Rostock II : Interview zur Demo 20 Jahre Lichtenhagen

Am Wochen­ende ist nicht nur das bundes­weite Antifa­camp in Dortmund ein antifa­schis­ti­scher Kristal­li­sa­ti­ons­punkt, sondern auch die ebenfalls bundes­weite Demo in Rostock-Lichten­hagen anläss­lich des zwanzigsten Jahres­tages der rassis­ti­schen Ausschrei­tungen gegen die Bewoh­ne­rInnen des Lichten­ha­gener „Sonnen­blu­men­hauses”. Kombinat Fortschritt aus Rostock hat vor diesem Hinter­grund ein Gespräch mit den Sprecher_innen desVor­be­rei­tungs­kreises geführt.

(Quelle : indymedia​.org)

Kombinat Fortschritt : Euer Bündnis mobili­siert für den 25. August zu einer Demons­tra­tion zum „Sonnen­blu­men­haus” in Rostock Lichten­hagen, dem Tatort von 1992. Könnt ihr zunächst mal kurz einen Überblick geben wer das Ganze organi­siert ?

Claudia : Ja, die Demons­tra­tion wird von linken Gruppen und Verbänden aus Rostock und aus dem Bundes­ge­biet vorbe­reitet. Mit dabei sind die Verei­ni­gung der Verfolgten des Nazire­gimes, Antifa-Gruppen aus vielen Städten, die Ver.di-Jugend, das umsGanze!-Bündnis und Gruppen der Inter­ven­tio­nis­ti­schen Linken, die Initia­tive ‚Rassismus tötet’, aber auch Solid und die Jusos Berlin.

Jochen : Unser Bündnis ist also relativ breit, und unsere Unterstützer_innenliste wächst täglich. Es werden viele Flücht­lings­in­itia­tiven zur Demo kommen. Übrigens : Unmit­telbar nach der Demons­tra­tion wird es am „Sonnen­blu­men­haus” ein linkes Konzert geben, mit Fritten­bude, dem Berlin Boom Orchestra, Feine­sahn­e­fisch­filet und Kobito.

KF : Warum mobili­siert ihr bundes­weit nach Rostock, was ist das Beson­dere an diesem Pogrom ? Es gab Anfang der 90er Jahre ja eine ganze Serie rassis­ti­scher Anschläge, zum Beispiel das Pogrom von Hoyers­werda 1991 oder den Mordan­schlag von Solingen 1993, bei dem fünf Menschen ums Leben kamen.

Jochen : Insge­samt haben Nazis und Rassisten in diesen Jahren 17 Menschen ermordet und mehr als 450 zum Teil schwer verletzt. Ermutigt wurden sie durch eine monate­lange Hetzkam­pagne in Politik und Medien, in der rassis­ti­sche Kampf­be­griffen ganz selbst­ver­ständ­lich waren : „Überfrem­dung”, „Schein­asy­lant”, „Das Boot ist voll” usw. Doch das Pogrom von Rostock-Lichten­hagen sticht heraus, und das nicht nur wegen der tagelangen Übergriffe vor laufenden Kameras. Die Bilder aus Rostock wurden politisch ausge­schlachtet und führten zur Abschaf­fung des Grund­rechts auf Asyl.

Claudia : Man kann hier wirklich einmal von einer Kompli­zen­schaft von Mob und Elite­spre­chen. Nach Rostock-Lichten­hagen rief Bundes­kanzler Kohl den „Staats­not­stand” aus – nicht wegen des Pogroms, sondern wegen der angeb­lich unerträg­li­chen „Asylan­ten­flut”. Nach Rostock-Lichten­hagen ist die SPD einge­knickt und hat der Grund­ge­setz­än­de­rung zugestimmt. Erst als die in trockenen Tüchern war gab’s die ganzen Lichter­ketten gegen Rassismus. Seither fährt die Berliner Republik zweigleisig : man ist „für Demokratie und Toleranz” und „gegen Rechts”; man schiebt aber auch gnadenlos ab, sortiert und drang­sa­liert Menschen nach Nützlich­keit und Herkunft.

