Fast vierzig Prozent Zugewinn – und nun ?

Eine lokale Analyse und Betrach­tung für Wuppertal zur Bundes­tags­wahl am 24.September von der Website „Politik in der Rechts­kurve“.

Wuppertal liegt voll im westdeut­schen Trend der Ergeb­nisse zur Bundes­tags­wahl vom 24. September. Die rechte AfD kann in Wuppertal die Anzahl ihrer Stimmen in nur vier Monaten verdop­peln. Auch die LINKE legt zu, „Wohlfühl­kieze“ bleiben stabil, sind aber nicht immun gegen rechte Zugewinne. Die Ost-West-Diffe­renz in der Stadt ist verfes­tigt.

Das Ergebnis der AfD in Wuppertal liegt mit 10,8% ziemlich exakt auf dem Niveau der Ergeb­nisse für die Partei in Westdeutsch­land (10,7%), aber über dem Ergebnis in NRW (9,4%), (im Osten Deutsch­lands wählten 21,7% die AfD). In NRW gehört Wuppertal neben vielen Ruhrge­biets­städten damit zum oberen Mittel­feld der rechten Ergeb­nisse. Deutlich besser schnitt die AfD ledig­lich im Norden des Ruhrge­biets ab (in Essen II 15%, in Duisburg II 15,4%, in Gelsen­kir­chen 17%). In Münster (4,9%), Köln (5%-8%) und in Düssel­dorf I (7,9%) bekam die AfD hingegen unter­durch­schnitt­lich wenige Stimmen. Angesichts eines eher wenig präsenten AfD-Wahlkampfs in der Stadt ist es ernüch­ternd, dass sich Wuppertal in den Gesamt­trend der Wahl einreiht. Im Gegen­satz zu anderen Städten ist es hier nicht gelungen, den Trend zu rechter Politik zu brechen. Und es wird nicht einfa­cher werden. Nach dieser Wahl muss einkal­ku­liert werden, dass die AfD auch im lokalen Umfeld zukünftig deutlich präsenter sein wird. Von den etwa 400 Mio. Euro, die ihr durch Parla­ments­zu­ge­hö­rig­keiten in den nächsten vier Jahren zufallen, wird ganz sicher auch ein Teil nach Wuppertal fließen.

Nach der Landtags­wahl im Mai konsta­tierten wir „13.574 Wupper­ta­le­rInnen wählen rechts“. Das waren verdammt viele, doch die Zahl ist seit dem Mai nochmals deutlich größer geworden. Bei der Bundes­tags­wahl am 24.September machten 20.645 Menschen ihr Kreuz bei einer der rechten Parteien. Alleine auf die AfD entfielen 18.931 Stimmen. Im Vergleich zu den 12.586 Stimmen bei der Landtags­wahl sind das 50% mehr. Auch wenn die höhere Wahlbe­tei­li­gung bei der Bundes­tags­wahl berück­sich­tigt wird, ist das eine Steige­rung um 37,8% – geht man davon aus, dass die Wahlan­teile gleich­blei­bend verteilt worden wären. (Im Landes­schnitt von NRW hat die AfD nach dieser Berech­nung ebenfalls 38% Stimmen im Vergleich zur Landtags­wahl hinzu­ge­wonnen.) Diese Steige­rung um fast 40% in nur vier Monaten ist besorg­nis­er­re­gend und löst Fragen nach der Ursache aus. Handelt es sich um einen bundes­po­li­ti­schen Effekt, oder ist die eindeutig rechts positio­nierte Bundes-AfD wählbarer, als die sich unter Markus Pretzell gemäßigter gebende Landes-AfD ? Dagegen spricht das eher stabile, jedoch margi­nale NPD-Ergebnis, die nach 567 Stimmen im Mai immer noch von 423 Nazis in Wuppertal gewählt wurde.

AfD kann überall dazuge­winnen

Bei Betrach­tung der Wupper­taler Einzel­er­geb­nisse fällt zunächst auf, dass die AfD in allen Wahlbe­zirken, also in allen Milieus und allen Lagen, in ähnli­cher Weise dazu gewinnen konnte. Negativ inter­pre­tiert bedeutet das, dass auch Viertel mit noch im Mai sehr schlechten Ergeb­nissen für die Partei nicht immun gegen den Rechts­ruck sind. Positiv betrachtet, flacht sich die Kurve der Zugewinne in den bisher als AfD-Hochburgen geltenden Wahlbe­zirken zuneh­mend ab. Ergeb­nisse von mehr als 20% bleiben die Ausnahme (ihr bestes Ergebnis erzielte die AfD mit 24,76% in Ronsdorf-Ost, Wahlbe­zirk 210, 52 Stimmen). Dabei gibt es einzelne Ausreißer, bei denen sich ein genauerer Blick auf die Bedin­gungen lohnen würde. Im Wahlbe­zirk 114 (Steinweg, Barmen 86 Stimmen) ist es der Partei gelungen, mit 22, 75% vor der SPD stärkste Partei zu werden, die hier noch bei der Landtags­wahl fast doppelt soviele Stimmen wie die AfD bekam. (SPD Landtags­wahl : 32,12%; Bundes­tags­wahl : 22,49%)

Auffällig ist die nach wie vor geringe Wahlbe­tei­li­gung in jenen Wahlbe­zirken, in denen die AfD beson­ders gute Ergeb­nisse erzielen konnte. Vielfach liegt dort die Betei­li­gung an der Wahl nach wie vor unter 50%. Ebenso auffällig ist die nach wie vor bestehende Ost/West-Diffe­renz. Mit wenigen Ausnahmen wie Ronsdorf-Ost oder in Vohwinkel (ausge­rechnet im Wahlbe­zirk 88 am Elfen­hang) befinden sich alle Bezirke mit überpro­por­tional hohen AfD-Anteilen in Wupper­tals Osten ; in Barmen, Oberbarmen, Langer­feld und Hecking­hausen. Dass es nicht ein hoher Anteil an Bewoh­ne­rInnen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund ist, der beispiels­weise für die Ergeb­nisse in Oberbarmen verant­wort­lich ist, zeigt das Beispiel der im Norden Elber­felds liegenden Gathe, die in Lokal­presse und von AfD-Hetzern oft als Hort des Bösen skanda­li­siert wird. Hier konnte die AfD nur 7,23% holen (42 Stimmen), weit hinter die LINKE, die an der Gathe zweit­stärkste Partei wurde (24,44%, 142 Stimmen).

Alle Einzeler­ge­nisse zeigen, dass die beiden großen Parteien SPD und CDU in ihren Hochburgen jeweils deutlich verloren haben. Doch während im Osten davon vor allem die AfD profi­tierte, war es in einigen Wahlbe­zirken des Elber­felder Nordens die LINKE. Sie konnte zum Beispiel im Wahlbe­zirk Schles­wiger Straße, im Herz des noch bei der Landtags­wahl zwischen rechts und links heftig umkämpften Bezirkes um den Platz der Republik, diesmal mit 24,44% stärkste Partei werden (152 Stimmen). Die AfD erhielt hier ledig­lich 40 Stimmen oder 6,43% (fast gleich­blei­bend zu Mai). In anderen Wahlbe­zirken am Opphof sieht das Wahler­gebnis nicht so gut aus. Auf der östli­chen Seite des Platz der Republik, am Engeln­berg, konnte die AfD die LINKE jetzt als dritte Kraft ablösen (AfD 13,38%, 84 Stimmen, die LINKE 11,62% 66 Stimmen). Die „andere Seite“ der Elber­felder Nordstadt bleibt also, bei konstant niedriger Betei­li­gung und teils katastro­phalen Ergeb­nissen für SPD und CDU,  ein umkämpftes Gebiet.

Der Ölberg bleibt nach wie vor Ort linker Hegemonie. Die LINKE konnte bei schon vorher guten Werten auch bei der Bundes­tags­wahl nochmals deutlich zulegen. Am Hombü­chel (29,67%, 214 Stimmen), in der Marien­straße (28,20%, 247 Stimmen) und auch in der Helmholtz­straße (26,37% 173 Stimmen) wurde sie stärkste Partei. Die AfD kam in diesen Bezirken auch diesmal nicht über die 5%, konnte aber dennoch überall an absoluten Stimmen rund 30% zulegen. Das sind im Vergleich zur Landtags­wahl im Mai jeweils zwischen sieben und zehn in der unmit­tel­baren Nachbar­schaft wohnende Wähle­rInnen mehr. Auch auf dem Ölberg gibt es Wahlbe­zirke mit größeren AfD-Zugewinnen. Sie konnte im Wahlbe­zirk 10 (das Gebiet Ekkehard­straße, Grüne­walder Berg und der untere Teil des Ölberges) zum Beispiel ihr Ergbnis von 2,91% auf 6,37% steigern. Gleich 18 Nachba­rInnen mehr als im Mai haben hier nun rassis­tisch gewählt, bei der Landtags­wahl waren es nur 13 gewesen.

