Der Druck steigt

Am Freitag, den 06.Juni fand in der Innen­stadt von Wuppertal-Elber­feld eine spontane Solida­ri­täts­be­kun­dung mit den protes­tie­renden Flücht­lingen statt. Am Tag zuvor war es sowohl in Luxem­burg als auch in Hamburg zu brutalen Angriffen der Polizei auf Geflüch­tete gekommen.

Angriff auf den March 4 Freedom in Luxemburg

Angriff auf den March 4 Freedom in Luxem­burg

In Luxem­burg traf es den trans­na­tio­nalen „March 4 Freedom”, mit dem Flücht­linge ihre Forde­rungen nach Bewegungs­frei­heit, dem Ende des Mordens an den EU-Außen­grenzen und einem würdigen Dasein mit Bleibe­recht zu Fuß von Straß­burg nach Brüssel tragen. Dort wird Ende dieses Monats ein EU-Migra­ti­ons­gipfel statt­finden. Der Protest­marsch verlief bis Luxem­burg trotz mehrfa­cher Überschrei­tung von Länder­grenzen absolut fried­lich und in teils sehr entspannter Atmosphäre, wie eine Aktivistin, die die erste Woche von Straß­burg bis Saarbrü­cken mitge­laufen war, bei der Wupper­taler Kundge­bung schil­derte. Am Donnerstag wurde er dann von der Polizei überfallen, als etwa 60 Teilneh­me­rInnen des Marsches ihr Anliegen bei der gerade statt­fin­denden Konfe­renz der EU-Innen­mi­nister vortragen wollten.

Die EU-Innen­mi­nister trafen sich in Luxem­burg, um die „Gefah­ren­ab­wehr” an den Außen­grenzen der Europäi­schen Union zu optimieren. Die beim Treffen bespro­chenen techni­schen Präven­tiv­maß­nahmen und Koordi­na­tionen - wie beispiels­weise ein besseres System zur Identi­fi­zie­rung Einrei­sender oder satel­li­ten­ge­stützte Aufklä­rung - werden aller­dings nicht nur zur „Terror­ab­wehr” einge­setzt. Sie dienen auch der Optimie­rung der europäi­schen Abschot­tung gegen Migra­tion. Der Wunsch der Flücht­linge, bei diesem Thema angehört zu werden, ist absolut nachvoll­ziehbar ; schließ­lich sind sie die Haupt­be­trof­fenen der Festung Europa. Die Politiker waren jedoch nicht gewillt, sich den Überle­benden des von der EU geführten Krieges gegen Migran­tInnen zu stellen. Statt­dessen schickten sie Polizisten gegen die vor dem Parla­ment protes­tie­renden Menschen.

Ohne jede Bereit­schaft, mit den Geflüch­teten zu reden und die Situa­tion eventuell zu deeska­lieren, hetzten diese ihre Hunde auf die Protes­tie­renden, griffen zu Schlag­stock und Handfes­seln und deckten die Menschen mit Pfeffer­spray ein. Am Ende waren mehrere Refugees und Unter­stü­zende verletzt und dreizehn von ihnen in Haft, unter ihnen mehrere „Sans-Papiers”. Erst nach vielen Stunden und einem weiterem, vor die Polizei­wache getra­genen Protest kamen sie wieder auf freien Fuß. Dieser Angriff auf unbewaff­nete und fried­lich demons­trie­rende Menschen durch die Polizei Luxem­burgs in Anwesen­heit der EU-Innen­mi­nister ist ein neuen Tiefpunkt europäi­schen Umgangs mit Flücht­lingen. Beim Verlesen der übersetzten Presse­mit­tei­lung zu den Vorfällen zeigten sich die zufällig an der Wupper­taler Kundge­bung vorbei­kom­menden und im Café nebenan sitzenden Menschen sicht­lich entsetzt.