KF : Was sind die Ziele eurer Demo, was wollt ihr vermit­teln ?

Jochen : Wir wollen nicht einfach „erinnern und mahnen”, wir wollen die Zusam­men­hänge von Rassismus und politi­schem Alltag deutlich machen. In Deutsch­land ist Erinnern zu einer Art Volks­sport geworden, mit dem man sich selbst ein reines Gewissen sichert. Natür­lich ist es gut, gegen Rassismus auf die Straße zu gehen oder Naziauf­mär­sche zu blockieren. Aber menschen­feind­liche Ideolo­gien sind keine Randphä­no­mene. Sie entspringen der Logik einer Gesell­schaft, in der Menschen ständig um Lebens­chancen konkur­rieren müssen. Kapita­lis­ti­sche Auslese ist gnadenlos. Um so schärfer wird gestritten, wer zu „uns”, zur Nation dazuge­hört – zu denen die im Zweifels­fall privi­le­giert werden, die das Sagen haben.

Claudia : Das deutsche Staats­bür­ger­schafts­recht wurde seit Rostock-Lichten­hagen zwar refor­miert. Doch damit haben Rassismus und Sozial­chau­vi­nismus nicht aufge­hört, im Gegen­teil. Man muss nur an die antimus­li­mi­schen Reflexe der sogenannten Integra­ti­ons­de­batte denken, oder an die rassis­ti­schen Bilder vom „faulen Pleite­grie­chen”. Kaum jemand wendet sich gegen den alltäg­liche Rassismus von Polizei und Auslän­der­be­hörden. Und das europäi­sche Grenz- und Abschie­be­re­gime produ­ziert Jahr für Jahr ungestört tausende Tote.

KF : Für den Vormittag des 25.8. plant ihr - quasi vor der Demo - auch noch eine Kundge­bung auf dem Neuen Markt am Rosto­cker Rathaus. Worum wird es dabei gehen ?

Claudia : Zum einen wollen wir mit der Kundge­bung im Stadt­zen­trum unter­strei­chen, dass Rassismus – wie gesagt – in der Mitte der Gesell­schaft wurzelt, und nicht nur in Platten­bau­sied­lungen. Zum anderen wollen wir an einen Eklat von 1992 erinnern und ein kriti­sches Gedenk­zei­chen durch­setzen. Einige Wochen nach dem Pogrom hatte eine aus Frank­reich angereiste Delega­tion der ‚Söhne und Töchter der depor­tierten Juden Frank­reichs’ um Beate Klars­feld am Rosto­cker Rathaus eine Gedenk­tafel angebracht. Die Inschrift erinnerte an die „rassis­ti­schen Gewalt­taten” der Gegen­wart, aber auch an die Depor­ta­tion und Ermor­dung von Juden und Sinti und Roma während des Natio­nal­so­zia­lismus. Damit hatten sie offenbar einen Nerv getroffen. Die Behörden ließen alle betei­ligten festnehmen, drei wurden inhaf­tiert, die Tafel wurde entfernt. Wir wollen einmal sehen, wie sich Rostock heute zu dieser Episode stellt.

KF : Im Vorfeld gab es einige Kritik an euer Demons­tra­tion. Es hieß ihr würdet Anwohner_innen pauschal als Rassisten abstem­peln und den Jahrestag für eigene politi­sche Zwecke missbrau­chen. Wie reagiert ihr auf diese Kritik ?