Der Kampf gegen Rechts wird in den Vierteln geführt

Das macht deutlich, dass auch die Gegenden, in denen sowohl im Alltag als auch bei den Wahlen bislang kaum etwas vom Rechts­ruck der Gesell­schaft zu spüren gewesen ist, nicht immun dagegen sind. Es wäre ein Fehler zu glauben, die oft so genannten „Wohlfühl­kieze“ als dauer­haft gesichert gegen rassis­ti­sche Tendenzen anzusehen. Denn was bedeutet „Wohlfühl­kiez“ über (noch) beruhi­gende Wahler­geb­nisse hinaus ? Wenn die Wahlbe­zirke betrachtet werden, in denen die AfD eher wenig Zustim­mung findet, dann lässt sich häufig ein großes zivil­ge­sell­schaft­li­ches Engage­ment auch außer­halb der Wahlpe­ri­oden feststellen. Viele Initia­tiven und Inter­ven­tionen – nicht zuletzt auch linke – sind für ein Klima verant­wort­lich, in dem sich eine Kritik am Bestehenden eher konstruktiv artiku­liert. Diese Alltags­ar­beit jedoch ist im wahrsten Sinn des Wortes viel zu oft prekär – unhono­riert, freiwillig und sie wird sehr oft mit zu wenigen Aktiven geleistet. Kleine Änderungen der Lebens­um­stände der Betei­ligten oder der Umgebung können ausrei­chen, die Arbeit in den Kiezen einschlafen zu lassen.

Wenn Viertel, die über sehr hetero­gene Nachbar­schaften definiert werden, einen sozio-kultu­rellen Wandel durch­laufen – so, wie es anläss­lich der sehr spezi­ellen Wupper­taler Form von Gentri­fi­zie­rung gerade auf dem Ölberg passiert – besteht die Gefahr, dass zuvor gewach­sene linke Inter­ven­ti­ons­mög­lich­keiten margi­na­li­siert werden können, wenn nicht bewusst an ihnen weiter­ge­ar­beitet wird. Da kann die Schlie­ßung einzelner Lokale die als Orte des Austauschs dienten, schon reichen, wesent­lich an Einfluss zu verlieren. Dabei geht es nicht um Agita­tion sondern um perma­nenten Austausch mit den Nachba­rInnen. Es geht darum, ein Gesamt­klima zu schaffen, in dem rechte Entwick­lungen gar nicht Fuß fassen können. Angesichts von etwa 50% Nicht­wäh­le­rInnen auch auf dem Ölberg könnten auch dort Wahler­geb­nisse künftig überra­schend negativ ausfallen, wenn die Erwei­te­rung von Sagbar­keits­räumen und rechte Diskurs­ver­schie­bungen zugelassen werden. Ähnli­ches gilt für die Gegend um den Mirker Bahnhof und die Wiesen­straße.

Die nach der Landtags­wahl disku­tierte Alter­na­tive, besser in anderen, scheinbar schon „gekippten“ oder zumin­dest „umkämpften“ Vierteln zu inter­ve­nieren statt sich auf das eigene Quartier zu konzen­trieren, ist keine. Die eigenen Viertel dürfen nicht vernach­läs­sigt werden, so richtig es zweifellos ist, ein rechtes Überge­wicht auch in Hecking­hausen oder Ronsdorf nicht einfach hinzu­nehmen. Doch schon nach der Landtags­wahl stellte sich die Frage, wie das von der radikalen wie der parla­men­ta­ri­schen Linken gestemmt werden soll. Ohne die eigene Basis zu vergößern, wird das nicht funktio­nieren. Bevor Inter­ven­tionen außer­halb eigener Zonen erfolgen können, muss deshalb in Teilen ein Neuaufbau statt­finden. Es könnte sein, dass der „Schock“, den viele angesichts der Wahl dann doch empfunden haben, eine Reorga­ni­sa­tion auf breiterer Basis erleich­tert.

Doch bevor das passiert ist, stellt sich eine ganz andere Frage : Was ist eigent­lich mit den großen Parteien ? Auch wenn sie bundes­weit zur Zeit darum bemüht zu sein scheinen, die AfD rechts überholen zu wollen, ihre katastro­phalen Ergeb­nisse auf lokaler Ebene müssten auch sie eigent­lich motivieren, gegen­zu­steuern. Es geht ja auch um „ihre“ Viertel. Es kann nicht sein, dass Alltags­en­ga­ge­ment und „demokra­ti­sche Inter­ven­tion“ weiterhin an Antifa und Linke delegiert werden, die man ansonsten bekämpft. Mehr noch als in Sonntags­reden der Bundes­po­li­ti­ke­rInnen wird sich in den nächsten Jahren an der Präsenz in den Quartieren und Nachbar­schaften festma­chen lassen, ob die „demokra­ti­sche Mitte“ gewillt ist, dem Rechts­ruck etwas entge­gen­zu­setzen. Ein vierjähr­li­cher „Türklin­gel­wahl­kampf“ oder bei Straßen­festen feilge­bo­tene Bratwürste werden dafür aber nicht reichen – da müsste schon mehr kommen. Wenn sie sich perso­nell oder inhalt­lich nicht dazu in der Lage sehen, sollten sie zumin­dest dafür sorgen, dass in der Stadt mehr Mittel als bisher für gesell­schaft­liche Initia­tiven bereit gestellt werden.

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Von der Willkommenskultur zum Abschiebungswettbewerb

Vorbe­mer­kung

Dieser Artikel wurde von einer antiras­sis­ti­schen Aktivistin geschrieben, die seit Ende der 1990er Jahre Migra­ti­ons­be­we­gungen und die Kämpfe Geflüch­teter beobachtet und unter­stützt. Seit andert­halb Jahren arbeitet sie zudem (wieder) als haupt­amt­liche Flücht­lings­be­ra­terin in einer westdeut­schen Großstadt. Die Verän­de­rungen im öffent­li­chen Diskurs, in der Wahrneh­mung Geflüch­teter wie auch den Resonanz­boden der Diskurse auf der legis­la­tiven Ebene des Asyl- und Aufent­halts­rechts bekam sie sehr direkt mit – in ihrem Arbeits­alltag wie in ihrem politi­schen Umfeld. Trotzdem ist dieser Artikel eine sehr subjek­tive Sicht auf gegen­läu­fige Entwick­lungen, die von einer weiterhin relativ „flücht­lings­freund­li­chen“ Grund­stim­mung in der städti­schen Zivil­ge­sell­schaft und einem mittler­weile europa­weiten hegemo­nialen neu-rechten Diskurs, der auf Abschot­tung und Abschie­bung zielt, geprägt sind.

In diesem Artikel versucht sie, die enorme Diskre­panz zwischen dem, was sie in ihrer politi­schen Arbeit wie auch in ihrer bezahlten Beratungs­ar­beit erlebt, dem, was gleich­zeitig politisch disku­tiert wird und dem, was ihr politisch notwendig scheint zu skizzieren.

In Koope­ra­tion mit welcome2wuppertal (w2wtal)

Der kurze Sommer der Migration : Euphorie und Überforderung

Als ich im Frühherbst 2015 nach einigen Jahren Auszeit wieder in die (haupt­amt­liche) Flücht­lings­ar­beit einstieg, konnte ich eigent­lich keinen spannen­deren Zeitpunkt erwischen. Es waren die Wochen, in denen überall im Land neue Flücht­lings-Willkom­mens-Initia­tiven aus dem Boden sprossen, inter­netaf­fine Leute jeden Tag mindes­tens eine neue mehrspra­chige App mit wichtigen Infos für Neuan­kömm­linge ins Netz stellten, jede zweite Kirchen­ge­meinde Kleider- und Spiel­zeug­spenden sammelte, die Menschen –  sogar politi­sche Aktivis­tInnen - zu hunderten zu den Bahnhöfen strömten, um den nächsten „Train of Hope“ zu beklat­schen. Sogar die Bild-Zeitung titelte „Refugees welcome“, und Deutsch­land war außer sich. Dieses Land, das wir immer als Ausge­burt des adminis­tra­tiven und gesell­schaft­li­chen Rassismus kriti­siert hatten, war plötz­lich nicht mehr wieder­zu­er­kennen vor lauter zivil­ge­sell­schaft­li­chen Solida­rität mit denen, die ihre gefähr­liche und anstren­gende Reise mehr oder weniger glück­lich überstanden hatten.

