Suche nach gemeinsamem Widerstand : Gezi-Jahrestags-Demo

Als am 31.Mai 2013 der Gezi-Park in Istanbul zum ersten Mal brutal von der Polizei geräumt wurde, sorgten die über soziale Netzwerke verbrei­teten Infos über die entfes­selte Staats­ge­walt und die über Mailing­listen verbrei­teten Hilfe­rufe schnell für inter­na­tio­nale Aufmerk­sam­keit. Am Nachmittag erreichten sie auch die „Blockupy”-Proteste in Frank­furt, wo sich gerade einige von uns aufhielten. Gemeinsam mit anderen setzten sie sich dafür ein, dass es dort noch am Abend zu einer ersten spontanen Solida­ri­täts­de­mons­tra­tion kam. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand absehen, dass es nur die erste einer ganzen Welle spontaner Soli-Demos sein würde, die als Reaktion auf fast jede neue Entwick­lung in der Türkei auch in deutschen Städten statt­fanden. Es war für viele eine neue Erfah­rung : Lange hatte die hier lebende tükisch­stäm­mige Commu­nity auf den Straßen nicht mehr derart für Furore gesorgt.

Istanbul, Jahrestag der ersten Gezi-Räumung, 31.05.2014

Istanbul, Jahrestag der ersten Gezi-Räumung, 31.05.2014

Am 31.Mai 2013 lagen gerade einige Wochen inten­siver Koope­ra­tion mit türkisch­stäm­migen Freun­dInnen bei der Vorbe­rei­tung und Mobili­sie­rung für den zwanzigsten Jahrestag des Brand­an­schlags von Solingen hinter uns. Bei der Demo, die eine Woche vor der ersten Räumung von Gezi statt­fand, waren über 2.500 Menschen in unserer Nachbar­stadt gewesen. Viele Jüngere hatten sich in der Zeit der Vorbe­rei­tung erstmals intensiv mit den Ereig­nissen des Jahres 1993 ausein­an­der­ge­setzt. Die Älteren erinnerten sich nicht nur an den Schock über die fünf toten Frauen und Mädchen der Familie Genç und das Entsetzen über den Anschlag der Nazis, sondern auch an die Wut, die an den Tagen nach dem Mehrfach­mord von türki­schen Menschen erstmals offensiv und teilweise auch militant auf die Straßen einer deutschen Stadt getragen worden war. Es war der Geist einer selbst­be­wußten und starken Commu­nity. Auch die bemer­kens­werte gemein­same deutsch-türki­sche Reaktion auf den Brand­an­schlag kam vielen wieder in den Sinn –  in manchen Stadt­teilen Wupper­tals organi­sierten sich 1993 beispiels­weise zum ersten Mal Nachbar­schafts­ko­mi­tees, die sich um den für notwendig gehal­tenen Schutz der Stadt­viertel vor Nachah­mungs­tä­tern kümmerten : Es brannte auffal­lend häufig in diesen Tagen. Wir werteten diese gemein­samen Aktionen des Jahres 1993 als starken antifa­schis­ti­schen Impuls, der einige der Quartiere der Stadt bis heute prägt. Dennoch tauchte auch die Frage auf, wo dieser gemein­same starke politi­sche Impuls in den zwanzig Jahren seit Solingen im Alltag eigent­lich geblieben war.

Dann kam Gezi : Das Gas, die „Tomas”, die Bilder und Videos aus Istanbul und Ankara. Plötz­lich schim­merte der verlo­ren­ge­gan­gene Geist wieder auf. Schon am Montag nach der ersten Räumung des Parks sollte sich zeigen, wieviel Kraft er haben könnte : An der spontanen Soli-Demo in Wuppertal nahmen fast 1.000 Menschen teil. Die Demo war anders als die routi­nierten Demos, die für gewöhn­lich organi­siert werden : Sie war laut – sehr laut – sehr zornig und sehr solida­risch. Bis zum Ende des Monats gab es beinahe im Wochen­rhythmus solche Kundge­bungen – auf ihrem Höhepunkt wurden am 16.6. – nach der noch bruta­leren zweiten Räumung des Gezi-Parks – inner­halb von nur zwölf Stunden mehr als 2.500 Menschen zu einer Demo in der Wupper­taler Innen­stadt mobili­siert. Die Demos durch­liefen dabei in etwa jene Prozesse, die auch aus der Türkei bekannt wurden : Zunächst eigenes Erstaunen über die große Menge Menschen, dann große Begeis­te­rung über eine unerwartet wieder­ge­fun­dene gemein­same Basis bei vielen, zuvor tief zerstrit­tenen, türki­schen Organi­sa­tionen und Menschen und schließ­lich auch in Wuppertal Repres­sion. Am 26.6. führten deutsche Behörden eine bundes­weite Razzia gegen Angehö­rige der « Anato­li­schen Födera­tion » durch, bei der auch unsere Freundin Latife zunächst verhaftet wurde. In der Folge zeigte sich, dass in den hekti­schen und schnellen Wochen des Juni 2013 die Zeit gefehlt hatte, die neu entstan­dene gemein­same Basis politisch auszu­bauen. Fürs erste zerfiel das breite Bündnis. Ähnli­ches berich­teten uns dann auch unsere Freun­dInnen in Istanbul, als wir sie im Spätsommer besuchten.

