Which side are you on ? Demos in Solingen und Düsseldorf

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Panische Reaktionen auf Kontroll­ver­lust

Seit Wochen erleben wir den Versuch von Ordnungspolitiker*innen, Nazis und dem rassis­ti­schen Teil der Gesell­schaft durch Hetze und struk­tu­relle Gewalt in Massen­la­gern eine angeb­lich nicht zu bewäl­ti­gende « Flücht­lings­krise » zu konstru­ieren. Viele Medien, die noch im Sommer in ihren Leitar­ti­keln eine « Willkom­mens­kultur » ausmachten, betreiben die gesell­schaft­liche Polari­sie­rung inzwi­schen mit. Eine Stimmung, die vieler­orts einfach nicht « kippen » will, soll um jeden Preis zum « kippen » gebracht werden. Gleich­zeitig versucht speziell Bundes­in­nen­mi­nister De Maiziére durch ständige, gegen Geflüch­tete gerich­tete Anord­nungen und in schneller Abfolge neu formu­lierte Forde­rungen nach einer Asylrechts­ver­schär­fung vollendete Tatsa­chen zu schaffen, denen Parteien und Parla­mente hinter­her­he­cheln. Noch bevor die letzte Asylrechts­än­de­rung von Oktober diesen Jahres auf Verfas­sungs­ver­stöße geprüft werden konnte, wird bereits die nächste Verschär­fung gefor­dert, die wieder im Höchst­tempo durch Bundestag und Bundesrat geprü­gelt werden soll.

Es ist der Versuch der Verfechter von « Law and Order », eine Kontrolle zurück­zu­ge­winnen, die ihnen durch die Autonomie der Migra­ti­ons­be­we­gung im Sommer entglitten war. Lange Unvor­stell­bares wurde Realität : Viele Grenzen wurden massen­haft überwunden, die Abgabe von Finger­ab­drü­cken auf der Flucht­route obsolet, die « Dublin»-Regelung de facto zertrüm­mert und die Flüch­tenden wählten ihre Aufent­halts­orte oft selber. Selbst Deutsch­land, das zuvor von Italien und anderen Ländern die notori­sche Regis­trie­rung von Durch­rei­senden im Befehston einge­for­dert hatte, verzich­tete darauf und schuf statt­dessen teilweise gar Struk­turen, die den Menschen die Weiter­reise an ihren Zielort ermög­lichten. Für einige Wochen war die Vision eines oft beschwo­renen Europa ohne Grenzen beinahe Realität : Wer kommen wollte, kam, und wie und wo er oder sie leben wollte, konnte teilweise selber entschieden werden.

Die Reaktion in weiten Teilen der Gesell­schaft darauf war bemer­kens­wert : Seit September engagieren sich viele Tausende in den verschie­densten Projekten, immer mehr persön­liche Kontakte entstehen, und nach und nach entwi­ckelt sich auch ein breiterer Diskurs über das zukünf­tige Zusam­men­leben in den Städten und in den Nachbar­schaften. Und allen Polari­sie­rungs­ver­su­chen zum Trotz ist nicht zu erkennen, dass sich daran etwas ändert, die Gesell­schaft scheint mehrheit­lich bislang nicht bereit, sich in Abgren­zung und Hass treiben zu lassen. Jene, die ein autori­täres Ordnungs­system und ein völki­sches Identi­fi­ka­ti­ons­kon­zept vertreten, reagieren darauf panisch-aggressiv und zuneh­mend auch militant : Hunderte von Anschlägen auf geplante oder bewohnte Unter­künfte für Refugees und ein sich steigernder Strom rassis­ti­schen Hasses in ihren asozialen Netzwerken sprechen eine deutliche Sprache. Dabei werden sie auf der Straße von sich als « neue SA » gebenden Hooli­gans aber auch politisch massiv unter­stützt.