Es war eine eupho­ri­sche Zeit und zugleich eine, die die Menschen, die mit der Flücht­lings­auf­nahme direkt zu tun hatten – vom Bundesamt über die Bezirks­re­gie­rungen, die kommu­nalen Behörden bis hinunter zu uns Flücht­lings-Sozial­ar­bei­te­rInnen – vor erheb­liche Heraus­for­de­rungen stellte. Die offenen Schengen-Grenzen, eigent­lich eine Selbst­ver­ständ­lich­keit seit 1995 und keines­wegs der „recht­lose Zustand“, den Seehofer in seinen Panik­at­ta­cken herauf­be­schwor, wurden nun endlich auch von denen überquert, die am meisten auf diese Offen­heit angewiesen waren, auch wenn sie bei den Schengen-Abkommen seiner­zeit natür­lich nicht mitge­meint gewesen waren. Die Dublin-Verord­nung wurde kurzzeitig außer Kraft gesetzt und zig-Tausende nutzen dieses schmale Zeitfenster - wohl wissend, dass es sich bald schon wieder schließen würde.

Vorläufig aber gab dieser kurze Kollaps der Ordnungs­po­litik, als alle Ressourcen mehr oder weniger darauf gerichtet waren, Obdach­lo­sig­keit zu vermeiden und die gewohnten Kontroll­in­stru­mente noch nicht wieder funktio­nierten, den Geflüch­teten einen großar­tigen Freiraum. In der Notauf­nahme, die wir betreuten, konnten wir praktisch unter Umgehung der üblichen bürokra­ti­schen Wege Familien, die auf der Flucht getrennt wurden, wieder zusam­men­bringen ; dieje­nigen, die in andere Länder weiter­reisen wollten, ruhten sich einige Tage aus, setzten sich dann mit uns Berate­rinnen zusammen und holten sich die nötigen Infos über die beste Reise­routen und über die Asylsys­teme der jewei­ligen Länder ; wer im Zug kein Ticket bei sich hatte und so aussah, als ob er oder sie ein Flücht­ling sein könnte, durfte ohne Kontrolle weiter­fahren, denn auch die Deutsche Bahn hatte kapitu­liert und die Bundes­po­lizei hatte anderes zu tun, als die persön­li­chen Daten der Neuan­kömm­linge festzu­stellen, bloß weil diese kein Geld für ein Bahnti­cket mehr übrig hatten.

Es war eine gute Zeit, und zugleich für viele Kolle­ginnen mit Ängsten verbunden. Ich arbei­tete bei einem kirch­li­chen Träger, und längst nicht alle Kolle­gInnen dort sind Linke. Vielen fehlte auch die nötige Flexi­bi­lität und Impro­vi­sa­ti­ons­fä­hig­keit ; sie wussten vor Arbeit und Anfor­de­rungen nicht mehr ein noch aus, und in manchem Seufzer, wie man das alles schaffen sollte, klang der deutliche Wunsch durch, die Seehofer-Fraktion möge sich durch­setzen und die Flücht­linge gestoppt werden. Auch wenn selbst­ver­ständ­lich keine/r das so sagte. Ich erinnere mich an eine Kollegin, die mir in der Mittags­pause von einem Albtraum berich­tete : Sie stand vor ihrem Büro auf dem Flur inmitten einer Menschen­menge, alle waren Geflüch­tete. Sie versuchte, sich durch die Menge zu den Toilet­ten­räumen durch­zu­drängen und wurde auf Arabisch – in ihrem Traum verstand sie Arabisch – angeschrien, dass sie doch jetzt nicht gehen könne ; die Leuten warteten schließ­lich alle darauf, dass sie Zeit für sie haben würde !

Am schlimmsten aller­dings erging es den Kolle­gInnen, die versu­chen mussten, „das Ehrenamt“ zu koordi­nieren : Das Telefon stand keine Minute still, jede zweite Rentnerin wollte helfen und am besten sofort „ihren“ Flücht­ling vermit­telt bekommen, dem sie Deutsch­un­ter­richt geben und den sie auf Ämter begleiten konnte. Tausende wollten plötz­lich etwas für Flücht­linge machen ; einige waren neidisch auf ihre Nachbarn, die „ihren Flücht­ling“ schon kennen­ge­lernt hatten, und wurden wütend, wenn sich in den nächsten zwei Tagen keine Aufgabe bei der Kleider­aus­gabe etc. für sie finden ließ. Manche verhin­derte „Ehren­amt­le­rinnen“ wurden so wütend, dass sie zornige Leser­briefe an die Lokal­presse schickten, weil die Kolle­ginnen von den Wohlfahrts­ver­bänden ihnen keine Aufgabe in der „Flücht­lings­hilfe“ gaben, obwohl sie sich schon vor zwei Wochen in eine Liste einge­tragen hatten. Oft half auch kein gutes Zureden, dass ihre Hilfe sicher auch noch in einigen Monaten gebraucht und willkommen sein würde. Was die Sicher­heit der Flücht­linge anbelangte, war ich bei manchen der „Ehren­amt­le­rinnen“ besorgter als im Hinblick auf Nazis oder Salafisten – und damit war ich nicht allein.

Von außen, von Flücht­lings­selbst­or­ga­ni­sa­tionen undra­di­kalen Linken wurde – oft zu Recht – massiver Pater­na­lismus bei den, finan­ziell oft gutge­stellten bürger­li­chen „Ehren­amt­le­rInnen“ kriti­siert. Was ein Grund dafür war, dass viele Linke sich von vornherein von Unter­stüt­zungs-Initia­tiven fernhielten. Eine Abwehr­hal­tung, die ich bis heute für einen fatalen Fehler halte.

Trotzdem bleibt festzu­halten, dass ohne das ernst­hafte und konti­nu­ier­liche Engage­ment von vielen großar­tigen „Helfe­rInnen“ das Ankommen für die Geflüch­teten deutlich unange­nehmer gewesen wäre, als es das schon war. Die Aufnah­me­be­din­gungen in einer Turnhalle waren für einige Leute, die dringend Ruhe und Privat­sphäre gebraucht hätten, schwer erträg­lich bis unzumutbar. Ich habe das nie abgestritten und konnte jedem Recht geben, der sich beschwerte. Als Aktivistin, die auf zahllosen Anti-Lager-Demos mitge­laufen ist und die nicht wenige dieser entsetz­li­chen Isola­ti­ons­lager von innen gesehen und auch einige Geflüch­tete kennen­ge­lernt hat, die über Jahre in Lagern gelebt und daran psychisch wie geistig zerbro­chen sind, konnte ich den Ärger und die Verzweif­lung bestens nachvoll­ziehen. Zumal unklar war, wie lange die untrag­bare Situa­tion in der Turnhalle andauern würde.

Es wurde viel und zurecht kriti­siert, dass die steigende Zahl von Asylsu­chenden absehbar gewesen war, dass man die Aufnah­me­struk­turen früher hätte ausbauen müssen, dass das Chaos vermeidbar gewesen wäre, wenn zum richtigen Zeitpunkt ein wenig politi­scher Realismus vorhanden gewesen wäre. Doch nun war Herbst 2015, und die Lage war wie sie war. Zu dem Zeitpunkt war auch klar, dass die Unter­brin­gung in Notun­ter­künften wohl nur durch Konfis­zie­rung von Wohnraum abzuwenden gewesen wäre. Hiervon wurde aus politi­schen Gründen abgesehen.

Immerhin, die Leute waren da und besser unter­ge­bracht als in Griechen­land, den Balkan­staaten und Ungarn, und alles andere würde sich hoffent­lich regeln lassen. Die Grenzen waren glück­li­cher­weise noch immer durch­lässig und die staat­liche Kontrolle über die Migra­ti­ons­be­we­gung noch nicht wieder herge­stellt.

Für mich war dieser staat­liche Kontroll­ver­lust ein tägli­cher Grund zu feiern, auch wenn ich selbst über Wochen hinweg keinen freien Tag hatte und an manchen Tagen dreizehn Stunden ohne Pause arbei­tete : Ich wollte, dass es so bleibe. Und ich wusste doch, dass die Hardliner in den Bundes­be­hörden und Minis­te­rien schon längst daran arbei­teten, die „recht­lose Situa­tion“ (O-Ton Horst Seehofer) die es so vielen ermög­lichte, ihr Recht auf Schutz in Deutsch­land zu reali­sieren, möglichst bald zu beenden.