Jochen : Es ist immer wieder erstaun­lich, wie reflex­haft sich die gute Gesell­schaft gegen Vorwürfe verwahrt die niemand erhoben hat, und wie sehr sie um ihr Ansehen besorgt ist. Man könnte fast denken da hätte jemand schlechtes Gewissen. Während der Pogrome 1992 sorgten sich alle um das „Ansehen Deutsch­lands”. Antifa­schisten, die sich den Nazis in den Weg stellten, wurden von der Polizei angegriffen und festge­nommen, in der Presse wurden sie als „Krawall­ma­cher” denun­ziert. Und heute ? Außen­mi­nister Wester­welle fand die Mordserie des NSU „vor allem sehr, sehr schlimm für das Ansehen Deutsch­lands in der Welt”. Der Unter­schied : Mittler­weile denken alle sie hätten ihre Lektion gelernt. Darauf wird auch die Rede von Bundes­prä­si­dent Gauck am 26.8. hinaus­laufen. Eines ehema­ligen Rosto­cker Pfarrers übrigens, von dem während des Pogroms Nullkom­ma­nichts zu hören war.

Claudia : Unsere Demons­tra­tion erinnert daran, dass es mit oberfläch­li­chem Humanis­mus­nicht getan ist, dass man die gesell­schaft­li­chen Ursachen des Rassismus bekämpfen muss. Mit dieser Position ernten wir auch viel Zuspruch. Wer sich konse­quent gegen Rassismus stellen will, ist auf unserer Demons­tra­tion richtig.

KF : Lasst uns mal den Blick nach vorn richten. Was wollt ihr mit der Demons­tra­tion in Rostock konkret errei­chen ?

Jochen : Wir wünschen uns natür­lich, dass wir auch skepti­sche Rostocker_innen überzeugen, und dass wir so mehr Unter­stüt­zung und größere Spiel­räume für antiras­si­ti­sche Politik schaffen können. Wir wissen aber auch, dass es im Zweifels­fall auf die Entschlos­sen­heit von Antifaschist_innen ankommt.Deshalb hoffen wir, dass die bundes­weite Mobili­sie­rung auch ein Impuls für die Antifa-Szene vor Ort ist. In Rostock gibt es keine rechte Dominanz wie in anderen ostdeut­schen Städten.Aber auf diesem Erfolg dürfen wir uns nicht ausruhen.

Claudia : Außerdem wollen wir denen den Rücken stärken, die unter deutschem Auslän­der­recht diskri­mi­niert werden, die in den Mühlen der deutschen Ausländer- und Asylbe­hörden syste­ma­tisch ernied­rigt und entrechtet werden. Gerade organi­sieren sich Flücht­linge gegen das Regime der Residenz­pflicht und der Lager­un­ter­brin­gung, mit „Flücht­lings­streiks” in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Berlin. Dieser Protest ist überfällig, und wir wollen ihn nach Kräften unter­stützen.

KF : Zum Schluss noch mal zu ein paar ganz prakti­schen Dingen : Rostock liegt ja eher im äußeren Nordosten, nicht gerade günstig für eine bundes­weite Mobili­sie­rung. Ihr habt für Leute von außer­halb einiges organi­siert. Was ist eure Infra­struktur für den Tag ?

Claudia : Zunächst mal haben unsere Bündnis­gruppen aus vielen Städten Busan­rei­sen­or­ga­ni­siert. Es kommen Busse aus Köln, Frank­furt, Leipzig, Göttingen und vielen anderen Städten. Aus Berlin, Kiel und Hamburg gibt es eine gemein­same Zugan­reise. Alle Infos dazu auf unserer Homepage. Dort gibt es demnächst auch alle Infos zur Demo, mit Karten und Telefon­num­mern etc. Wer das Konzert entspannt mitnehmen will oder am 26.8. in Rostock noch etwas vorhat, kann sich für eine Übernach­tung an die Pennplatz­börse wenden. Einfach eine eMail an pennplatz_​rostock@​systemausfall.​org, und Schlaf­sack nicht vergessen. Alles weitere ergibt sich.