Das Ende der neoli­be­ralen « offenen Gesell­schaft »

Denn außer « Pegida » und AfD agieren von Beginn an auch Vertreter*innen der so genannten « bürger­li­chen » Parteien als willfäh­riger politi­scher Arm eines proto­fa­schis­ti­schen Mobs, indem sie dessen geifernde Gier nach Gewalt und Ausgren­zung, nach Abschre­ckung, Inter­nie­rung und Depor­ta­tion ausfor­mu­lieren und in immer neue Geset­zes­vor­schläge gießen. Diese Koope­ra­tion zwischen Nazis, Hooli­gans, « besorgten » Rassisten aus der gesell­schaft­li­chen Mitte und den ordnungs­po­li­ti­schen Hardli­nern vom Schlage De Maiziéres oder Seeho­fers dient dabei dem Zweck, einen gesell­schaft­li­chen « Notstand » zu konstru­ieren. Unter dem so entste­henden « Handlungs­druck » werden dann Verschär­fungen oder gar eine vollstän­dige Abschaf­fung des Asylrechts vorbe­reitet. Um die bis heute unkon­rol­lier­bare Bewegung der Migra­tion zu stoppen, wird dabei alles in die Wagschale geworfen, was gestern noch den Kern des herrschenden europäi­schen Identi­täts­kon­strukts ausmachte : Das Schengen-Abkommen, die offenen Grenzen, oder demili­ta­ri­sierte Zivil­ge­sell­schaften.

Vor dem Hinter­grund, dass viele der Anordungen und Geset­zes­än­de­rungen zunächst ohne größere konkrete Wirkung bleiben, da sie organi­sa­to­risch oder struk­tu­rell momentan gar nicht umsetzbar sind, lässt sich diese Politik nur durch die Motiva­tion erklären, jetzt Weichen­stel­lungen für eine autoritär-ordnungs­po­li­ti­sche Zukunft in die Wege zu leiten. Angesichts einer weiter zuneh­menden Migra­ti­ons­be­we­gung sollen die legis­la­tiven und gesell­schaft­li­chen Voraus­set­zungen dazu geschaffen werden, die « Festung Europa » auch mit Maßnahmen abzusi­chern, die jetzt noch von Menschen­rechts-Diskursen oder morali­schen Skrupeln verhin­dert werden. Das Europa, dass da geschaffen werden soll, wird mit dem bisher vorherr­schenden neoli­be­ralen Konzept einer « offenen Gesell­schaft » kaum noch etwas zu tun haben.

Die Ausein­an­der­set­zungen um weitere Geset­zes­ver­schär­fungen weisen daher weit über die tages­ak­tuell disku­tierten Zusam­men­hänge hinaus : Sie sind Teil eines wesent­lich größeren und folgen­schwe­reren Konflikts um gesamt­ge­sell­schaft­liche Ausrich­tungen, der selbst inner­halb der herrschenden Klasse nicht endgültig entschieden scheint. Dass die autori­tären Konzepte trotz nicht entschie­dener interner Ausein­an­der­set­zungen und trotz einer gesell­schaft­li­chen Mehrheit gegen autori­täre Abschot­tungs­kon­zepte aktuell durch­ge­setzt werden können, liegt an verschie­denen Faktoren. Neben der jeder demokra­ti­schen Entschei­dungs­fin­dung spottenden Geschwin­dig­keit, mit der die jeweils letzten Forde­rungen auf Zuruf umgesetzt werden, ist es vor allem die Verschie­bung der Diskus­si­ons­ebenen auf kurzfris­tigste und zum Teil mutwillig produ­zierte « Problem­lagen », die vom weitrei­chenden Inhalt der Entschei­dungen ablenken.

Which side are you on ?

Doch es ist auch eine seltsam gelähmte radikale antiras­sis­ti­sche Linke und eine weitver­brei­tete Unauf­merk­sam­keit vieler « zivil­ge­sell­schaft­li­cher » Akteure, die De Maiziére und Co in die Hände spielen. Viele, die mit einer immer bruta­leren Abschot­tung Europas ganz sicher nicht einver­standen sind, engagieren sich zur Zeit mit und für Geflüch­tete : Ihnen fehlt zwischen den Projekten und der Hilfe bei alltäg­li­chen Problemen einfach die Zeit für eine Ausein­an­der­se­tung. Doch mit dem Mitte November vorge­legten Entwurf des Bundes­in­nen­mi­nis­ters für ein erneut drastisch verschärftes Asylrecht sollte spätes­tens klarge­worden sein, dass dem ordnungs­po­li­ti­schen Amoklauf etwas entge­gen­ge­setzt werden muss.

