13.574 Wuppertaler wählen rechts

Im Nachgang zur in unserer Reihe „Politik in der Rechts­kurve” dazwi­schen gescho­benen Veran­stal­tung am 2. Mai zum Umgang der radikalen Linken mit den diesjäh­rigen Wahlen mit Bernhard Sander (die LINKE), haben wir uns ein wenig mit den Ergeb­nissen der Landtags­wahl in Nordrhein-Westfalen beschäf­tigt.

Ein Haufen Zahlen aus Wuppertal

Unabhängig vom Verhältnis der radikalen Linken zum Parla­men­ta­rismus müsste die Beschäf­ti­gung mit den Ergeb­nissen einer Wahl Standard radikal linker Politik sein. Nirgends findet sich ein so detaill­rei­ches Bild von der Stadt­ge­sell­schaft und den Nachbar­schaften wie in den Stimm- und Kommu­nal­wahl­be­zirken. Es sind Hinweise auf Inter­ven­ti­ons­mög­lich­keiten und -notwen­dig­keiten und sie helfen dabei, die Stimmungs­lage auch in den Quartieren einzu­schätzen, die nicht zur eigenen Filter­blase gehören. Bei der Betrach­tung der Ergeb­nisse der Landtags­wahl haben wir uns auf die Kommu­nal­wahl­be­zirke beschränkt. Wer sich für noch genauere Ergeb­nisse inter­es­siert, kann sich auf der Seite der Stadt Wuppertal auch das Abstimm­ver­halten der direkten Nachba­rInnen im eigenen Stimm­be­zirk anschauen. Dort kann zum Beispiel nachge­sehen werden, ob es im direkten Umfeld Nazis gibt und wenn ja, wie viele.

Das wichtigste Ergebnis zuerst : Die Tatsache, dass die AfD in Wuppertal so gut wie keinen Wahlkampf führte (es gab z.B. gar nicht erst den Versuch der Plaka­tie­rung), hat der Zustim­mung zur Partei in der Stadt keinen Abbruch getan. Ihr Ergebnis fiel mit 8,51% sogar ein Prozent besser aus als im Landes­schnitt. Insge­samt gaben 12.585 Menschen in Wuppertal ihre Stimme der AfD. Mit ihrem Ergebnis liegt die AfD im Tal in zwei von drei Wahlkreisen auch vor der LINKEN. Nur im Wahlkreis Wuppertal II, das ist Elber­feld (mit dem Ölberg und der Nordstadt), konnte die LINKE ein knapp besseres Ergebnis erzielen als die AfD (8,04% zu 7,50%).

Für insge­samt 567 Wupper­ta­le­rInnen war die AfD jedoch noch nicht rechts genug. Sie wählten die NPD. Das waren aller­dings 304 Stimmen weniger als 2012. Hinzu kommen anderer­seits aber 206 Stimmen für die Republi­kaner und 81 Stimmen für die krimi­nellen Hardcore-Nazis von „die Rechte“, sowie 134 Stimmen für die „Initia­tive Volks­ab­stim­mung“, die 2012 allesamt nicht zur Wahl angetreten waren.

Anders als die „klassi­sche Rechte“, die am Ölberg nie ein Bein auf den Boden brachte, konnte die AfD auch dort dreistel­lige Anzahlen an Stimmen einsam­meln, wenn auch deutlich weniger als im übrigen Stadt­ge­biet. Im Kommu­nal­wahl­be­zirk Hombü­chel, in dem die LINKE zweit­stärkste Partei noch vor CDU und den Grünen wurde, erhielt die AfD 155 Stimmen (3,89%), 8 Menschen wählten hier zudem die NPD ; am Höchsten waren es 161 (5,25%) Stimmen für die AfD, 9 Stimmen für die NPD. Eine Stimme gab es hier für die Nazis von „die Rechte“. Am Osters­baum wählten 290 Menschen die AfD (8,84%), aber auch 378 die LINKE (11,25%). Hier wählten darüber­hinaus 20 Leute die Nazis von NPD oder „die Rechte“. Die Betei­li­gung an der Wahl lag am Osters­baum signi­fi­kant unter dem Stadt­durch­schnitt (knapp 50%), was den großen Parteien nicht gut getan hat. Es ist der polari­sier­teste Kommu­nal­wahl­be­zirk der Stadt. Von der Hälfte der Wahlbe­rech­tigten die wählten, wählten 20% die LINKE oder AfD. Der Osters­baum ist mehr denn je ein Nordstadt-Quartier auf der Kippe.