weitere Infos : www​.lichten​hagen​.net

Bundes­weite Demo im Gedenken an Pogrome von Lichten­hagen
Samstag 25.08.2012 | 11 Uhr, Kundge­bung | Rostock-Stadt­zen­trum
Samstag 25.08.2012 | 14 Uhr, Demo | S-Bhf. Rostock Lütten Klein

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Rostock I : Antifa während der Pogrome 1992

Der Artikel »(Nicht-)Reaktionen der autonomen Antifa-Bewegung« für die aktuelle Ausgabe (No.95) des AIB beleuchtet die Situa­tion der autonomen Antifas im August 1992 während der Pogrome in Rostock. Der Text zeigt auf, dass die Polizei durchaus in Lage war, gegen große Ansamm­lungen von Menschen vorzu­gehen – nur vornehm­lich gegen Linke.

Die komplette Ausgabe gibt es : [hier]

antifa Rostock in Lichten­hagen im Sommer 2012

(Nicht-)Reaktionen der autonomen Antifa-Bewegung

Wie die Polizei und die Öffent­lich­keit in Rostock und darüber hinaus, wussten auch Antifas schon früh, dass am Wochen­ende etwas passieren würde. So hatte es beispiels­weise bereits am 18. August Drohan­rufe bei Zeitungen gegeben, die Angriffe auf die ZASt ankün­digten. Antifaschist_innen aus Rostock baten daher schon früh verschie­dene Städte um Hilfe, um in den erwar­teten Zusam­men­stößen nicht allein dazustehen.

Direkte Inter­ven­tionen

Zentrale Treff­punkte für anrei­sende Antifas wurden das Jugend Alter­nativ Zentrum (JAZ) und die zu diesem Zeitpunkt etwa acht besetzten Häuser in der Stadt.

Die dort Versam­melten waren sich jedoch uneinig, wie vorzu­gehen sei. Verlangten einige eine sofor­tige und direkte Inter­ven­tion, warnten andere davor, dass dies angesichts der Kräfte­ver­hält­nisse zu gefähr­lich sei. Trotz dieser Unschlüs­sig­keit wurde mehrmals versucht, aktiv zu werden.

So gelang es z.B. einer Spontan­de­mons­tra­tion in der Nacht auf Sonntag den 23. August vor die ZASt zu laufen und die noch anwesenden Neonazis zu vertreiben.1

Doch dies blieb nur ein kurzes Auffla­ckern effek­tiver Gegen­wehr. Obwohl die in Rostock nur schwach aufge­stellte Polizei Dutzende Verletzte durch den rechten Mob verzeich­nete, ging sie rigoros gegen die sich sammelnden Antifaschist_innen vor. Viele Teilnehmer_innen der Spontan­de­mons­tra­tion wurden festge­nommen. In den Medien war daraufhin teilweise die Rede von rechten wie linken »Krawall­ma­chern«.2

Auch noch Tage später wurde gegen Linke, die in Polizei-Kontrollen gerieten, weit härter vorge­gangen als gegen Neonazis : Eine Gruppe von Berliner Antifas, die mit drei Autos in der Nacht auf den 26. August in Rostock Patrouille fuhren, um weitere Übergriffe angesichts der völlig untätigen Polizei zu verhin­dern, wurde nach einer Kontrolle festge­nommen. Diese sperrte sie für zwei Tage in eine zu einem Gefängnis umfunk­tio­nierte Turnhalle, zusammen mit 35 Neonazis. »In der Halle befand sich immer eine etwa gleich­große bis etwas größere Gruppe von Faschisten, die aber heterogen wirkte. Provo­ka­tionen wurden beant­wortet« beschrieb die Gruppe die Atmosphäre.3 Während von den verhaf­teten Neonazis alle bis auf einen, der einen Polizisten mit einem Messer angegriffen hatte, schnell wieder entlassen wurden, bekamen die Antifas Anzeigen wegen schwerem Landfrie­dens­bruch. Sieben blieben in Unter­su­chungs­haft.