Es entscheidet sich jetzt, ob Flucht nach Europa möglich bleibt, oder ob es zukünftig auch militä­risch gegen die « Autonomie der Migra­ti­ons­be­we­gung » vorgehen wird, so, wie es jetzt bereits an der Grenze zwischen Mazedo­nien und Griechen­land geschieht. In diesem Konflikt wird auch entschieden, ob die rassis­tisch-völki­schen Vorstel­lungen des Mobs in Zukunft offen die politi­sche Agenda bestimmen oder ob sie in jene muffig-miefigen Umgebungen zurück­ge­drängt werden können, aus denen sie sich in weiten Teilen des Landes in der Vergan­gen­heit nicht heraus­trauen konnten. Es ist notwendig, für eine Zeit gemeinsam die vielen Hilfs­pro­jekte und die sich oft zu selbst­ge­wissen Zonen antifa­schis­ti­schen Wider­stands zu verlassen : Lasst uns jetzt zusammen die « Innen­mi­nis­ter­krise » lösen ! Lasst uns das neue Asylrecht verhin­dern und die Autonomie der Migra­ti­ons­be­we­gung und die Flüch­tenden vertei­digen !

Wir rufen gemeinsam mit « welcome2wuppertal » für Samstag, 5.12. zur Teilnahme an zwei Demons­tra­tionen in der Region auf :

Die Autonomie der Migra­ti­ons­be­we­gung und die Flüch­tenden vertei­digen !
Innen­mi­nister stoppen ! Asylrechts­ver­schär­fung verhin­dern !

11 Uhr : Demons­tra­tion « Bunt statt Braun » in Solingen
15 Uhr : Demons­tra­tion « Öffnet die Grenzen ! » in Düssel­dorf
19 Uhr : w2wtal-Abend im Café Stil Bruch in Wuppertal

Um 11:00 Uhr begint in der Nachbar­stadt Solingen vor der Postfi­liale in der Birker­straße eine Demons­tra­tion des Bündnisses « Bunt statt Braun », zu der auch emanzi­pa­to­ri­sche Zusam­men­hänge aus Solingen aufrufen ; um 15:00 Uhr startet im Anschluss in Düssel­dorf eine Demons­tra­tion von Geflüch­teten und befreun­deter Initia­tiven unter dem Motto « Öffnet die Grenzen » vor dem DGB-Haus in der Fried­rich-Ebert-Straße. Abschlie­ßend besuchen wir den w2wtal-Abend in der « Refugees Welcome-Area Ölberg » im Café Stil-Bruch am Otto-Böhne Platz auf dem Elber­felder Ölberg, bei dem gemeinsam mit Geflüch­teten gekocht, gegessen und gefeiert wird (Beginn : 19:00 Uhr).

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Großes Interesse am Prozess gegen Latife

Der §129-Prozess gegen die so_ko_wpt-Mitstrei­terin Latife befindet sich inzwi­schen in der dritten Woche, am Donnerstag findet der mittler­weile fünfte Verhand­lungstag statt. Die « Freunde und Freun­dinnen von Latife », die den Prozess am OLG Düssel­dorf von Beginn an verfolgen und auf ihrer Website « Solida­rität mit Latife » dokumen­tieren, nutzten die Pause im Prozess für eine Infor­ma­tions- und Solida­ri­täts­ver­an­stal­tung am letzten Dienstag. Ziel war es, eine breitere Unter­stüt­zung und ein größeres Inter­esse für den Fall zu errei­chen, der droht, die Anwend­bar­keit des Paragra­phen 129 erneut auszu­weiten – um den Preis einer Inhaf­tie­rung einer Freundin.

Wir dokumen­tieren nachfol­gend den Bericht zur Veran­stal­tung am 14.7. im Café Stil-Bruch auf dem Ölberg. Der Text ist der Website zum Prozess entnommen.

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Bericht zur Info-Veran­stal­tung am 14.7.2015

Anti-Repres­sionar­beit ist ein undank­bares Tätig­keits­feld. Erfah­rungs­gemäß halten sich selbst viele Linke lieber davon fern, aus antizi­pierter Frustra­tion oder auch aus der Furcht heraus, mögli­cher­weise selbst in den Fokus der Ermittler zu geraten, wenn sie sich zu weit in die Nähe einer « wegen Terro­rismus » angeklagten Person begeben. Dass sich das Café Stil Bruch am Veran­stal­tungs­abend mit ca. dreißig Leuten recht gut füllte, war daher in gewisser Weise eine positive Überra­schung. Was auch daran liegen dürfte, dass Latife auf dem Ölberg (und insge­samt in Wuppertal) einfach eine beliebte und bekannte Person ist. Für ihre Freun­dinnen und Freunde verbieten sich die einfa­chen Selbst­schutz­me­cha­nismen, mit denen staat­liche Repres­sion sonst immer gerne als ein Problem « der anderen » konstru­iert wird, ohnehin.