Der Rollback beginnt und kaum jemand merkt etwas

Bereits im September 2015 wurde der Entwurf zum Asylpaket 1 aus den Schub­laden gezogen und im Kabinett beschlossen. Im seitdem bei Asylrechts­ver­schär­fungen üblichen Schnell­ver­fahren wurde das Paket durch den Bundestag geprü­gelt und trat im November bereits in Kraft. Die Geset­zes­re­form zielte noch auf die altbe­kannte Trennung zwischen „würdigen“ und „unwür­digen“ Flücht­lingen, also zwischen denen, die vor politi­scher Verfol­gung und Krieg flüchten, und denen die „nur“ vor Diskri­mi­nie­rung und wirtschaft­li­cher Not flohen. Es setzt das Recht auf ein faires Verfahren für Menschen aus sogenannten „sicheren Herkunfts­län­dern“ in der Praxis außer Kraft, und führt dazu, dass wir inzwi­schen seit einigen Monaten die meisten Leute aus diesen Ländern gar nicht mehr in den Kommunen antreffen, also auch nicht beraten können, weil sie bis zur Abschie­bung in so genannten „Schwer­punkt­zen­tren“ festge­halten werden.

Damals ging es noch vor allem gegen „Balkan-Flücht­linge“. In der von mir mitbe­treuten Notun­ter­kunft waren 2015 alle : Die „würdigen“ SyrerInnen und Irake­rInnen, einige afrika­ni­sche und afgha­ni­sche Leute, die irgendwo dazwi­schen hingen, und die „unwür­digen“ Albane­rInnen. Erfreu­li­cher­weise vollzogen die Geflüch­teten in der Notun­ter­kunft diese politi­sche Trennung nicht mit. Die beiden albani­schen Familien waren beide vor der Blutrache geflüchtet. Es waren zwei Cousins, deren Frauen und drei Töchter – alle bildhübsch, clever und unglaub­lich charming. Sie gehörten dazu wie alle anderen ; die Mädels waren every­bo­dies darling, spielten mit den afgha­ni­schen Kindern und versuchten ihrer­seits, den gehör­losen syrischen Schneider, der seine eigene Tochter in Aleppo zurück­lassen musste, mit einem breiten Grinsen aus seiner Traurig­keit heraus­zu­lo­cken.

Ich habe die beiden Familien in den folgenden Monaten aus den Augen verloren. Ich habe ihnen, so gut es ging, die nötigen recht­li­chen Infor­ma­tionen zum Asylver­fahren gegeben und mich verab­schiedet, als sie nach etwa zehn Wochen aus der Turnhalle in eine reguläre Landes­auf­nah­me­ein­rich­tung verlegt wurden. Danach hatten wir keinen Kontakt mehr und ich vermute, dass ihre Asylbe­schei­desie inzwi­schen – wie bei fast allen –  als offen­sicht­lich unbegründet abgelehnt wurden und sie anschlie­ßend entweder zur freiwil­ligen Ausreise gezwungen oder abgeschoben worden sind.

Als Aktivis­tInnen hofften wir auf und warben für eine Selbst­or­ga­ni­sie­rung der Geflüch­teten auf der einen, aber auch einen begin­nenden Aufstand der neuen „Ehren­amt­li­chen“, „Freiwil­ligen“, „Flücht­lings­un­ter­stüt­ze­rInnen“ auf der anderen Seite.  Wir hofften, dass die Willkom­mens-Kultur zu einem politi­schen Faktor in der Debatte um Flücht­lings­auf­nahme und  Asylrecht geworden sei. Wir hofften, dass mit den neuen Mit-Bürge­rInnen und den neuen Akteuren aus der Zivil­ge­sell­schaft, die ja durchaus oft Personen waren, die in ihrer Stadt etwas zu sagen hatten – Pfarre­rinnen, Lehrer, Rechts­an­wäl­tinnen, Kultur­schaf­fende – vielleicht ein neuer Wind in die Ausein­an­der­set­zung um Europa und seine Grenzen, um Migra­tion und das Recht zu Gehen und zu Bleiben, um Abschie­bungen und um Flucht­ur­sa­chen in Gang käme.

Leider waren wohl beide Gruppen, Geflüch­tete wie „Freiwil­lige“, Ende 2015 und 2016 zu sehr mit sich selbst beschäf­tigt, um sich auch noch um legis­la­tive Angriffe aus dem BMI zu kümmern. Die einen waren vollends ausge­lastet mit dem Aufbau der eigenen Zukunft – Wohnung, Sprach­er­werb, Schule, Job, Ausbil­dung…. – und dem Verar­beiten der eigenen Vergan­gen­heit, der Kriegs­er­fah­rungen, der Traumata, der Flucht. Die anderen mit dem Unter­stützen der einen und mit dem tägli­chen Kampf um und mit Zustän­dig­keiten, bürokra­ti­schen Hürden, Antrags­for­mu­laren und Infor­ma­tionen.

Das Thema war Integra­tion, nicht Flücht­lings­rechte. Und wenngleich es mancher­orts noch das Drama des verun­mög­lichten Famili­en­nach­zugs in die Lokal­me­dien schaffte :  Eine politi­sche Bewegung blieb vorläufig aus.

2016 ff.: Der Rollback wird spürbar

Mitte November 2015 geschah der Terror­an­schlag im Bataclan in Paris. Kurz darauf kam die Sylves­ter­nacht 2015/2016 mit den sexis­ti­schen Übergriffen auf Frauen in Köln, und Deutsch­land kam wieder zu sich. Deutsch­land kam wieder zu sich, und es war schlimmer als zuvor : Die AfD war wieder im Aufwind und entle­digte sich ihrer gemäßigten (neo-)liberalen Mitte. Die Regie­rungs­par­teien übernahmen in Teilen die Rhetorik und in noch weiteren Teilen die politi­schen Vorschläge der AfD ; das Asylpaket II wurde im Schweins­ga­lopp durch das parla­men­ta­ri­sche Verfahren getrieben ; auch die politi­schen Begriffe verschoben sich. Die inner­eu­ro­päi­schen Grenzen wurden immer weiter abgedichtet ; wir erfuhren das erste Mal von (rechts­wid­rigen) Rückschie­bungen an der deutsch-öster­rei­chi­schen Grenze und Flücht­linge, die noch außer­halb Europas waren, hießen plötz­lich nicht mehr „Flücht­linge“ sondern „illegale Einwan­derer“.

Einige unserer neuen Freunde, die in den letzten Monaten selbst über das „Refugees Welcome-Deutsch­land“ gestaunt hatten, waren nun schwer verun­si­chert, hatten das Gefühl etwas tun zu müssen, und wussten nicht was. Manche entschieden sich für Solida­ri­täts­de­mons­tra­tionen mit den von den sexis­ti­schen Übergriffen betrof­fenen Frauen. Andere hatten das Gefühl, sich jetzt erst recht nicht mehr politisch-öffent­lich äußern zu können. Und wieder andere, junge Männer, erzählten uns nun, dass sie selbst zuneh­mend und das erste Mal das Gefühl hätten, andere würden mit Angst, Abscheu und sogar Hass auf sie reagieren.

Das alles war gesell­schaft­liche Stimmung, zunächst diffus und schwer zu greifen. Die gesetz­ge­be­ri­schen Angriffe waren konkret, aber in ihrer Wirkung eher unsichtbar – wie die Ausrei­se­zen­tren für Leute aus „sicheren Herkunfts­län­dern“ - oder aber sie griffen zeitver­zö­gert -  wie die Verein­fa­chung und Beschleu­ni­gung von Abschie­bungen, die das Leitmotiv des zweiten Asylpa­kets darstellten.

In meiner Beratungs­ar­beit war es inzwi­schen die Ausnahme, dass ich auf Leute mit prekärem Aufent­halt aus den Balkan­län­dern traf. Denn diese kamen inzwi­schen nicht mehr in den Kommunen an. Hin und wieder traf ich aber Flücht­linge, die schon zugewiesen waren, oder aber eigent­lich im Abschie­be­lager hätten sein sollen, aber bei Famili­en­an­ge­hö­rigen in meiner Stadt wohnten und hofften, umver­teilt zu werden. Alle Versuche, in diesen Fällen etwas zu errei­chen, blieben erfolglos. Selbst im Fall einer Familie, deren todkranker Vater in einem Kranken­haus vor Ort im Sterben lag, sollte sie nach Auffas­sung des freund­li­chen Herrn von der Bezirks­re­gie­rung täglich die hundert Kilometer vom Ausrei­selager zum Kranken­haus pendeln – das Verfahren würde schließ­lich ohnehin in wenigen Wochen negativ abgeschlossen werden.