Die Hochburgen der Rechten finden sich an den beiden Enden der Stadt : Im Westen in Vohwinkel-Ost (9,7%, 403 AfD-Stimmen, 19 Stimmen NPD, 7 Stimmen für „die Rechte“) und -West (10,74% oder 374 AfD-Stimmen, 10 Stimmen für die NPD und 2 für „die Rechte“), sowie ab dem Loh in Richtung Osten. Im Osten Wupper­tals konnte die AfD zum Teil drama­tisch gute Ergeb­nisse erzielen (Loh : 11,61%, bzw. 412 Stimmen für die AfD, 16 Stimmen NPD plus 5 Nazis für „die Rechte”). Ähnlich waren die AfD-Ergeb­nisse in Barmen-Mitte (326 Stimmen, bzw. 10,51%, 15 NPD-Stimmen plus 7 Stimmen für „die Rechte“), sowie am Sedans­berg (284 Stimmen oder 10,18% für die AfD, 22 Stimmen für die NPD und 2 „die Rechte“-WählerInnen). Noch übler sieht es in Oberbarmen und Langer­feld-Nord aus. Hier konnte die AfD 13,65% (oder 323 Stimmen) bzw. 12,49% (oder 522 Stimmen) abgreifen. Hinzu kommen 21 bzw. 36 Stimmen für die Nazi-Parteien NPD und „die Rechte“. In beiden Wahlbe­zirken lag die Betei­li­gung an der Wahl deutlich unter 50% (in der Stadt gesamt waren es 62%). Weitere Kommu­nal­wahl­be­zirke, in denen es eine niedrige Wahlbe­tei­li­gung gab und die AfD zweistel­lige Ergeb­nisse holte, waren Wichling­hausen-Süd und -Nord (10,60%, und 10,76% bzw. 286 und 398 Stimmen, sowie 32 bzw. 23 Stimmen für NPD und „die Rechte“) sowie Nächs­te­breck und Hecking­hausen-Ost (10,35% oder 539 Stimmen für die AfD, 22 Stimmen für die Nazi-Parteien bzw. 11,83%, 420 Stimmen und 26 Stimmen für die Nazi-Parteien). Auch in Hecking­hausen-West waren es fast 10% (9,10%). In allen genannten Wahlbe­zirken lag die LINKE deutlich hinter der AfD, beson­ders schlimm ist dies in Nächs­te­breck und Langer­feld.

Insge­samt lässt sich feststellen, dass das Auftau­chen der AfD deutli­cher als je zuvor macht, dass sich von den „Wohlfühl­zonen“ einiger Elber­felder Quartiere niemand blenden lassen darf – es gibt eben auch ein Leben außer­halb des Ölbergs. Auch die zumeist mit einem Kräfte­ver­hältnis von zehn zu eins statt­fin­denden antifa­schis­ti­schen Aktivi­täten gegen Nazi-Aufmär­sche und rechte Kundge­bungen sollten nicht zum Irrtum verleiten, sie reprä­sen­tierten das Gesamt­kräf­te­ver­hältnis in der Stadt. Speziell in den als „soziale Brenn­punkte“ bezeich­neten Quartieren haben sich sehr viele derer die wählen dürfen, vom Parla­men­ta­rismus vollständig verab­schiedet. Das Ergebnis sind zwar schreck­liche Wahler­geb­nisse für die AfD, doch bedeuten überpro­por­tional rechte Wahler­geb­nisse jedoch nicht, dass dort auch tatsäch­lich überpro­por­tional rechts gewählt würde. Es lohnt sich ein Blick auf die absoluten Zahlen der Stimmen : Davon ausge­hend, dass rechte Parteien ihr Klientel zuver­lässig an die Wahlurnen gebracht haben, relati­viert sich das Bild, die rechten Parteien würden von den so genannten „Unter­schichten“ häufiger gewählt als von der „Bürger­li­chen Mitte“. Für Oberbarmen ergibt ein um die niedrige Wahlbe­tei­li­gung berei­nigtes Ergebnis beispiels­weise knapp 10% AfD-Stimmen statt der 13,65%, die das Spitzen­er­gebnis in Wuppertal darstellen. Umgekehrt ergäbe sich auf dem gleichen Weg für ein eher bürger­li­ches Viertel mit überduch­schnitt­lich hoher Wahlbe­tei­li­gung wie Cronen­berg-Süd auch ein berei­nigter AfD-Anteil von knapp 9,5%. Gleich­zeitig räumt das auch mit dem Klischee auf, in Vierteln mit beson­ders hohem Migra­ti­ons­an­teil seien Rechte erfolg­rei­cher.