Wie um allen zu beweisen, dass sich die deutsche Polizei bei rassis­ti­scher Repres­sion gegen Geflüch­tete nicht in den Schatten stellen lässt, ging später am gleichen Tag die Hamburger Polizei gegen Angehö­rige der „Lampe­dusa in Hamburg”-Gruppe vor. Die Hamburger Lampe­dusa-Flücht­linge, die erst wenige Tage zuvor erfahren mussten, dass der SPD-Senat nicht daran denkt, seine eigenen Zusagen einzu­halten, als eine erste Abschie­be­an­kün­di­gung gegen einen Flücht­ling aus ihrer Gruppe bekannt wurde, harren noch immer perspek­tivlos in der reichen Hanse­stadt aus. Sie fordern seit Monaten ein Recht zu arbeiten und die Möglich­keit, irgendwo unter­zu­kommen. Diese Forde­rungen sollten durch einen fried­li­chen Sitzstreik vor dem Hamburger Rathaus bekräf­tigt werden. Gleich­zeitig wollten die in der Bevöl­ke­rung Hamburgs gut bekannten Aktivisten der « Lampe­dusa-Gruppe » ihre Solida­rität mit den am Mittag in Luxem­burg Angegrif­fenen zeigen.

Was bei der versuchten Räumung des Rathaus­platzes folgte, war ein selbst für die bekann­ter­maßen oft rassis­tisch agierende Polizei Hamburgs ungewöhn­lich gewalt­tätig. Die Bruta­lität ging sogar einigen Polizis­tInnen zu weit, die zum ungewöhn­li­chen Mittel der « Remons­tra­tion » griffen. Sie wider­spra­chen dem Einsatz­be­fehl zur Räumung der Treppe des Rathauses und machten dabei nicht mehr mit. Am Ende des Einsatzes waren mehrere der Refugees, die die ganze Zeit über fried­lich blieben, verletzt. Ihre Behand­lung durch Sanitäter vor Ort wurde von der Polizei behin­dert. Drei der Flücht­linge wurden zudem zwischen­zeit­lich inhaf­tiert. Die Solida­ri­täts­demo in Hamburg am gleichen Abend und einige Schar­mützel am Folgetag, bei denen es auch zu einem Angriff auf ein SPD-Büro kam, gehen eindeutig auf die Kappe des Hamburger Senats und der Polizei.

Beide Vorfälle zeigen, dass der Druck steigt und dass die EU-Innen­mi­nister, die in Luxem­burg ungestört bleiben wollten, zuneh­mend nervös werden. Wie groß der Druck inzwi­schen ist, wurde bei der Wupper­taler Soli-Kundge­bung in Redebei­trägen der Flücht­lings­selbst­or­ga­ni­sa­tion Karawane und des so_ko_wpt deutlich. Der sehr emotio­nale Beitrag der Karawane, bei dem u.a. auch das Schicksal geflo­hener Frauen und Familien thema­ti­siert wurde, zeigte den durchaus sehr inter­es­siert zuhörenden Passanten auf, dass es längst Zeit ist, zu handeln und die passive Rolle beim Anhören der Nachrichten aufzu­geben. Die Verant­wor­tung Deutsch­lands für den Druck auf Menschen, ihre Heimat verlassen zu müssen, wurde ebenso betont, wie die Tatsache, dass die meist unter riskanten Umständen in Deutsch­land angekom­menen Flücht­linge auch hier kein würdiges Leben haben. Oft sprechen sie von einer zweiten Hölle, nachdem sie die Hölle des Krieges oder der völligen Perspek­tiv­lo­sig­keit glück­lich verlassen konnten.

Der Redebei­trag des so_ko_wpt zeich­nete eine dunkle Perspek­tive. In ihm wurde auf die zuneh­mend katastro­phale Situa­tion in ganz Europa verwiesen, die überall zu Übergriffen auf Geflüch­tete und weiteren Entrech­tungen von Migran­tInnen führt. Wie im franzö­si­schen Calais, wo auf ihrem Weg zum Wunsch­ziel England gestran­dete Flücht­linge – zuletzt sind es immer mehr vor dem baraba­ri­schen Krieg in Syrien fliehende Familien – aus notdürf­tigen Camps geräumt und auf die Straße geworfen werden. Dort hält eine multi­na­tio­nale Notge­mein­schaft aus Afgha­ni­stan, Syrien oder Eritrea seit mehr als einer Woche das Zentrum der Essens­aus­gabe besetzt, um überhaupt noch einen Ort zu haben, an dem die Menschen ausharren können.