§§129 : Paragra­phen zur Einschüch­te­rung

Die Veran­stal­tung begann mit einer Einfüh­rung zum § 129, der in Deutsch­land bereits 1871 einge­führt wurde und schon damals – neben den Sozia­lis­ten­ge­setzen – eine scharfe Waffe im Klassen­kampf von oben war. Der Paragraph wurde während des Kalten Krieges im Zuge des KPD-Verbots und später im « Deutschen Herbst » als Reaktion auf die militanten Aktionen der Stadt­gue­rilla weiter verschärft. Das in den 1970ern einge­führte Sonder­ge­setz, das sich hinter dem kleinen « a » des §129 a verbirgt, führte den nirgendwo genau definierten Begriff « Terro­rismus » in das Straf­ge­setz ein.

Eine Grund­lage für oft willkür­liche Ermitt­lungen, deren Rahmen bewusst uferlos gefasst ist, und vielfach der Einschüch­te­rung und Ausfor­schung dient : So ist es der Polizei im Rahmen einer einer laufenden 129er-Ermitt­lung u.a. erlaubt, Telefon- bzw. E-Mail-Überwa­chungen und Hausdurch­su­chungen durch­zu­führen oder auch Einblick in Konto­be­we­gungen vorzu­nehmen. Ebenso finden monate­lange Personen- und Wohnungs­ober­va­tionen statt und Peilsender werden an PKWs angebracht. Dass diese Maßnahmen ganz konkret angewendet werden, wurde im Laufe der Veran­stal­tung von Latife und ihrem RA Roland Meister bestä­tigt, als sie von den Überwa­chungen gegen Latife vor ihrer Festnahme 2013 berich­teten. Dabei wurde monate­lang jeder ihrer Schritte dokumen­tiert, zahllose Freunde und Freun­dinnen wurden gemeinsam mit ihr telefo­nisch überwacht.

Grund­lage für diese Ermitt­lungen gegen Latife war ein weiteres Sonder­ge­setz des StGB, das als § 129 b bekannt ist. Es wurde nach offizi­eller Lesart im Gefolge der Anschläge von 9/11 geschaffen – Pläne dazu gab es jedoch schon seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhun­derts. Es erwei­terte die Verfol­gung Verdäch­tiger auch auf eine behaup­tete Mitglied­schaft in (oder Unter­stüt­zung von) als „terro­ris­tisch“ definierten Organi­sa­tionen im Ausland. Eine Tätig­keit der benannten Gruppen in Deutsch­land war mit Einfüh­rung des « 129 b » keine Veraus­set­zung mehr für weitrei­chende Ermitt­lungen und Anklagen.

Mehrjäh­rige Haftstrafen für politi­sche Arbeit

Welche Gruppen von der « Terrorismus»-Definition erfasst werden, bestimmt eine « Terror­liste » der EU und der USA. Wie inter­es­sen­ge­leitet und fragwürdig die Einstu­fung von Organi­sa­tionen als « terro­ris­tisch » durch den EU-Minis­terrat ist, wird z.B. an der Tatsache deutlich, dass das faschis­ti­sche Bataillon Asow in der Ukraine nicht auf der Liste auftaucht, die gegen die IS-Milizen kämpfende kurdi­sche PKK aber immer noch genannt wird. Das führt bis heute zu Verfahren gegen hier lebende Kurd*innen die oft genug auch mit mehrjäh­rigen Haftstrafen enden.