Und was bedeutet das alles ?

Im Gespräch mit Bernhard Sander waren ähnliche Ergeb­nisse auch für den ersten Wahlgang zur franzö­si­schen Präsi­dent­schafts­wahl festge­stellt worden. Die oft gehörte These, es seien vor allem „sozial Schwache“, die den Front National wählen würden, erweist sich auch dort als voreilig, wenn die niedrige Wahlbe­tei­li­gung in bestimmten Gegenden berück­sich­tigt wird. Es ist eine sehr weitge­hende politi­sche Absti­nenz der Bevöl­ke­rung, die rechten Parteien dort oft hohe Ergeb­nisse bringt – siehe Oberbarmen. Die tatsäch­liche Veran­ke­rung rechter Parteien in der Bevöl­ke­rung diffe­riert hingegen weniger als viele meinen ; ohne die Erkenntnis, dass die AfD „in der Mitte der Gesell­schaft“ ebenso veran­kert ist wie an ihren Rändern, werden sich wirkungs­volle Strate­gien gegen den Rechts­ruck jedoch kaum entwi­ckeln lassen. Wuppertal wurde auch bei dieser Wahl wieder von der SPD „gewonnen“, und nicht zuletzt die Tatsache, dass die Partei alle drei Direkt­kan­di­daten „durch­ge­bracht“ hat, wird ihr den Blick darauf verstellen, wie drama­tisch dieser Rechts­ruck jenseits ihrer eigenen Abschiebe- und Law and Order-Politik auch in Wuppertal gewesen ist. Das lässt sich am besten an den absoluten Zahlen der Stimm­ver­luste, bzw. -gewinne bei der Wahl ablesen. Insge­samt haben die Parteien „rechts der Mitte“ – also AfD, CDU und FDP – in der Stadt 31.107 Stimmen im Vergleich zur letzten Wahl gewonnen ; SPD, Grüne und Piraten verloren hingegen 25.717 Stimmen ; mit 8.088 Stimmen weniger haben im Übrigen die Grünen mehr Stimmen verloren als die SPD (- 7.820 ; Piraten minus 9.809). Auf der anderen Seite konnte ledig­lich die LINKE mit einem Stimmen­plus von 4.336 gegen den Trend abschneiden. Umgerechnet auf das Gesamt­er­gebnis haben die die Parteien „links“ von der CDU also im Vergleich zu 2012 round­about 20% verloren. Das ist jede/r Fünfte.

Damit liegt Wuppertal absolut im Trend aller in diesem Jahr statt­ge­fun­denen Wahlen. Sowohl inter­na­tional (Nieder­lande, Frank­reich), als auch in Deutsch­land (Saarland, Schleswig-Holstein, jetzt Nordrhein-Westfalen), verlieren Sozial­de­mo­kraten und links von Liberal-Konser­va­tiven angesie­delte Parteien drama­tisch. Gleich­zeitig zeigt sich bei mehreren liberal-konser­va­tiven Parteien ein Drift zum Autori­ta­rismus. Sowohl Macron in Frank­reich als neuer­dings auch der ÖVP-Jungstar Kurz in Öster­reich propa­gieren eine ganz auf ihre Person zugeschnit­tene Politik, für die sie die Auflö­sung bishe­riger Partei­struk­turen in Kauf nehmen. Zur Mitte dieses Wahljahres lässt sich feststellen, dass die Antwort der bürger­li­chen Klasse auf die Heraus­for­de­rung durch Rechte eine Wieder­kehr reaktionär-autokra­ti­scher Politik­kon­zepte zu sein scheint. In NRW wird das (mögli­cher­weise in abgemil­deter Form), in den nächsten fünf Jahren zu erleben sein. Umso bedau­er­li­cher ist es, dass es für die LINKE zum Einzug in den Landtag nicht reichte, weil gerade einmal 8.561Stimmen gefehlt haben. Allen auch schweren politi­schen Diffe­renzen zum Trotz wird ein Gegenpol zur AfD im Landtag fehlen. Und die Bedeu­tung eines „parla­men­ta­ri­schen Arms“, über die wir bei unserer Diskus­sion viel mit Bernhard Sander gespro­chen haben, wird vielen (auch jenen 1.006 Menschen, die dem Spaßfaktor der PARTEI in Wuppertal den Vorzug gegeben haben) sicher noch aufgehen. Während die zu erwar­tende CDU/FDP-Landes­re­gie­rung noch skrupel­loser als die alte Abschie­bungen (auch nach Afgha­ni­stan) forcieren wird, wird es erstmals seit sieben Jahren keine frühzei­tigen Termine zu beabsich­tigten Sammel­ab­schie­bungen mehr geben. Auch auf parla­men­ta­ri­sche Anfragen wie zum Racial Profiling an Silvester in Köln oder eine kriti­sche Betei­li­gung an Unter­su­chungs­aus­schüssen wie dem zum NSU wird verzichtet werden müssen, während die rechte AfD alle diese Möglich­keiten ab sofort hat und für Anti-Antifa-Arbeit nutzen wird. (An dieser Stelle auch ein Danke an einzelne Piraten im letzten Landtag, die vielfach hilfreiche Arbeit gemacht haben.)