Dennoch gelang es im Laufe des Wochen­endes verschie­denen kleineren Gruppen von Antifas, sich in der Nähe der ZASt aufzu­halten, um bei günstiger Gelegen­heit zu handeln : »Wir haben am 23.8. während des Pogroms in Rostock den von Rechts­ra­di­kalen genutzten Jugend­club »MAX« in Rostock-Lichten­hagen abgefa­ckelt« bekannte sich so z.B. nachträg­lich eine Antifa-Gruppe. »Trotz der Anwesen­heit von Hunderten von Neofa­schisten, des rassis­ti­schen Mobs und etlicher Bullen war die Durch­füh­rung der Aktion problemlos, da wir in dem Gewühl nicht auffielen. […] Wir sehen weder für uns noch für alle anderen Antifa­schis­tInnen einen Grund, sich deshalb auf die eigenen Schul­tern zu klopfen« 4 bemerkten die Verfasser_innen selbst­kri­tisch zum Abschluss.

Andere Antifas gingen direkt gegen Neonazis vor : »In Rostock drehen die Nazis auf und versu­chen Menschen zu töten. […] Was wir tun können, ist, uns welche von den Schweinen auf dem Hin- oder Rückweg vorzu­knöpfen. Da wir gut getarnt sind, können wir sie einfach fragen, ob’s Spaß macht da vorne – wenn sie »ja« sagen, schnappen wir sie uns«.5

An der Gesamt­lage konnte dies freilich nichts ändern : Der rassis­ti­sche Mob konnte tagelang frei agieren, an einem Imbiss, der die selten günstige Geschäfts­ge­le­gen­heit gewit­tert hatte, wurde sich mit Würst­chen und Bier versorgt, bevor man mit dem nächsten Angriff begann. »Es waren mehrere tausend »Schau­lus­tige« und ca. 500 Aktive. […] Die Faschos konnten ungestört, zum Teil unter den Augen von Zivil­po­lizei, Mollies basteln – die Flaschen dazu kamen aus einem Glascon­tainer – sich auf der Straße und dem Parkplatz sammeln und gemeinsam angreifen. […] Ein Teil der Aktiven war sichtbar organi­siert, als Faschisten und feste Gruppe kennt­lich, nach Beobach­tung anderer z.T. von auswärts. Der größere Teil waren Menschen aus Lichten­hagen oder Umgebung, wie auch unter den Schau­lus­tigen nach unserem Eindruck fast ausschließ­lich Leute aus der direkten Umgebung waren.« 6

Die Demons­tra­tion

Während der Tage des Pogroms waren nur wenige hundert Antifaschist_innen in Rostock, obwohl es bundes­weit für Aufmerk­sam­keit sorgte. Früh wurde jedoch für eine große Demons­tra­tion mobili­siert. Auf dieser protes­tierten dann, eine Woche nach den Angriffen, 15–20.000 Menschen gegen die Gescheh­nisse, die Medien­hetze über angeb­liche »Asylbe­trüger« und für Solida­rität mit den Angegrif­fenen. Trotz dieser, nach heutigen Maßstäben großen und schnell organi­sierten Veran­stal­tung, waren die Diskus­sionen inner­halb der antifa­schis­ti­schen Szene in den Wochen danach hart und selbst­kri­tisch : »Wir fragen uns heute, wo die Antifa in den Tagen vom 22. bis 27. August 1992 gesteckt hat. An der bundes­weiten »Stoppt die Pogrome«-Demo haben bestimmt mehrere tausend Leute teilge­nommen. Diese Demo kommt viel zu spät!!« kriti­sierte so z.B. eine Gruppe. Bemän­gelt wurde ein »Nicht-Verhalten« und dass man die Pogrome selber hätte »aktiv stoppen müssen«.7 Während einige aus der Demons­tra­ti­ons­vor­be­rei­tung den ruhigen Verlauf der Veran­stal­tung lobten, weil man so den Medien nicht die gewünschten Bilder von linken Chaoten gelie­fert habe8, wurde gerade dies von anderen als größte Schwach­stelle kriti­siert : Die Antifa hätte die Gelegen­heit nutzen sollen, die Neona­zi­szene offensiv einzu­schüch­tern, wenn schon die Polizei und damit die Angst vor staat­li­cher Verfol­gung völlig ausge­fallen war.9  Eine zielge­rich­tete Militanz auf der Demons­tra­tion wäre für einige das richtige Signal gewesen : »Lichten­hagen hätte nicht ›brennen‹ sollen.  Nicht die Wohnungen der Bürger, nicht ihre Autos. Aber zumin­dest jener Kiosk ›happi happi bei appi‹, der ja nichts anderes war, als die logis­ti­sche Basis des Mobs […] wäre lohnendes Angriffs­ob­jekt gewesen« bemerkte eine Gruppe.10