Es war unerheb­lich, mit welcher Behörde man sprach : Sobald die Frage nach dem Herkunfts­land fiel und meine Antwort der Name irgend­eines Westbal­kan­landes war, fielen die Schotten runter, war kaum ein Zugeständnis zu errei­chen. Und das war im Prinzip nicht viel anders, wenn ich mit anderen Sozial­ar­bei­te­rInnen sprach. Das Seufzen und der Kommentar zu der Aussichts­lo­sig­keit, für diese als unwürdig abgestem­pelten Geflüch­teten etwas errei­chen zu können, konnte ich als mitfüh­lende Beileids­be­kun­dung auffassen – oder aber als dezenten Hinweis, doch nicht zu viel Energie in aussichts­lose Fälle zu inves­tieren.

Es gab -  und gibt bis heute – immer wieder einige Fälle, in denen vor allem Freiwil­lige sich massiv ins Zeug legen, um Balkan-Flücht­linge zu unter­stützen. Inter­es­san­ter­weise sind das dann jedoch zualler­erst junge, gebil­dete und gut deutsch sprechende Nicht-Roma Flücht­linge. Ich habe einem ganzen Jahr in der Beratung keinen einzigen Fall mitbe­kommen, in dem „Freiwil­lige“ sich für das Bleibe­recht von Roma auf die Hinter­beine gestellt hätten.

Das mag Zufall sein ; aus meiner Sicht ist es bezeich­nend. Für den vorherr­schenden Antizi­ga­nismus, für die Wirksam­keit der erwähnten Spaltung in „würdige“ und „unwür­dige“ Flücht­linge, aber auch für das völlige Vergessen/Verdrängen sowohl der Lebens­be­din­gungen von Roma/Romnji in den Balkan­län­dern als auch einer spezi­fi­schen histo­ri­schen Verant­wor­tung. Bis in die Reihen der Kirchen und der Flücht­lings­hilfe drang die weitge­hend unwider­spro­chene Logik : Wenn „wir“ schon so viele Leute aufnehmen und integrieren sollen, dann müssen andere, die kein Bleibe­recht bekommen, nunmal gehen – und zwar möglichst schnell.  Die ersten, die unter die Räder dieses neuen Konsensus´ kamen, waren die Roma.

Ausbau und Konsolidierung des Grenzregimes/ Vorverlagerung der Grenzen

Merkels Versuch, eine „europäi­sche Lösung“ für die „Flücht­lings­krise“ zu finden, die nicht ausschließ­lich in Abschot­tung, sondern in inner­eu­ro­päi­scher „Umver­tei­lung der Lasten“ bestanden hätte, war gegen Ende des Jahres 2015 endgültig und offen­sicht­lich geschei­tert. Das mag man auch der verfehlten deutschen Politik zuzuschreiben gewesen sein, der die Dublin-VO jahre­lang sehr entge­gen­ge­kommen war und die lange von Solida­rität selbst nichts hatte wissen wollen. Aller­dings waren die Haupt­ak­teure, die sich gegen eine abgestimmte und auch wieder „kontrol­lierte“ europäi­sche Flücht­lings­auf­nahme ausspra­chen, die Visegrad-Staaten. Deren Veto besie­gelte das Ende der zeitwei­ligen Öffnung der Balkan­route und zurrte fest, dass sich die Seehofer-Linie, bei allem Begriffs­ge­zerre um „Obergrenzen“, realpo­li­tisch durch­setzte.

Merkel machte sich also auf den Weg und handelte Migra­tions-Verhin­de­rungs-Deals aus, zunächst mit der Türkei. Dieses „EU-Türkei-Abkommen“ sollte die Blaupause für weitere „Migra­ti­ons­ab­kommen“ darstellen, vor allem mit afrika­ni­schen Ländern, wie sie bereits im November 2015 beim EU-Gipfel in Valetta beschlossen worden waren. Der Tenor : Die europäi­schen Grenzen, und damit die Abwehr von Migran­tInnen, sollten und sollen perspek­ti­visch immer weiter in die Herkunfts- und Transit­lager verla­gert werden. Die Kritik, die von Menschen­rechts- und Asylor­ga­ni­sa­tionen an den „dirty deals” mit Dikta­toren und per inter­na­tio­nalem Haftbe­fehl gesuchten Menschen­rechts­ver­bre­chern geäußert wurde, fiel deutlich weniger schrill aus als die Kritik von Partei­freunden Merkels an der Nicht-Schlie­ßung der Grenze im September 2015. Und sie ging im lauter werdenden Getöse fast völlig unter.

Die Schlie­ßung der Balkan­route fand graduell statt und zog sich eigent­lich von Mitte Januar bis Mitte März 2016. Zunächst hörten wir von den bereits erwähnten (völker­rechts­wid­rigen) Rückschie­bungen durch die Bundes­po­lizei am bayri­schen Grenz­über­gang nach Öster­reich. Dann schloss Öster­reich seine Grenze, was sukzes­sive die Balkan­staaten bis nach Mazedo­nien zum selben Schritt trieb, und schließ­lich staute sich die Migra­tion im griechisch-mazedo­ni­schen Grenz­lager in Idomeni. Bis Mitte März 2016 wurden selektiv noch einzelne Geflüch­tete durch­ge­lassen ; zum Schluss kamen nur noch Menschen aus Syrien und dem Irak durch. Danach hatte Merkel den EU-Türkei-Deal zuende ausge­han­delt und dadurch ihre politi­sche Überle­bens­chance in die Hände der AKP-Regie­rung gelegt. Die Grenze schloss sich endgültig für alle. Bis zu 50.000 Geflüch­tete steckten in Griechen­land fest und konnten weder vor noch zurück.

Aus den Augen, aus dem Sinn

Von hier aus entwi­ckelte sich im deutschen Diskurs eine weitere Spaltungs­linie, die als solche jedoch nie benannt wurde : Die Trennung zwischen denje­nigen, die den Weg nach Deutsch­land bereits geschafft hatten und „integriert“ werden mussten, und den anderen, die unter­wegs an irgend­wel­chen Grenzen und Kontrollen hängen­blieben und nun als „illegale Immigranten“ bezeichnet wurden. Inter­es­san­ter­weise waren die einen oft die Angehö­rigen der anderen. Natür­lich waren im Grenz­lager Idomeni reich­lich viele Frauen und Kinder von jenen jungen Männern, die schon hier angekommen waren, und die bereits in diversen Unter­stüt­zer­gruppen, Gesprächs­kreisen, Deutsch­kursen usw. integriert waren. Es gab erste kleine, vorsich­tige Protest­ak­tionen von Geflüch­teten ; Kundge­bungen vor dem Auswär­tigen Amt, Mahnwa­chen mit der Forde­rung nach schnel­leren Bearbei­tung der Asylan­träge vor den Rathäu­sern einiger Städte, denn dies war die Voraus­set­zung, die Familie sicher nachholen zu können. Denn selbst für die, bei denen das Asylver­fahren im beschleu­nigten schrift­li­chen Verfahren nach wenigen Monaten mit positivem Bescheid abgeschlossen wurde, begann danach ein ewiges Warten darauf, dass die Familie endlich einen Termin im Libanon, in der Türkei oder im Irak bekam, um ihren Visums­an­trag stellen zu können.

Ich habe im Februar 2016 den ersten Antrag auf einen Famili­en­nachzug begleitet. Die Familie hat erst jetzt, im März 2017, endlich ihr Visum bekommen. Und sie hatte noch Glück : Eine andere Klientin, die im April 2016 um einen Termin in Beirut für ihren Mann, ihre Tochter und die zwei Söhne gebeten hatte, hat bis heute (ein Jahr später) keine Antwort bekommen – trotz mehrfa­cher Zusiche­rung des Auswär­tigen Amts, dass ihre Anfrage bearbeitet werden würde.

Auch die ersten Freiwil­ligen-Initia­tiven begannen es seltsam zu finden, jungen Männern, deren eigent­li­ches Problem es war, dass ihre Frau mit den Kindern gerade in einer Schlamm­wüste in Griechen­land zelten musste, bei der Wohnungs­suche zu helfen. Im Frühjahr begannen die ersten Initia­tiven, die Forde­rung nach Resett­le­ment wieder aufzu­greifen und eine neue Flücht­lings­auf­nah­me­kam­pagne, ausge­hend von den Kommunen, zu starten. Die Kampagne war in einigen Städten sogar recht erfolg­reich ; mehrere Stadt­rats­be­schlüsse erklärten ihre Bereit­schaft zur Aufnahme und forderten die Bundes­re­gie­rung auf, diese – schließ­lich bereits zugesagte – Aufnahme auch umzusetzen.