Für die radikale Linke bedeuten die Ergeb­nisse neben des Alarms wegen des Erfolgs für die AfD vor allem eines : Auch in politi­sierten Zeiten wie in diesem Jahr (in denen die allge­meine Wahlbe­tei­li­gung steigt) gibt es in weiten Teilen der Bevöl­ke­rung eine völlige Abwen­dung von „offizi­eller“ Politik, die tatsäch­lich in einer schweren Krise steckt. Wo Hipster und Öko-Bourgeois sich einem Schaum­schläger wie dem für die Grünen kandi­die­renden Jörg Heynkes zuwenden, der immerhin 14.756 Stimmen im Tal holte, bleiben in den „sozialen Brenn­punkten“ nach wie vor die meisten bei einer Wahl einfach zuhause – die einen, weil sie mangels Pass nicht wählen dürfen, die anderen weil sie offenbar definitiv nichts mehr erwarten. Die radikale Linke weiß seit langem, dass ihre Politik dort, außer­halb der eigenen Wohlfühl-Oase präsent sein müsste, will sie den Rechten nicht mittel­fristig das Feld überlassen. In Betrach­tung des üblen Rechts­rucks in der Stadt und des Erfolgs der AfD wäre jetzt höchste Zeit, das lange Bekannte umzusetzen. Angesichts der eigenen Verfas­sung wäre es vermessen zu glauben, die radikale Linke könnte zum Beispiel in Oberbarmen oder in Langer­feld erfolg­reich nebenbei inter­ve­nieren. In beiden Quartieren muss schon jetzt von einer schlechten Ausgangs­po­si­tion gespro­chen werden. Hier müsste zunächst einmal ein viel inten­si­verer Kontakt zu den dort lebenden Migranten und Migran­tinnen aufge­baut werden, um die drohende Hegemonie rechter Diskurse zu brechen. Doch nebenan, am Osters­baum, ist lange nichts entschieden : Das Viertel ist polari­siert und desil­lu­sio­niert. Eine Konse­quenz für die radikale Linke aus den Wahler­geb­nissen müsste sein, den Kampf um den „anderen Berg” jetzt aktiv zu führen und zu inten­si­vieren.

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Ismail Küpeli : Nie überwundener Nationalismus

Nach der Auftakt­ver­an­stal­tung unserer Reihe „Politik in der Rechts­kurve” zu den Philli­pinen unter Rodrigo Duterte mit Niklas Reese im Januar (zweitei­liger Bericht zur Veran­stal­tung hier und hier) hatten wir am 27. April Ismail Küpeli nach Wuppertal einge­laden, um mit uns über die autori­tären Entwick­lungen in der Türkei und die Auswir­kungen der AKP-Politik auch in türkisch­stäm­migen Commu­nities in Deutsch­land zu disku­tieren. Der Zeitpunkt war bewusst gewählt – zwei Wochen nach dem Verfas­sungs­re­fe­rendum, mit dem Recep Tayip Erdogan seine Macht festigen konnte, wollten wir uns mit den Auswir­kungen beschäf­tigen.