Raus aus dem Gas! Istanbul, 31.05.2014

Raus aus dem Gas ! Istanbul, 31.05.2014

Da wir uns in jenen Tagen schon zuvor auf die Suche des gemein­samen Wider­stands von 1993 gemacht hatten, versuchten wir deshalb, eine lokale Struktur anzubieten, die aus den spontanen Annähe­rungen ein tragfä­higes Funda­ment für die Zukunft machen könnte – mit der Zielset­zung, auf einem solchen Funda­ment auch für hiesige Kämpfe und  Ausein­an­der­set­zungen neue, gemein­same Kraft zu schöpfen. Dafür wäre es vor allem auch nötig gewesen, die deutsche Szene zu einem stärkeren Engage­ment zu motivieren und den oft verschwin­dend kleinen Anteil an « deutschen » Linken bei den Demons­tra­tionen zu vergrö­ßern. Im Rückblick muss leider gesagt werden, dass dieses Vorhaben geschei­tert ist. Nicht unbedingt, was eine wieder­ge­fun­dene Aktions­basis für die noch vorhan­dene türki­sche und kurdi­sche Linke angeht – hier haben sich seit dem Sommer 2013 tatsäch­lich neue Allianzen und Verträg­lich­keiten ergeben, für die es unser Angebot jedoch nicht brauchte. Doch was das Inter­esse « deutscher » Gruppen an der politi­schen Agenda ihrer Nachba­rInnen und Kolle­gInnen angeht, muss spätes­tens seit der Anti-Erdogan-Demo in Köln festge­stellt werden, dass da nichts kommt. Unter den wahrschein­lich bis zu 80.000 Teilneh­menden befanden sich nach Aussagen vieler keine 5% solida­ri­scher « Deutscher ». Einige der Fehlenden waren lieber zu einer deutschen Antifa-Demo nur wenige Blocks entfernt gegangen. Nichts ganz Neues : Schon beim Terror des NSU musste die Beobach­tung gemacht werden, dass migran­ti­sche Struk­turen von « deutscher » Seite relativ allein­ge­lassen wurden . Die vielen Hinweise türki­scher Freun­dInnen auf einen rassis­ti­schen Hinter­gund der Morde waren in den Jahren vor dem Auffliegen der angeb­li­chen Allein­tä­te­rInnen an den meisten Antifa-Struk­turen ebenso abgeprallt wie an der deutschen Öffent­lich­keit.

Menschen auf der Flucht vor der Polizei, Istanbul, 31.05.2014

Menschen auf der Flucht vor der Polizei, Istanbul, 31.05.2014

Beim gestrigen ersten Jahrestag der Gezi-Proteste ist es in der Türkei erneut zu schweren Angriffen von unifor­mierten und zivilen Polizisten und von AKP-nahen Schlä­ger­trupps auf Demons­trie­rende und Unbetei­ligte gekommen. Es gab wieder eine dreistel­lige Zahl an Verhaf­tungen und wieder viele auch Schwer­ver­letzte. Und noch immer sitzen vor allem revolu­tio­näre Kämpfe­rInnen, die während des Aufstands vor einem Jahr die protes­tie­rende Bevöl­ke­rung unter­stützten und beschützten, in nach deutschem Vorbild errich­teten Isola­ti­ons­zellen. Gleich­zeitig beginnen in diesen Tagen über 5.000 Prozesse gegen im letzten Jahr zwischen­zeit­lich Inhaf­tierte – und noch immer sterben Menschen an den Folgen ihrer Verlet­zungen : erst am 29.Mai verstarb die 64-jährige Elif Çermik nach über 150 Tagen im Koma.