Verrück­ter­weise wurde der verhin­derte Famili­en­nachzug  in der öffent­li­chen Debatte nie zum zentralen Thema, und das trotz fortge­setzter Bericht­erstat­tung und obwohl es in der Flücht­ling-Beratung das wichtigste Problem des Jahres 2016 war. Die vorsichtig-verhal­tenen Proteste einiger syrischer Geflüch­teter verzahnten sich nicht mit den vor allem von deutschen Unter­stüt­ze­rInnen dominierten Resett­le­ment-Initia­tiven. Trotz deren relativen Erfolgs – im Februar 2017 wurden 50.000 Unter­schriften unter einer Petition in Berlin übergeben  – war der Druck auf die Bundes­re­gie­rung, endlich die bereits 2015 im Rahmen eines Reloca­tion-Programms zugesagten 27.400 Aufnah­me­plätze bereit­zu­stellen, nicht wirklich groß : Bis April 2017 wurden ganze 2.030 Flücht­linge aus Griechen­land und weitere 1,689 aus Italien aufge­nommen.

Es scheint, dass spätes­tens mit den Wahler­folgen der AfD in Baden-Württem­berg, Rhein­land Pfalz und Sachsen-Anhalt ein breites Einver­ständnis in Bevöl­ke­rung und Politik herrschte, dass mit der Zuwan­de­rung von 2015 die „Grenze der Belast­bar­keit“ überschritten worden war, und jede weitere Zuwan­de­rung die Aufnah­me­fä­hig­keit des Landes übersteigen würde. Diese Grund­an­nahme brach sich auch nicht an der Realität von allmäh­lich leerste­henden Aufnah­me­ein­rich­tungen und an nicht mehr verlän­gerten Zeitver­träge von Sozial­ar­bei­te­rInnen oder Catere­ring-Unter­nehmen, die auf nicht mehr ankom­mende Flücht­linge warteten.

Schizophrene Diskurse

Parallel dazu wurde in diesem Klima die „Integra­tions-Debatte“ fortge­setzt – ganz so, als ob es nie einen Bruch gegeben hätte. Es war ein absurdes Szenario : Auf der einen Seite Innen­po­li­tiker, die „Vollzugs­de­fi­zite“ abbauen und mit allen Mitteln die „Flücht­lings­zahlen“ senken wollten ; auf der anderen Seite Integra­ti­ons­po­li­ti­ke­rinnen, die einfach ignorierten, wie Menschen unter die Räder der Abschie­be­ma­schi­nerie gerieten und beharr­lich so taten, als wären die Struk­turen schon prima, nur die Perfor­mance müsse noch verbes­sert werden. Ich war im Frühjahr bei einer „Integra­tions-Konfe­renz“, die von weit über tausend Leuten besucht wurde, darunter Politiker, Migra­ti­ons­ex­per­tinnen, Handels­kam­mer­spre­che­rinnen, Lehrer, Schul­so­zi­al­ar­beiter, Kirchen­ver­tre­te­rinnen, Freiwil­li­genagen­turen und sogar einige Geflüch­tete. Es ging um Integra­tion, ergo wurde in dieser ganzen Konfe­renz nicht einmal das Wort „EU-Außen­grenze“, geschweige denn das Wort „Abschie­bung“ genutzt. Der Hinweis, dass Integra­tion auch daran schei­tern kann, dass Menschen panische Angst um ihre Angehö­rigen haben, weil diese keine Visa bekamen und in Kriegs­ge­bieten festhingen, war nicht willkommen, lenkte er doch vom Wesent­li­chen ab. Denn das Wesent­liche ist für Integra­ti­ons­po­li­tiker : Arbeit ! Und Bildung ! Und Sprach­kennt­nisse ! Früher Zugang zu Arbeit und deutscher Sprache ist in der Paral­lel­kultur der Integra­ti­ons­po­litik der Schlüssel zu allem. Und dort, im Paral­lel­uni­versum, wird mit leiser Stimme und verschämt hinzu­ge­fügt : Wenigs­tens für die mit „guter Bleibe­per­spek­tive“.

Denn für die anderen ist man als Integra­ti­ons­po­li­ti­kerin nicht zuständig. Für all die afgha­ni­schen, ghanai­schen, pakista­ni­schen, nigeria­ni­schen Geflüch­teten, die im Asylver­fahren hängen und die unbedingt Deutsch lernen wollen… für die gibt es nichts ; keine Integra­ti­ons­kurse, kein B2-Zerti­fikat und keine finan­zi­elle Unter­stüt­zung durch das BAMF.

Glück­li­cher­weise hat sich die Spaltung über die „Bleibe­per­spek­tive“ Geflüch­teter in der Zivil­ge­sell­schaft noch nicht überall festge­setzt : Es gibt weiter selbst­or­ga­ni­sierte, oft von freiwil­ligen und verren­teten Lehre­rInnen angebo­tene Sprach­kurse. Ohne Abschluss, ohne Zerti­fikat, aber zumin­dest mit der Chance, in der neuen fremden Umgebung kommu­ni­zieren und sich zurecht­zu­finden zu können. Für das Mensch-Sein ist das eine grund­le­gende Voraus­set­zung.

Bürokratischer Umbau

Während­dessen lud Innen­mi­nister De Maizière gemeinsam mit dem von ihm einge­setzten Behör­den­leiter Weise die Unter­neh­mens­be­ra­tung McKinsey ein, die internen Prozess­a­b­läufe des BAMF zu optimieren. Hundert­tau­sende aufge­lau­fene Asylan­träge sollten möglichst schnell „abgear­beitet“ werden. Zunächst war man aber mit dem Abbau des so genannten „EASY-Gap“ beschäf­tigt ; mit etlichen tausend Menschen, die noch darauf warteten, ihren Asylan­trag überhaupt stellen zu können. Manche warteten bereits über ein Jahr ; diese Leute kamen nun immer öfter in die Beratung und wollten, dass ich ihnen helfe, endlich einen Termin zu bekommen. Es waren die frustrie­rendsten Beratungen, die ich in endlosen Warte­schleifen mit enervie­renden Telefo­naten zumeist ohne greif­bare Ergeb­nisse zubrachte.

Die einen mussten ewig lange auf ihre Anhörung beim BAMF warten. Wenn sie eine Untätig­keits­klage einlegten, durften sie sich von den Verwal­tungs­ge­richten anhören, dass aufgrund der hohen Asylzahlen eine zügigere Bearbei­tung ausnahms­weise unmög­lich und daher eine Warte­zeit von andert­halb Jahren zumutbar sei. Gleich­zeitig straffte das BAMF die beschleu­nigten Verfahren für die Leute aus den sogenannten sicheren Herkunfts­län­dern, und ich erfuhr von Bearbei­tungs­zeiten von unter zwei Wochen – dann waren die Leute rechts­kräftig abgelehnt.

Immerhin : Die lange Warte­zeit der „Chancen­rei­chen“ auf die Asylan­hö­rung hatte zumin­dest den Vorteil, dass wir in der Beratung eine inten­sive Vorbe­rei­tung machen konnten, die sich auch manchmal über mehrere Treffen hinwegzog. Das änderte sich gegen Ende des Jahres 2016 : Jetzt prasselten auf einmal Vorla­dungen über Vorla­dungen auf Geflüch­tete ein, sodass wir mit Anhörungs­vor­be­rei­tungen kaum hinter­her­kamen und manche Kollegin noch abends um zehn ihren letzten Termin machte, weil die Anhörung bereits am nächsten Tag statt­finden sollte. Leute aus sogenannten „sicheren Herkunfts­län­dern“, die teils schon seit zwei Jahren hier waren und – im Bewusst­sein über die relative Chancen­lo­sig­keit ihrer Asylge­suche – bereits die leise Hoffnung hegten, das BAMF habe sie schlicht vergessen : Auch sie bekamen auf einmal Post in gelben Umschlägen und wurden – zu Recht – nervös.