Die Türkei nach dem Referendum“ mit Ismail Küpeli – Veranstaltungsbericht

Es war mittler­weile schon die fünfte Wupper­taler Veran­stal­tung mit Ismail Küpeli und nicht weniger als viermal hatten wir ihn einge­laden, über die Lage in der Türkei und Kurdi­stan zu berichten. Wer an diesen Abenden dabei war, wusste, dass es in der Regel keine beson­ders hoffnungs­vollen und optimis­ti­schen, dafür aber fakten­reiche und infor­ma­tive Vorträge sind, die der Duisburger Politik­wis­sen­schaftler und Journa­list im Gepäck hat. Wenig überra­schend war das auch diesmal, am 27.April im ADA, nicht anders, denn es war der elfte Tag nach dem Verfas­sungs­re­fe­rendum und der dritte Tag, nachdem die türki­schen Streit­kräfte begonnen hatten, Luftan­griffe gegen die Stellungen der YPG/YPJ in Syrien sowie der yezidi­schen Selbst­ver­tei­di­gungs­kräfte YBS zu fliegen.

Hinsicht­lich der Volks­ab­stim­mung über das Präsi­di­al­system gibt es aus Sicht von Ismail Küpeli keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem Ergebnis (51,4 Ja-Stimmen gegen 48,6 Nein-Stimmen) um massive Wahlfäl­schung gehan­delt haben muss. Die deutschen Leitme­dien hingegen hatten diese Einschät­zung im Prinzip immer nur in indirekter Rede wieder­ge­geben ; so berich­tete bspw. die „Zeit“: „Die Opposi­tion zog die Recht­mä­ßig­keit der Abstim­mung in Zweifel“. Bei 1,5 Millionen block­weise bei der Wahlaus­zäh­lung aufge­tauchten, unregis­trierten und nach türki­schem Wahlrecht ungül­tigen Stimm­zet­teln, die gleich­wohl trotzdem gewertet wurden, dürften jedoch an einer Wahlma­ni­pu­la­tion keine Zweifel mehr bestehen.

Zumal es weitere Seltsam­keiten gibt, wie etwa den Umstand, dass nach den offizi­ellen Ergeb­nissen speziell in den durch das türki­sche Militär massiv zerstörten kurdi­schen Gebieten beson­ders viele „Ja“-Stimmen abgegeben worden sein sollen – ihr Anteil lag höher als das Wahler­gebnis der AKP bei den Parla­ments­wahlen. Das ist nicht nur unwahr­schein­lich, es erscheint völlig wider­sinnig. Nichts­des­to­trotz gibt die CHP, die größte Partei, die gegen das Präsi­di­al­system mobili­siert hatte, nun der kurdi­schen Bevöl­ke­rung im Südosten die „Schuld“ am „Ja“ zum Präsi­di­al­system ; die CHP hat zudem dazu aufge­rufen, den Protest gegen das Referendum „nicht auf die Straße zu tragen“. Das lässt laut Ismail Küpeli wenig Raum für Hoffnungen auf einen gemein­samen Wider­stand der beiden Oppos­ti­ons­par­teien HDP und CHP gegen die Wahlfäl­schung. Beson­ders, da auch gegen opposi­tio­nelle Medien mit aller Härte vorge­gangen wird. Der Fall Deniz Yücel ist schließ­lich nur aus deutscher Sicht ein beson­derer : In keinem Staat sind so viele Journa­listen inhaf­tiert wie in der Türkei. Trotz der Gleich­schal­tung der  Medien wurde das von Erdogan fanatisch betrie­bene Vorhaben eines auf ihn zugeschnit­tenen Präsi­di­al­sys­tems am 16.4. nur knapp bestä­tigt. Umso rücksichts­loser wird es nun wohl mit allen Mitteln durch­ge­setzt. Das beweisen tausende Entlas­sungen und Verhaf­tungen in den letzten Tagen.

Fast uneingeschränkte Macht des Präsidenten

Dem künftigen Präsi­denten wird das neue politi­sche System praktisch unein­ge­schränkte Macht über sämtliche staat­liche Insti­tu­tionen geben – der seit dem Putsch­ver­such am 15.7. geltende (und nach dem Referendum umgehend verlän­gerte) Ausnah­me­zu­stand wird damit de facto verfas­sungs­recht­lich abgesegnet und auf Dauer imple­men­tiert. Das vollstän­dige Inkraft­treten der Verfas­sungs­än­de­rung wird aller­dings noch zwei Jahre dauern, einige Änderungen treten erst nach den Wahlen 2019 in Kraft. Wenn alle Änderungen umgesetzt sind, wird der Staats­prä­si­dent nach Belieben Minis­te­rInnen ernennen und absetzen können – sie müssen dann auch auch keine Parla­men­ta­rie­rInnen mehr sein, er kann belie­bige Personen dazu bestimmen. Dem Parla­ment gegen­über ist er keine Rechen­schaft hierzu schuldig ; er kann Minis­te­rien auflösen, einrichten oder neu zusam­men­setzen, ohne dass das blockiert werden könnte. Auch Perso­nal­ent­schei­dungen im Justiz­ap­parat und sogar im Bildungs­wesen (Ernen­nung bzw. Abset­zung von Uni-Rektoren und Dekanen) obliegen künftig dem Präsi­denten.