Auch über die Frage, ob man an die Vernunft der Lichten­ha­gener Bevöl­ke­rung appel­lieren solle, die ihre Wut über soziale Missstände nur an den Falschen ausließen, oder ob diese als überzeugte Rassis­tInnen zu gelten hätten, bei denen jegli­ches Argument überflüssig sei, spaltete nachhaltig die Szene.

Histo­ri­sche Stunde der Verant­wor­tung verpasst

Das Pogrom von Rostock traf die antifa­schis­ti­sche Szene nicht unvor­be­reitet. Die zahlrei­chen Überfälle von Neonazis seit 1990 hatten die neue Gefahr deutlich gezeigt und bereits vor dem Pogrom war bekannt gewesen, dass an diesem Wochen­ende etwas passieren würde. Aus den Erfah­rungen von Hoyers­werda 1991 hätte man wissen können, dass tagelange Pogrome im wieder­ver­ei­nigten Deutsch­land zum Aktions­re­per­toire der Neona­zi­szene gehörten und sie auf zahlreiche Sympa­thi­san­tInnen zählen konnten.

Zu den gängigsten Parolen inner­halb der antifa­schis­ti­schen Bewegung der damaligen Zeit gehörten »Die antifa­schis­ti­sche Selbst­hilfe organi­sieren« und »Staat und Nazis Hand in Hand – organi­siert den Wider­stand«. Als die Stunde gekommen war, diese Sätze in die Tat umzusetzen, entpuppten sie sich größten­teils als Phrasen. Nur einige wenige Antifaschist_innen setzten sich in die Autos und fuhren nach Rostock.

Noch nie in ihrer Geschichte stand die autonome antifa­schis­ti­sche Bewegung in einer ähnli­chen Situa­tion, in der sie für einen kurzen Moment in den Lauf der Geschichte hätte eingreifen können. Dieser Augen­blick war in Rostock-Lichten­hagen am 22. August 1992 – und er verstrich ungenutzt.

Im AIB 41 schrieben wir :

»Seit Jahren hatte man mit morali­schen Argumenten Zivil­cou­rage einge­for­dert, den schwei­genden Augen­zeu­g­Innen etwa des 9. November 1938 zu Recht vorge­worfen, durch ihr Zuschauen mitschuldig zu sein. Nun selbst in eine vergleich­bare Situa­tion geraten, war die Angst um den eigenen weißen Hintern offenbar größer. Den morali­schen Ansprü­chen entsprach kein Bewusst­sein darüber, wie man sich in der konkreten Situa­tion selbst zu verhalten habe. Weder hatten wir uns selbst als Faktor der Geschichte ernst genommen, noch hatten wir uns ernst­haft klar gemacht, dass in solchen Situa­tionen im Zweifel auch Gefahr für unser eigenes Wohlergehen bestehen kann. […] Ich bin auch nach wie vor der Überzeu­gung, dass wir echte Chancen hatten, den Mob zu verscheu­chen […] Für die Zukunft müssen wir die Lehre ziehen. Statt stets und überall verbal mit radikalen Parolen um uns zu werfen, statt in jedem Einzel­er­eignis die Nagel­probe zu wittern, müssen wir lernen zu erkennen und zu unter­scheiden, wann eine echte histo­ri­sche Verant­wor­tung besteht, wann der Lauf der Dinge von unserem Handeln und Unter­lassen tatsäch­lich mit beein­flusst wird. Dann müssen wir aber auch in der Lage sein, im entschei­denden Moment das richtige zu tun. […] Dass wir selbst dabei Schaden nehmen können, sollten wir uns deutlich vor Augen halten. Wir sollten aber auch lernen, dass es Situa­tionen gibt, in denen wir uns nicht mehr aussu­chen können, was wir wie machen […]«