Paradigmenwechsel hin zum Primat der Abschiebung

Mit dem Jahres­wechsel 2016/2017 kamen die Ableh­nungs­be­scheide. Nicht nur für Leuten aus den „Sicheren Herkunfts­län­dern“ - auch für Irake­rInnen, Afgha­nInnen, Irane­rInnen und andere. Die Ableh­nungs­be­grün­dungen sind zum Teil juris­tisch wie politisch himmel­schreiend. Bei Afgha­ni­stan wird immer wieder auf die inlän­di­sche Schutz­al­ter­na­tive verwiesen, die es aber nach Auffas­sung sämtli­cher Experten – einschließ­lich des UNHCR – nicht gibt. Ein Klient, dessen Freund von Taliban enthauptet wurde – der Kopf wurde anschlie­ßend an seine Familie geschickt – wurde mit der Begrün­dung abgelehnt, er selbst sei ja nicht bedroht. Dieselbe Begrün­dung erhielt ein Klient, dessen Bruder ermordet worden war. Eine allein­ste­hende Frau Mitte fünfzig, ohne familiäre Anbin­dung in Afgha­ni­stan, wurde mit der Begrün­dung abgelehnt, sie könne als Lehrerin ihren Lebens­un­ter­halt selbst­ständig verdienen.

Diese Begrün­dungen belegen die Qualität der  „sorgfäl­tigen Einzel­fall­prü­fungen“, die jeder „Rückfüh­rungs­maß­nahme“ voran­gehen sollen. Wer sich nur ein bisschen mit der Realität in dem Bürger­kriegs­land befasst, erkennt ihre Absur­dität.

Immer öfter kommen nun auch wütende und frustrierte „Ehren­amt­le­rInnen“ und Mitar­bei­te­rInnen von Flücht­lings­ein­rich­tungen auf mich zu, die fassungslos sind, dass die Menschen, denen sie inzwi­schen Deutsch beige­bracht hatten, die hier längst in der Schule waren oder sich selbst in Vereinen engagieren, Ableh­nungs­be­scheide und Abschie­be­an­dro­hungen bekommen. Es ist nicht immer ganz einfach zu erklären, dass die Asylent­schei­dungen absolut nichts mit „guter Integra­tion“ zu tun haben. Und dass es nötig sein wird, auf verschie­denen Ebenen nach anderen Lösungen zu suchen.

Zumin­dest das Rücküber­nah­me­ab­kommen mit Afgha­ni­stan und die Ende 2016 tatsäch­lich wieder verstärkt aufge­nom­menen Abschie­bungen in das Bürger­kriegs­land hatten und haben das Poten­tial, eine relativ breite Empörungs­welle zu erzeugen. Es wird nun deutlich, dass eigent­lich niemand davor sicher ist, Opfer einer politi­schen Flücht­lings­ab­wehr­stra­tegie zu werden. Herkunfts­länder wie Transit­länder werden inzwi­schen ohne jede Erfor­dernis einer Evidenz als „hinrei­chend sicher“ dekla­riert, und zwar nicht obwohl, sondern weil viele Menschen von dort flüchten. Die deutsche Bundes­re­gie­rung ist bei den Rücküber­nah­me­ab­kommen wie auch bei den sog. „Migra­ti­ons­part­ner­schaften“ für die gesamte EU feder­füh­rend.

Nicht nur bei der Vorver­la­ge­rung der Grenze, auch bei der Wieder­her­stel­lung der Grenzen im Inneren ist die Bundes­re­gie­rung die treibende Kraft. Hatte Merkel noch Ende 2015 erklärt, dass das Dublin-System in der bishe­rigen Form nicht funktio­niere, so wird inzwi­schen in Berlin und Brüssel mangels durch­setz­barer Alter­na­tiven an diesem nicht funktio­nie­renden inner­eu­ro­päi­schen Grenz­re­gime geflick­schus­tert und herum­ge­bas­telt. Seit Mitte März 2017 sollen sogar inner­eu­ro­päi­sche Abschie­bungen nach Griechen­land wieder aufge­nommen werden. Diese waren wegen „syste­mi­scher Mängel“ seit 2011 ausge­setzt. Die syste­ma­ti­schen Mängel sind heute gravie­render als vor sechs Jahren ; die Zahl der unter unmensch­li­chen Bedin­gungen lebenden Flücht­linge ist viel höher, im letzten Winter sind mehrere Menschen auch in offizi­ellen Flücht­lings­camps erfroren. Aber es geht längst nicht mehr um europäi­sche Standards, es geht darum, sich im Wahljahr um jeden Preis größere Flücht­lings­zahlen vom Hals zu halten.

Die Unmöglichkeit, in einer globalen Apartheid zu leben ohne im Faschismus zu enden

Dass ein solches Migra­ti­ons­re­gime auf Dauer nicht funktio­nieren kann, ist eigent­lich für jeden denkenden und (mit-)fühlenden Menschen sonnen­klar. Natür­lich, es hat in der Geschichte der Mensch­heit immer Migra­ti­ons­be­we­gungen gegeben, und immer gab es auch mehr oder weniger offene Aufnah­me­ge­sell­schaften mit mehr oder weniger durch­läs­sigen Grenzen. Die globale Migra­ti­ons­be­we­gung des 21.Jahrhunderts hat aber eine andere Dimen­sion als die früherer Zeiten. Zum einen wegen der globa­li­sierten Kommu­ni­ka­tions- und Verkehrs­wege. Zum anderen weil es immer mehr Regionen der Welt gibt, die aufgrund von Klima­ka­ta­strophe, Verschmut­zung von Wasser, Böden und Luft, von Kriegen oder schlicht von sozio-ökono­mi­scher Zukunfts­lo­sig­keit­prak­tisch unbewohnbar werden. Und die Orte mit relativer Sicher­heit und relativem Wohlstands werden parallel immer weniger.

Die Welt globa­li­siert sich und fällt zugleich ausein­ander. Die logische Konse­quenz ist, dass nicht nur Kapital- und Waren­ver­kehr, sondern auch die Bewegung der Migra­tion in einer solchen Welt zunimmt. Eine solche Bewegung wird niemand stoppen, ohne jedes Menschen­recht und jeden inter­na­tio­nalen Standard über Bord zu werfen. Das wäre offener Faschismus bzw. globale Apart­heit. Eine Welt, in der sich als Norma­lität durch­ge­setzt haben wird, dass der eine Teil der Mensch­heit in Sattheit und Sicher­heit alle Lebens­chancen genießt, während der andere zugrunde zu gehen hat.

Die andere Alter­na­tive wäre, tatsäch­lich die Gründe für Flucht endlich anzugehen. Dafür zu sorgen, dass Menschen dort, wo sie leben, auch leben können und wollen. Und solange das nicht überall der Fall ist, eben für sichere Flucht­routen zu sorgen. Es ist erstaun­lich, dass diese Debatte so marginal geblieben ist, weitge­hend nur von denen weiter­ge­führt wurde, die sie immer schon geführt haben.

Man hätte denken sollen, dass sich ab 2015 eine solche Debatte verall­ge­mei­nert haben müsste. Dass das Erleben von massen­hafter Flucht auf beiden Seiten – auf Seiten derer, die flüchten müssen, wie auf Seiten der aufneh­menden Gesell­schaft – zu einem gemein­samen Problem­be­wusst­sein hätte führen müssen, und zu einem gemein­samen Inter­esse, diese Probleme zu thema­ti­sieren. Schließ­lich kann es auch nicht hinnehmbar sein, wenn weiterhin ein Teil dieser Welt durch Kriege, wirtschaft­liche Verelen­dung, Natur­ka­ta­stro­phen und Klima­wandel unbewohnbar gemacht wird, solange nur die Menschen diesen Katastro­phen irgendwie entkommen können.

Leider ist diese Diskurs­of­fen­sive nicht gelungen. Nicht auf zivil­ge­sell­schaft­li­cher Ebene, und auf der Ebene der politi­schen Entschei­dungs­trä­ge­rInnen erst recht nicht. Derzeit geschieht praktisch nichts – eher das Gegen­teil. Das syste­ma­ti­sche Nicht-Thema­ti­sieren der tatsäch­li­chen Flucht-Ursachen ist wahrschein­lich die frappie­rendste Erfah­rung dieser letzten andert­halb Jahre. Je mehr Flücht­linge da sind, desto größer scheint der Unwille, über die Gründe für deren Flucht zu reden. Nach Schät­zungen des UNHCR, sind derzeit an die 60 Mio. Menschen weltweit auf der Suche nach einem Platz zum (Über-) Leben. Doch im Regie­rungs­sprech ist die Floskel von der „Bekämp­fung der Flucht­ur­sa­chen“ mittler­weile zur Chiffre für immer neue Rücküber­nah­me­ab­kommen, Migra­ti­ons­deals, Aufrüs­tung des Grenz­schutzes usw. geworden. Flucht­ur­sa­chen werden nun durch Grenz­kon­trollen, Kolla­bo­ra­tion mit Dikta­turen, die Ausstat­tung afrika­ni­scher Unrechts­re­gime mit Überwa­chungs­tech­no­logie und dem Abschneiden der Flucht­routen bekämpft. Flucht­ur­sa­chen, so die Logik, werden dann wirkungs­voll bekämpft, wenn die Flücht­linge nicht mehr in Europa ankommen – und möglichst auch nicht mehr an europäi­schen Küsten angeschwemmt werden.