Der Präsi­dent kann sogar den Staats­haus­halt bestimmen. Der muss zwar formal vom Parla­ment bestä­tigt werden – sollte es jedoch seine Zustim­mung verwei­gern, wird der Vorjah­res­haus­halt infla­ti­ons­an­ge­passt automa­tisch auf das nächste Jahr übertragen. Damit entfällt ein zentrales – und manchmal auch das letzte Kontroll­in­stru­ment eines Parla­ments ; aktuell erfährt zum Beispiel Donald Trump, was parla­men­ta­ri­sche Ausga­ben­kon­trolle bedeutet. Wer sich mit der Türkei befasst, weiß jedoch, dass viele dieser Änderungen nur  längst angewandte Regie­rungs­praxis wider­spie­geln. Schon heute kündigt Recep Tayip Erdogan im Staats­fern­sehen Verhaf­tungen an, die am Folgetag durch den gesäu­berten Polizei­ap­parat durch­ge­führt und durch die drang­sa­lierte Justiz angeordnet werden. Und wie der türki­sche Staat auf Wider­stand gegen vom Präsi­denten gewünschte Inves­ti­ti­ons­vor­haben reagiert, ließ sich schließ­lich bereits 2013 bei der Nieder­schla­gung der „Gezi-Proteste“ feststellen.

Nationalismus als Herrschaftskitt der AKP

Das knappe Ergebnis kann vor diesem Hinter­grund daher auch so gedeutet werden, dass die Zustim­mung zur Regie­rungs­linie der AKP insta­biler geworden ist. Erdogan versteht es aller­dings geschickt, einige seiner wichtigsten Gegner immer wieder einzu­binden wenn er an einem kriti­schen Punkt angekommen ist. Ein solcher Punkt könnte jetzt sein ; denn nicht nur HDP und CHP verwei­gerten ihm die Zustim­mung zur Verfas­sungs­än­de­rung, sondern auch weite Teile der von ihm vor dem Referendum heftig umwor­benen rechts­na­tio­na­lis­ti­schen MHP. Der Angriff auf Rojava (die kurdi­schen Gebiete in Nordsy­rien) und die dortigen YPG/YPJ-Milizen und auf die (der PKK naheste­hende) yezidi­sche Selbst­ver­tei­di­gung im Nordirak könnte auch der klassi­sche Versuch eines unter Druck geratenen Regimes sein, innen­po­li­ti­sche Schwäche durch eine außen­po­li­ti­sche Eskala­tion zu überde­cken. Sie gibt dem Militär Beinfrei­heit und Ressourcen und die kemalis­tisch-natio­na­lis­ti­sche Opposi­tion wird hinter der Regie­rung gesam­melt. Selbst die kemalis­ti­sche CHP steht schließ­lich in der Regel stramm, wenn es gegen die KurdInnen geht. Natio­na­lismus wird so (wieder einmal) zum Kitt für das Herrschafts­ge­bäude der AKP.

Dass der notori­sche Natio­na­lismus in der türki­schen Gesell­schaft, niemals, auch nicht von der türki­schen Linken, überwunden wurde, hält Ismail Küpeli denn auch für einen zentralen Faktor der Schwäche linker Gegen­macht in der Türkei. Hinzu komme eine langjäh­rige Fehlein­schät­zung der AKP, die von vielen fälsch­li­cher­weise als ideolo­gi­sche Bewegung und nicht als sehr geschickter macht­stra­te­gi­scher Akteur betrachtet wurde. Dabei habe es die AKP gut verstanden, den türki­schen Natio­na­lismus in ihrem Sinne zu trans­for­mieren und mit seiner Hilfe eine Islami­sie­rung der Gesell­schaft weiter zu beschleu­nigen. Sie habe so allmäh­lich eine immer umfas­sen­dere kultu­relle Hegemonie etabliert, die jeden alter­na­tiven Entwurf als Verrat am Islam aber eben auch an der Nation geißele.