Anläss­lich des offen­sicht­li­chen Schei­terns der europäi­schen Strategie der Abschot­tung stehen Länder wie Spanien, das seine Grenz­zäune um Melilla und Ceuta immer mörde­ri­scher aber gleich­wohl « erfolglos » aufrüstet oder Italien, dessen Marine fast täglich eine vierstel­lige Anzahl von Boots­flücht­lingen aus dem Mittel­meer rettet, aber auch Griechen­land vor der Heraus­for­de­rung, Änderungen der von Deutsch­land bestimmten EU-Flücht­lings­po­litik herbei­zu­führen. In Griechen­land werden in Kürze die ersten der während der « Säube­rungs­ak­tionen » vor zwei Jahren in EU-finan­zierten Inter­nie­rungs­la­gern « unter­ge­brachten » Flücht­linge frei gelassen, nachdem ein griechi­sches Gericht die Dauer der Inter­nie­rung auf 18 Monate begrenzte.

Diese gesamt­eu­ro­päi­sche Situa­tion lässt für den Ende Juni statt­fin­denden EU-Gipfel, der sich schwer­punkt­mäßig mit der europäi­schen Flücht­lings­po­litik beschäf­tigen wird, nichts Gutes erwarten – vor allem im Hinblick auf die Erfolge rechter Parteien bei der Europa­wahl vor zwei Wochen. Umso wichtiger erscheint es, den Druck für eine Öffnung der europäi­schen Politik jetzt zu erhöhen, und nicht erst nach den zu erwar­tenden Verschär­fungen des Grenz­re­gimes zu reagieren. Die Flücht­linge in Hamburg, Würzburg, Hannover, Berlin oder des Protest­mar­sches und die geflo­henen Menschen in Calais, Athen, auf Sizilien und Lampe­dusa tun, was sie tun können. Es ist jetzt notwendig, ihren Kampf für ein menschen­wür­diges Hiersein überall, auch von außer­halb der Lager, und auf allen Ebenen zu verstärken. Eine Kundge­bung wie am Freitag kann da nur ein Anfang sein und darauf aufmerksam machen, dass jede und jeder Möglich­keiten hat, den Flücht­lings­pro­test zu unter­stützen : In jeder Stadt gibt es Büros der großen Parteien, in jeder Stadt gibt es rassis­ti­sche Polizei­kon­trollen, bei denen ledig­lich hinge­schaut werden muss. Und überall wächst die Notwen­dig­keit, sich infor­mell zu organi­sieren und ganz konkrete Angebote für Illega­li­sierte auf die Beine zu stellen.

Auch beim EU-Gipfel selber lässt sich der Druck auf die Politik erhöhen : Die Aktivis­tInnen des « March 4 Freedom » werden in der belgi­schen Haupt­stadt vom 22. bis zum 28.06. eine ganze Woche lang aktiv sein, zum Abschluss planen sie eine Großde­mons­tra­tion im Herzen der Festung Europa. Damit ihr 500 Kilometer langer Fußweg von Straß­burg nach Brüssel nicht umsonst war, ist eine Unter­stüt­zung der Proteste zum EU-Gipfel in Brüssel dringend notwendig.

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Bericht vom Protestmarsch : „Wir sind unterwegs”

Judith hat sich aus Stras­bourg gemeldet. Hier ist ihr erster, gestriger Bericht vom „March 4 Freedom”, den Geflüch­tete und Unter­stüt­ze­rInnen heute – nach drei Aktions­tagen in Stras­bourg – beginnen und der sie bis zum 20.Juni nach Brüssel führen soll. Wir hoffen auf ein paar weitere Berichte von Judith, die wir euch dann hier zur Verfü­gung stellen können.

Eindrücke vom 2. Tag des Marsches für die Freiheit.
von Judith, Stras­bourg, 19.Mai

Beim Morgen-Plenum wird spontan beschlossen, mit ein paar Leuten zum hiesigen Abschie­be­knast zu fahren. Der heißt hier Centre de Reten­cion Adminis­trativ – es handelt sich also um „Verwal­tungs­haft“. Der Knast liegt ca. 10 Kilometer außer­halb Stras­bourgs, in der Nähe einer Autobahn. Um dorthin zu kommen, fährt man über einen kleinen Feldweg, vorbei an einem See ; ein unschein­bares Hinweis­schild weist den Weg zum Gefängnis. Das Ding ist tatsäch­lich im Wald versteckt – genau wie in Büren…

Als wir eintreffen, sehen wir Police Nacional vor dem Eingang. Der Hof ist offen einsehbar, liegt aber hinter zwei Zäunen von 7 bzw. 5 Meter Höhe. Der zweite davon ist NATO-Draht-bewehrt,  deshalb erinnert er mich an Melilla und Ceuta. Immerhin, wir können uns verstän­digen mit den Leuten auf dem Knasthof – zumin­dest dieje­nigen von uns, die Franzö­sisch sprechen.