An dieser Analyse hat sich bis heute nichts geändert.

Das (Nicht-)Handeln der Polizei

Obwohl die Polizei in Rostock schon Tage vor dem Pogrom Wind von der Sache bekommen hatte, war das Sonnen­blu­men­haus am Wochen­ende ohne relevanten Polizei­schutz.

Innen­se­nator Dr. Magdanz trat am Abend des 21. August seinen Urlaub an, da er »keinerlei verdich­tete Hinweise auf Ausein­an­der­set­zungen« gehabt habe. Auch der Leiter der Polizei­di­rek­tion Rostock, Jürgen Deckert, erstellte aufgrund der besorg­nis­er­re­genden Berichte nur schnell einen kurzen Einsatz­be­fehl und reiste dann ins Wochen­ende nach Bremen. Auch der Staats­se­kretär im Innen­mi­nis­te­rium, die Abtei­lungs­leiter für Öffent­liche Sicher­heit und für Auslän­der­fragen, der Leiter des Landes­po­li­zei­amtes sowie der Chef der Polizei­di­rek­tion Rostock fuhren zu ihren Familien nach Westdeutsch­land.

Der Einsatz­be­fehl für die Polizei, den Deckert vorher noch schnell geschrieben hatte, fand auf einer Seite Papier Platz. Er enthielt weder einen Funkplan noch eine Abschnitts­ein­tei­lung und war damit völlig unzurei­chend – deutli­cher Beweis, wie unwichtig der kommende Einsatz genommen wurde. Die späteren Randa­lie­re­rInnen wurden als »Bürger aus auslän­der­feind­lich einge­stellten Kreisen« bezeichnet, welche die Absicht hätten, eine »Protest­ak­tion« in Rostock-Lichten­hagen durch­zu­führen. Nur ein einziger Zug Bereit­schafts­po­lizei wurde zur Verfü­gung gestellt.

Als am Samstag, wie angekün­digt, aus einer Menge von ca. 2000 Personen mehrere hundert Jugend­liche die ZASt mit Steinen und Brand­fla­schen bewarfen, wurden nur dreißig Polizist_innen zum Schutz des Gebäudes geschickt, die sofort angegriffen wurden. Erst jetzt wurden Wasser­werfer angefor­dert. Diese befanden sich aber in Schwerin und dort gab es zu diesem Zeitpunkt keine Fahrer_innen. Als sie schließ­lich gegen 2 Uhr morgens zum Einsatz kamen, waren sie nach kurzer Zeit leer. Am Sonntag versam­melten sich bereits gegen Mittag wieder neue Gruppen vor der ZASt – immer­noch war die Polizei hoffnungslos unter­be­setzt.