Die Linke hat sich auch selbst paralysiert

Erste rechts­staats­wid­rige Verhaf­tungen im Rahmen der Ergenekon-Verfahren habe die Linke noch als eine Art demokra­ti­scher Selbst-Reini­gung begriffen – schließ­lich richteten sich die Repres­sionen zumeist gegen Generäle und hohe Militärs, die alten Feinde der Linken. Zugleich war es aber eben ein Manöver des neuen Regimes, sich poten­ti­eller oder imagi­nierter Gegner auf nicht-rechts­staat­liche Weise zu entle­digen. Als weiteren Fehler bezeich­nete Ismail Küpeli die schein­bare Gewiss­heit, der worst-case würde schon nicht eintreten und keine Strategie dagegen zu entwi­ckeln. So wurde auch das Ausmaß der späteren Repres­sion nicht antizi­piert ; es wurde nicht erwartet, dass gewählte Parla­men­ta­rie­rInnen im Knast landen, oder dass ganze kurdi­sche Städte zerstört und tausende Zivilis­tInnen massa­kriert würden. Als es doch geschah, gab es mangels Vorbe­rei­tung keine starke Reaktion. Es sei jedoch notwendig, eine realis­ti­sche Einschät­zung des Regimes und dessen, wozu es fähig ist, zu entwi­ckeln.

Zunächst blieben den linken opposi­tio­nellen Kräften derzeit nur wenige Optionen, so Ismail Küpeli. Es könne nur bei jeder einzelnen Verhaf­tung, Entlas­sung, Bombar­die­rung, bei jedem Akt des Staats­ter­rors gegen Zivilis­tInnen, weiterhin ziviler Wider­stand geleistet und so versucht werden, den Preis, den das Regime dafür zu zahlen hat, möglichst hoch zu halten. Eine Option der HDP könnte es sein, sich ihrer fassa­den­haften Rolle als entmach­teter Opposi­ti­ons­partei in einem entmach­teten Parla­ment zu entle­digen und sich auf diesen zivilen Wider­stand zu konzen­trieren. Als dritte Option bliebe schließ­lich allein die Selbst­be­waff­nung für den militanten Kampf. Vieles wird laut Ismail Küpeli davon abhängen, wie sich der neu begon­nene Krieg in der nächsten Zeit weiter­ent­wi­ckelt.

Er wollte jedoch keine Prognose abgeben, ob die erfolgten Bombar­die­rungen und Angriffe der Beginn eines langfris­tigen Krieges der Türkei gegen die kurdi­schen Selbst­ver­tei­di­gungs­kräfte ist, oder ob sie eine kurzfris­tige Eskala­tion in einem weiterhin einge­grenzten Konflikt bleiben. Das wird letzt­end­lich von der Gesamt­kon­stel­la­tion der Kräfte­ver­hält­nisse im Nahen/Mittleren Osten abhängen. Noch immer werden die kurdi­sche YPG, bzw. die kurdisch-arabi­schen SDF sowohl von den USA als teilweise auch von Russland unter­stützt ; bislang werden sie noch als Boden­truppen und Stabi­li­sie­rungs­faktor benötigt – sei es bei der Rückerobe­rung von Raqqa, sei es als das Regime stützender Gegenpol gegen türkisch unter­stützte islamis­ti­sche Milizen. Das alles kann sich aller­dings jeder­zeit ändern, fest steht, dass die langfris­tigen Kriegs­pläne der Türkei darauf abzielen, die kurdi­schen Kräfte an ihrer Grenze zu neutra­li­sieren.

Inszenierte Konflikte auf Nebenkriegsschauplätzen

In diesem Zusam­men­hang ist sehr inter­es­sant, über was hierzu­lande geredet und berichtet wird und über was nicht. Während Massen­ent­las­sungen und Verhaf­tungen in der Türkei es in die vorderen Sende­mi­nuten der Haupt­nach­richten und manchmal indirekt auch in die Bundes­pres­se­kon­fe­renz schaffen, sind die Bombar­die­rungen kurdi­scher Städte und Dörfer beispiels­weise keine Randnotiz wert. Auch die Aussagen zur Manipu­la­tion des Referen­dums waren eher zurück­hal­tend. Dieses Missver­hältnis inter­pre­tiert Ismail Küpeli als ein ausschließ­lich wirtschaft­li­ches und geostra­te­gi­sches Inter­esse Deutsch­lands an der Stabi­lität der Türkei ; durch Verhaf­tungen und Entlas­sungen geschwächte staat­liche Insti­tu­tionen gefährden in den Augen Deutsch­lands die Stabi­lität des NATO-Partners. Allein die innere Stabi­lität und nicht Sorgen um die Demokratie und um Rechts­staat­lich­keit sei es, was deutsche Politi­ke­rInnen und die Wirtschaft beunru­hige. Ähnli­ches ließe sich zum Beispiel auch bei der Zusam­men­ar­beit mit Ägypten oder Aserbai­dschan feststellen.