Die meisten der Einge­knas­teten freuen sich über unseren Besuch, sie rufen und heben die Fäuste, als wir „Liberte pour le Sans Papier“ rufen. Es sind etwa 25 Leute inhaf­tiert, die meisten von ihnen sehr junge Männer, vielleicht sogar noch Jugend­liche. Wir erzählen Mohamed und Aliq - beide sind Anfang zwanzig - von dem Marsch und dass wir gekommen sind, um unsere Solida­rität mit ihnen auszu­drü­cken und um zu fragen, ob wir eine Botschaft von ihnen mitnehmen können. Onassis, mit dem wir uns kurz unter­halten, gibt uns mit auf den Weg „Die Freiheit ist unbezahlbar“.

Mohamed meint, dass sein Leben vorbei ist –  er ist seit 35 Tagen dort inhaf­tiert wie ein Krimi­neller, obwohl er nichts Krimi­nelles gemacht hat. Er braucht seine Freiheit, sagt er – hier drin stirbt er langsam. „Wir wollen frei sein und ein Leben führen können.“ Aliq ezählt uns, dass ihre Anwälte wohl kämpfen würden und alles versuchten, um sie rauszu­holen. Aber sie hätten keine Chance, weil die Richter alle schlecht seien.

Helen aus dem Kongo ist die einzige Frau in dem Knast. Auch sie ist noch sehr jung, seit 25 Tagen in Haft und sie meint, dass das was drin geschieht sehr sehr hart ist, Sie berichtet, dass sie sich die Wasch­räume mit den Männern teilen muss – es gibt trotz inhaf­tierter Frauen keine eigenen Frauen­du­schen. Es gibt auch an kalten Tagen kein warmes Wasser, keine Seife, nichts. Immerhin erfahren wir, dass die Haft in Frank­reich nicht länger als 45 Tage andauern darf : Danach sind die Leute entweder abgeschoben oder werden entlassen – jeden­falls bis zur nächsten Razzia.

Die Police Nacional schaut sich unseren kleinen Aufmarsch eher distan­ziert-gelassen an. Als wir aber darauf bestehen, dass ja Besuchs­zeit ist und wir unsere neuen Freunde drinnen besuchen wollen, lehnen sie dies ab unter Verweis auf „Sicher­heits­be­denken“. Wir beraten uns, beschließen dann, dass nur einzelne dort bleiben und die Leute drin besuchen, die meisten von uns fahren wieder zurück in die Stadt. Es ist jedesmal ein bitteres Gefühl, „Au Revoir” zu sagen und von einem Knast wegzu­fahren.

bannerSpäter auf der Place Kleber, dem größten zentralen Platz der Stadt : Ein langes Kunst­stoff­banner teilt den Platz in zwei Bereiche. Auf dem Banner sind – sofern bekannt – die Namen der 17.306 Mauer­toten der Festung Europa von 1993 bis 2012 dokumen­tiert, sortiert nach Todes­zeit­punkt und den Umständen des Todes – soweit diese überhaupt jemals in Erfah­rung gebracht werden konnten. Jedem der Toten werden 10 cm gewidmet, und das Banner scheint kein Ende zu nehmen.

Viele der Passanten scheuen sich, auf das Banner zu treten oder es zu überqueren. So gehen sie an ihm entlang und lesen. Dieje­nigen, die doch drüber laufen, tun das mit einer gewissen Scheu, linkisch und etwas unsicher. Es sind mir gut bekannte Namen auf dem Banner. Mohamed Rahsepar zum Beispiel ; sein Selbst­mord war der Anlass für den ersten Refugee Protest im April 2012. Oder zwei Männer aus Sierra Leone, direkt unter­ein­ander tauschen sie auf dem Banner auf, unter dem Datum vom 7.1.2005. Beide wurden von der deutschen Polizei umgebracht.

Die Aktivis­tInnen bemalen den sonnen­durch­flu­teten Platz mit Parolen, mit Slogans und Botschaften. Damit zumin­dest die Kreide­ma­lerei noch eine Weile nachwirkt. Morgen verlässt der Marsch die Stadt. Die Stimmung ist zuver­sicht­lich.

Wir sind unter­wegs.

Foto : @Thoma­sOc­cupy
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