setzt. Die syste­ma­ti­schen Mängel sind heute gravie­render als vor sechs Jahren ; die Zahl der unter unmensch­li­chen Bedin­gungen lebenden Flücht­linge ist viel höher, im letzten Winter sind mehrere Menschen auch in offizi­ellen Flücht­lings­camps erfroren. Aber es geht längst nicht mehr um europäi­sche Standards, es geht darum, sich im Wahljahr um jeden Preis größere Flücht­lings­zahlen vom Hals zu halten.

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