Es gibt glück­li­cher­weise einige Flücht­lings­selbst­or­ga­ni­sa­tionen und auch einige antiras­sis­ti­sche, inter­na­tio­na­lis­ti­sche Gruppen in Deutsch­land, die darauf beharren, die  Ursachen für Flucht beim Namen zu nennen. Organi­sa­tionen wie TheVoice gehören dazu, oder das umtrie­bige Netzwerk Afrique-Europe-Interact, das seit vielen Jahren versucht, Migra­tion und Flucht zusammen mit globalen Problemen wie Landgrab­bing und Klima­wandel zu thema­ti­sieren, und „freedom of movement” und soziale Rechte als Globale Soziale Gerech­tig­keit zusam­men­zu­denken. Und die das „Recht zu Gehen und das Recht zu Bleiben“ in den Fokus stellen ; Positionen eines linken Inter­na­tio­na­lismus, die eigent­lich für eine europäi­sche Linke selbst­ver­ständ­lich sein müssten.

Wo wir stehen und was wir schaffen müssten

Im Augen­blick fokus­siert sich die Debatte in der antiras­sis­ti­schen Linken aller­dings sehr auf Flucht­hilfe, Bewegungs­frei­heit und die Forde­rung nach safe-passages. Wie sollte das anders sein, angesichts eines Grenz­re­gimes, das jährlich tausende Tote im Mittel­meer produ­ziert und mit möglichst hohen Abschie­be­zahlen Politik macht. Doch diese Fokus­sie­rung hat die große Schwäche, dass „wir“ auf die großen und drängenden globalen Fragen damit noch keine befrie­di­gende Antwort geben.

Was sich festhalten lässt und was ich auch in meiner Beratungs­praxis wie in meiner politi­schen Arbeit erlebe, ist, dass zuneh­mend auch die zunächst ganz unpoli­tisch daher­kom­menden „Ehren­amt­li­chen“ sich über ihren Kontakt mit Flücht­lingen – und damit auch mit Flücht­lings­po­litik – politi­siert haben und ihre Zweifel wachsen : Zweifel an einer Migra­tions-, Asyl- und Flücht­lings­po­litik, die grund­le­gende Menschen­rechte der Geflüch­teten negiert. Zweifel an natio­naler Borniert­heit und an einer Welt, die so einge­richtet ist, dass Lebens­chancen vom Zufall des Ortes der Geburt abhängt. Zweifel nicht zuletzt an politi­schen Entschei­dungen, die Menschen ausein­an­der­reißen, die inzwi­schen Freund­schaften aufge­baut haben.

In der Beratungs­ar­beit ist die Frustra­tion, Angst und Verzweif­lung bei vielen Geflüch­teten, nament­lich bei denen aus Afgha­ni­stan, mittler­weile mit den Händen greifbar. Erst kürzlich waren einige Jugend­liche gekommen, um sich über die Möglich­keit zu infor­mieren, durch einen Berufs­aus­bil­dungs­ver­trag zumin­dest an eine Duldung zu kommen (die sog. Ausbil­dungs­dul­dung). Es stellte sich dann schnell heraus, dass sie alle noch im Erstver­fahren waren und alle noch nicht einmal ihre Anhörung hinter sich gebracht hatten – sie waren subjektiv davon überzeugt, trotz guter Flucht­gründe praktisch keine Chance auf ein Bleibe­recht zu haben und bereit, ihre ganze Lebens­pla­nung praktisch auf eine Notlö­sung hin auszu­richten. Es war nicht leicht, ihnen das auszu­reden. Schließ­lich liegt, allen ungeheu­er­li­chen Entschei­dungen zum Trotz, die berei­nigte Schutz­quote für Afgha­nInnen immer noch ca. bei 50%.

Die Wut und die Frustra­tion, die wir in der Beratung und in unseren politi­schen Zusam­men­hängen erleben, hat sich noch immer nicht in einer breite politi­sche Artiku­la­tion trans­for­miert. Aber sie ist dabei, das zu tun. Die Ehren­amt­le­rInnen, die letztes Jahr noch auf der Willkom­mens­welle geschwommen sind, schauen inzwi­schen mit einem ziemlich klaren Blick auf die Entschei­dungs­praxis des BAMF und die dahin­ter­ste­henden Weichen­stel­lungen des Bundes­in­nen­mi­nis­ters. Die Wut wächst, und immer mehr Menschen sind dazu bereit, ihre Wut auch in Leser­briefen, Demons­tra­tionen und öffent­li­chen Veran­stal­tungen zum Ausdruck zu bringen. Dasselbe gilt in gleicher Weise zumin­dest für die afgha­ni­schen Flücht­linge, die sich Ende 2016, Anfang 2017 organi­sierten und zu Massen­de­mons­tra­tionen gegen die Abschie­bungen aufrufen. Bislang sind sie damit ziemlich erfolg­reich, zumin­dest ist das Thema weiterhin extrem umstritten und die Anzahl der Abschie­bungen in das Land sind weiterhin sehr gering.

Es entsteht auch eine zuneh­mende Debatte um so genannte „sanctuary cities“ oder „Welcome-Cities“, die Bereit­schaft zur Aufnahme von Migran­tInnen (resett­le­ment) durch die Bereit­schaft zum Schutz von „Ausrei­se­pflich­tigen“ ergänzt. Was derzeit auf natio­naler und noch mehr auf europäi­scher Ebene noch undenkbar scheint, soll auf kommu­naler Ebene Praxis werden – auf der Basis von inzwi­schen gefes­tigten lokalen Struk­turen der Flücht­lings-Solida­rität.

Momentan arbeiten Aktivis­tInnen noch an einer weiteren Mobili­sie­rung : Zwei Jahre nach dem „Sommer der Migra­tion“ wollen neu entstan­dene Struk­turen aus Willkom­mens­in­itia­tiven, Flücht­lings­selbst­or­ga­ni­sa­tionen und Projekt­netz­werken kurz vor der Bundes­tags­wahl nach Berlin reisen, um, so die Idee, dort sichtbar werden und zu zeigen, dass – außer den 20 Prozent poten­ti­ellen AfD-Wähle­rInnen – auch noch eine große, starke, inzwi­schen konso­li­dierte Bewegung existiert. Eine Bewegung, die tatsäch­lich enorm viele Menschen anzieht : Legt man aktuelle Umfra­ge­er­geb­nisse der Bertels­mann-Stiftung zugrunde, hat fast jeder zehnte Mensch in Deutsch­land sich 2016 in irgend­einer Form für Geflüch­tete engagiert, sie unter­stützt oder mit ihnen zusam­men­ge­ar­beitet. Ein jüngst erschie­nenes Buch über diese zivil­ge­sell­schaft­li­chen Struk­turen spricht von rund 15.000 Projekten, die zwischen 2015 und 2016 entstanden seien. Und das, angesichts von Anfein­dungen, Drohungen und körper­li­chen Angriffen von Nazis, denen Flücht­lings­un­ter­stüt­ze­rInnen wie auch Geflüch­tete oft gleicher­maßen ausge­setzt sind unter teils sehr unkom­for­ta­blen, gefähr­li­chen Rahmen­be­din­gungen.

Mir erscheint es unwahr­schein­lich, dass sich in diesem Wahljahr 2017 eine wirkliche Gegen­macht gegen den rassis­tisch-wohlstand­schau­vi­nis­ti­schen Abschot­tungs­dis­kurs aufbauen lässt. Völlig klar ist, ist, dass eine desolate und margi­na­li­sierte radikale Linke dazu derzeit nicht in der Lage ist. Doch sie kann und muss sich betei­ligen und in die Ausein­an­der­set­zungen einmi­schen, die so oder so statt­finden. Es lohnt sich weiterhin auf die in den letzten Monaten verfes­tig­tenn Struk­turen der „Ehren­amt­li­chen in der Flücht­lings­ar­beit“ zu schauen, deren Poten­zial wertzu­schätzen, sie zu stärken und eine weitere Politi­sie­rung voran­zu­treiben – auch mit radikalen Positionen .

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