Erst in der Nacht zum Montag kam der Leiter der Polizei­di­rek­tion Rostock Jürgen Deckert aus Bremen zurück, um selbst den Einsatz zu leiten. Offen­sicht­lich machte dies die Lage aber nicht besser, sondern nur noch schlimmer. Auch die mittler­weile aus Hamburg einge­trof­fenen zwei Hundert­schaften der Polizei und ein Zug des Bundes­grenz­schutz (BGS) konnten daran nichts ändern. Jedoch wurden Erstere direkt vor der ZASt positio­niert und konnten so vorerst ernstere Angriffe verhin­dern. Doch am Montag­abend um 20 Uhr, als sich erneut Tausende in Volks­fest­stim­mung versam­melt hatten, gab Deckert den Befehl, die beiden Einsatz­hun­dert­schaften aus Hamburg abzuziehen. Ungläubig fragten die Zugführer mehrmals bei »Robbe 50«, der Funkzen­trale der Polizei, nach, ob sie den Einsatz­be­fehl tatsäch­lich richtig verstanden hätten. Nach dem Abzug lag der Häuser­block der vietna­me­si­schen Vertragsarbeiter_innen völlig ungeschützt da und die Angriffe erreichten gegen 22 Uhr ihren Höhepunkt. Während die ersten Wohnungen angezündet wurden, herrschte bei der Polizei­lei­tung weiterhin völlige Unfähig­keit : »Meiner Einschät­zung nach bestimmte Passi­vität das dienst­liche Geschehen« beschrieb ein Zugführer nachträg­lich die Atmosphäre. Ein Führungs­stab sei nicht vorhanden gewesen, statt­dessen habe man das Gefühl gehabt, Deckert würde eine »Ein-Mann-Show« in der »sicheren Etappe« ablie­fern. Nachdem telefo­nisch die Nachricht einging, dass bereits drei Wohnungen brennen würden, verließ Deckert das Büro und war auch nach zwanzig Minuten nicht zurück. Nachdem mehr und mehr alarmie­rende Anrufe eingingen und immer noch nichts geschah, ging ein Polizist schließ­lich den Einsatz­leiter suchen und fand ihn einige Räume weiter mit dem Staats­an­walt im Gespräch über die Frage, ob man auf ein dubioses Angebot der Rassis­tInnen zu einem 45-minütigen »Waffen­still­stand« eingehen solle. Erst nachdem ein Hamburger Hundert­schaft­führer darauf drängte, dass etwas getan werden müsse, erteilte Deckert schließ­lich den Auftrag, die Feuer­wehr beim Löschen zu unter­stützen.

Unfähig nur gegen Rechts

Während die rassis­ti­schen Randa­lie­re­rInnen so tagelang ungestört agieren konnten, sollte es mit der linken Großde­mons­tra­tion am nächsten Wochen­ende kein Pardon geben. Das Demons­tra­tions-Bündnis, dem neben Autonomen auch Parteien und Gewerk­schaften angehörten, wurde als »radikale und extre­mis­ti­sche Gruppie­rung« bezeichnet. Die »Gewalt­szene« aus der ganzen Bundes­re­pu­blik plane, sich in Rostock zu versam­meln.

Was tagelang nicht möglich war, klappte nun wie am Schnür­chen : Gefan­ge­nen­sam­mel­stellen wurden vorbe­reitet, Raumschutz im gesamten Stadt­ge­biet bereit­ge­stellt, Autobahn­kon­trollen einge­richtet. »Unter Berück­sich­ti­gung der Ereig­nisse der Vortage ist bei niedriger Einschreit­schwelle offensiv, konse­quent und unter Ausschöp­fung aller recht­li­chen Möglich­keiten einzu­schreiten. Störungs­ver­suche sowie Störungen sind konse­quent und unver­züg­lich zu beenden« hieß es in dem Einsatz­be­fehl. Als Polizei­kräfte standen nun 14 Wasser­werfer, sechs SEK Gruppen, 12 Hubschrauber und 27 Einsatz­hun­dert­schaften zur Verfü­gung.

Der Feind stand für die Polizei­füh­rung und das Innen­mi­nis­te­rium Mecklen­burg-Vorpom­merns weiterhin Links – der versuchte Mord an den   Vietnames_innen und über 150 verletzte Polizis­tInnen hatte daran nichts geändert.

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