Auch in Wuppertal wird es 2014 wieder eine Demons­tra­tion geben – am Jahrestag der ersten Soli-Demo für Gezi : Für Montag, den 2.6. rufen verschie­dene Gruppen dazu auf, sich in der Innen­stadt zu versam­meln (18 Uhr, Alte Freiheit): wieder werden Menschen kommen, demons­trieren und auf die Gescheh­nisse in der Türkei aufmerksam machen und wieder werden voraus­sicht­lich eher wenige « Deutsche » unter ihnen sein. Wir möchten im Anschluss an die Demo daher einen erneuten Versuch starten, mitein­ander ins Gespräch zu kommen : Woher kommt das Desin­ter­esse ? Wieso wäre es wichtig, mehr Anteil­nahme zu zeigen ? Wo gibt es Anknüp­fungs­punkte für zukünf­tiges gemein­sames Agieren gegen die Scheiße hier ? Zu der nur wenig vorge­planten Veran­stal­tung im ADA (Wiesen­straße 6) sind alle einge­laden.

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21 Jahre. Veranstaltung zu 1992/93

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Freitag, 16.Mai, ab 19 Uhr
Karawane-Laden in der Marien­straße, Wuppertal-Elber­feld (Ölberg)

1992 : Das Land ist noch immer besoffen von sich selbst. Berauscht vom Sieg des Westens. Benommen von der Wieder­ver­ei­ni­gung. Bedröhnt vom Gefühl, es wachse zusammen, was zusammen gehört.

Viele hatten gewarnt vor dem, was da zusam­men­wuchs. Im diesem Jahr tritt das neue alte Monster ans Licht. Hoyers­werda, Rostock-Lichten­hagen, Mölln. Bürger­In­nenmob gegen Migran­tInnen und « Ausländer ». Tote, Verletzte, Evaku­ierte, ein „national befreites” Hoyers­werda. Die Reaktion der Politik ist so prompt wie brutal : Mit den Stimmen der SPD kommt es bereits im Mai 1993 zu einer Grund­ge­setz­än­de­rung : Das Asylrecht wird faktisch abgeschafft. Am TagX kommt es in Bonn zu einem letzten verzwei­felten und vergeb­li­chen Aufbäumen, sogar mit Tretbooten wird versucht, das Regie­rungs­viertel zu errei­chen (siehe damaliges Presse­foto). Seither regiert das « Dublin»-Regime, seither ist es kaum mehr möglich, in Deutsch­land Asyl zu beantragen. Wenig später brannte in Solingen das Haus in der Unteren Werner­straße. Angezündet von Nazis. Fünf Menschen wurden dabei getötet. Zur Gedenk­demo zum zwanzigsten Jahres­tages kamen im letzten Jahr immerhin zweiein­halb tausend Menschen.

Wie berech­tigt die Warnungen vor dem zusam­men­wach­senden Monster waren, haben 21 Jahre seitdem bewiesen : Ableh­nung der Doppel­staat­lich­keit, tote Asylsu­chende, eine Nazi-Mörder­truppe, die unbehel­ligt Migran­tInnen tötet und mit Bomben verletzt, ein stetiger deutscher Druck zur Verschär­fung des europäi­schen Grenz­re­gimes mit unüber­seh­baren Folgen für die südli­chen EU-Länder und mit tausenden ertrun­kenen Menschen im Mittel­meer und unzäh­ligen Getöteten an den Landgrenzen der EU. Nächt­liche Depor­ta­tionen sind an der Tages­ord­nung und hunger­strei­kenden Flücht­lingen werden nachts die wärmenden Decken wegge­nommen.

Und sie machen einfach immer noch weiter : Verschär­fungen der Bedin­gungen für Geflüch­tete stehen weiter auf der Tages­ord­nung der Regie­rung. Gerade erst wurde in Berlin ein Referen­ten­ent­wurf vorge­legt, der den recht­li­chen Rahmen dafür schaffen soll, Geflüch­tete zukünftig jeder­zeit in Haft nehmen zu können. Nachdem mit der erneuten Verschär­fung von « Dublin II » zu « Dublin III » ein Unter­tau­chen für viele die einzige Option geworden ist, soll mit dem neuen Gesetz vorge­beugt werden. Unter­dessen nehmen Anschläge und Übergriffe auf Unter­künfte von Geflüch­teten wieder zu. Nazis und Politik agieren noch immer Hand in Hand.

Das so_ko_wpt und die Karawane Wuppertal wollen mit dieser Veran­stal­tung am 16.Mai einer­seits auf jene Zeit der Jahre 1992/93 zurück­schauen, als das Monster für alle sichtbar wurde, anderer­seits aber auch über die aktuellen Entwick­lungen infor­mieren und sprechen. Dazu wird – wie jeden dritten Freitag eines Monats – ein abend­fül­lender Film mit Vorfilm gezeigt. Der Entritt ist frei, für gewöhn­lich gibt es zu den Kinoabenden im Karawane-Laden auch etwas zu essen. Beginn ist diesmal ausnahms­weise schon um 19 Uhr (Film nach 20 Uhr).

Weitere Infor­ma­tionen

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