Die oft angespro­chenen EU-Beitritts­ver­hand­lungen sieht Küpeli ledig­lich als Spiel­ball, den beide Seiten zwecks eigener Gesichts­wah­rung gerne zu opfern bereit wären. Niemand glaube mehr an einen EU-Beitritt und es gäbe auch kein echtes Inter­esse daran. Die wirtschaft­liche und sicher­heits­po­li­ti­sche Koope­ra­tion würde unter dem Abbruch der Verhand­lungen auch nicht leiden. Die ökono­mi­sche Krise in der Türkei, die tatsäch­lich das Poten­tial hätte, in eine Hegemo­nie­krise der herrschenden Partei zu münden, würde auch in Zukunft sicher über deutsche Hilfs­gelder und Inves­ti­tionen abgemil­dert. Der Öffent­lich­keit würde durch insze­nierte Konflikte ein Zerrbild auf Neben­schau­plätzen vermit­telt, wonach die deutsche Regie­rung vor Konse­quenzen nicht zurück­schrecke. In Wirklich­keit aber liefe das Business “as usual” einfach weiter.

So vermel­deten die Medien vor wenigen Wochen, dass Waffen­ex­porte in die Türkei angeb­lich 2016 durch die Kontroll­gre­mien zuneh­mend unter­bunden worden seien. Tatsäch­lich waren in elf Fällen Export­li­zenzen zwar nicht erteilt worden, die Gesamt­zahl der Waffen­ex­port­an­träge hatte aber zugenommen. Exporte und Volumen des Waffen­han­dels haben also insge­samt zu- und nicht abgenommen. Die Koope­ra­tion wird ungebro­chen fortge­setzt, aller­dings eher leise und möglichst ohne zuviel Aufsehen. Deshalb dürfte es der Regie­rung peinlich gewesen sein, als ein aufge­tauchtes Video dokumen­tierte, dass Panzer­fahr­zeuge und Waffen aus Bundes­wehr­be­ständen, die, um die Yeziden vor Daesh zu schützen, an die Peshmerga der türkei­freund­li­chen KDP-Regie­rung unter Barzani im Nordirak gelie­fert wurden, nun durch Peshmerga-Milizen gegen eben diese Yeziden einge­setzt werden. (Über die Unmög­lich­keit, ein deutsches Leit-Medium für Berichte darüber zu gewinnen, hat das Lower­Class Magazine einen verzwei­felten und sarkas­ti­schen Artikel verfasst.)

In Deutsch­land stellt sich in erster Linie die Aufgabe der Solida­ri­täts­ar­beit auf der Straße oder am Schreib­tisch, wenn es um die Thema­ti­sie­rung der Repres­sion in der Türkei geht, aber auch in konkreter Solida­rität mit hierhin geflüch­teten türki­schen und kurdi­schen Menschen. Es sind immer mehr Genossen und Genos­sinnen, oft auch Künstler oder Journa­lis­tinnen, die ihr Leben und ihre Arbeit hier fortsetzen möchten. Dabei wird es ihnen von den deutschen Behörden zur Zeit nicht leicht gemacht, einer Quasi-Einla­dung zur Stellung eines Asylan­trags durch die deutsche Regie­rung nach dem versuchten Putsch zum Trotz. Ihnen müssen hier Wege gezeigt und Kanäle, Platt­formen und Struk­turen zur Verfü­gung gestellt werden. Vor allem muss es uns darum gehen, die notori­sche Koope­ra­tion Deutsch­lands auf allen Ebenen bekannt zu machen und zu skanda­li­sieren. Wenn die Mehrheit der deutschen Bevöl­ke­rung sich nicht länger darüber echauf­fierte, dass Recep Tayip Erdogan Angela Merkel Nazi nennt, sondern darüber, dass die Düssel­dorfer Rhein­me­tall AG mit Zustim­mung eben jener Angela Merkel Waffen aller Art liefert und gar eine Panzer- und Muniti­ons­fa­brik in der Türkei bauen will, hätten wir unseren Job gut gemacht. Denn auch bei Rhein­me­tall werden nicht alle Arbeiter und Arbei­te­rinnen damit glück­lich sein. Die deutsche Linke sollte sie mit ihrem Unbehagen nicht alleine lassen.

 

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