Dasselbe « Schicksal » ereilt in der Regel Angeklagte, denen eine Mitglied­schaft in der türki­schen DHKP-C, bzw. deren Unter­stüt­zung vorge­worfen wird. Die Beweis­füh­rung für eine Mitglied­schaft bleibt fast immer diffus und selbst­re­fe­ren­tiell. Sehr häufig werden voran­ge­gan­gene Urteile aus anderen Verfahren als « Beweis » einge­bracht, oft wird auf Aussagen von in der Türkei Gefol­terten bzw. auf fragwür­dige Geheim­dienst­er­kennt­nisse zurück­ge­griffen. Dazu passte eine kurze Filmdoku zum ersten 129 b Prozess gegen linke Revolu­tio­näre, der 2009 gegen angeb­liche DHKP-C-Unter­stützer in Stutt­gart geführt wurde. Der atmosphä­risch dichte Film zeigte eindrück­lich, wie bedrü­ckend sich ein solcher « Terrorismus»-Prozess auch im Leben der Freun­dinnen und Verwandten der Beschul­digten nieder­schlägt, vor allem, weil die Angeklagten meistens für eine quälend lange Dauer vor und während des Prozesses einge­sperrt bleiben – oft genug unter den Bedin­gungen der Isola­tion. Die Veranstalter*innen sandten daher auch einen solida­ri­schen Gruß an jene vier Angklagten, die 2013 gemeinsam mit Latife verhaftet wurden und seither im Stamm­heimer Knast auf ihr Urteil warten müssen, das in Stutt­gart für Ende Juli erwartet wird.

Latife, die sich glück­li­cher­weise auf freiem Fuß befindet, berich­tete über den Ausgang jenes Stutt­garter « Pilot-Verfah­rens », dessen Urteil in späteren Prozessen immer wieder als « Beweis­mittel » diente – quasi als sich selbst bestä­ti­gendes « Perpe­tuum Mobile » : Die fünf Angeklagten erhielten Haftstrafen zwischen 3 Jahren bis zu 5 Jahren und vier Monaten. Auch damals stützte sich die Ankla­ge­be­hörde wie im Verfahren gegen Latife, auf die Konstruk­tion einer „Rückfront­or­ga­ni­sa­tionen im Ausland“, die der DHKP-C finan­ziell und ideolo­gisch zuarbeitet. Verur­teilt wurden die Angeklagten in Stutt­gart wohlge­merkt nicht für die Planung von Anschlägen, sondern weil sie etwa Geld gesam­melt, Veran­stal­tungen organi­siert und Kontakt zu Genoss*innen gehalten hatten.

Vom Zuschau­er­raum auf die Ankla­ge­bank

Latife erzählte bei der folgenden Gesprächs­runde noch einmal ausführ­lich von ihrem eigenen persön­li­chen und politi­schen Hinter­grund. Für sie war die Knast- und Anti-Repres­si­ons­ar­beit sehr prägend und bedeutsam, mit der sie als Angehö­rige eines linken Gefan­genen noch in der Türkei lebend begonnen hatte und die sie später auch in Deutsch­land bis zu ihrer eigenen Verhaf­tung im Juni 2013 fortge­setzt hatte. An vielen Prozess­tagen hatte sie in demselben OLG-Saal im Zuschau­er­raum gesessen, in dem nun das Verfahren gegen sie selbst statt­findet – viele der Richter*innen, Staatsanwält*innen und Justiz­an­ge­stellte kennen sie seit Jahren. Sie hat zahllose Kundge­bungen vor Knästen organi­siert, Briefe an Gefan­gene geschrieben und Öffent­lich­keits­ar­beit gemacht. Und sie berich­tete gerührt davon, wie viel ihr selbst es in den Wochen ihrer Haftzeit –  z.T. in Isola­ti­ons­haft sitzend – bedeutet hat, einen ersten Brief von einem Freund in den Händen zu halten, oder zu erfahren, dass ihre Freund*innen eine Kundge­bung organi­sierten.

Für sie als Antifa­schistin, Antiras­sistin und Revolu­tio­närin sei es auch immer wichtig gewesen, sich dort, wo sie lebt – also in Deutsch­land und in Wuppertal – gegen die schlechten und rassis­ti­schen Zustände zu wehren. Für sie war es z.B. selbst­ver­ständ­lich, zusammen mit deutschen und migran­ti­schen Antifaschist*innen gegen Nazis zu protes­tieren. So organi­sierte sie z.B. am 29.5. 2013 – vier Wochen vor ihrer Verhaf­tung – die Solinger Demons­tra­tion zum Gedenken an den Anschlag auf das Haus der Familie Genç mit, und betei­ligte sich an Wupper­taler Protesten gegen Nazi-Aufmär­sche. Außerdem organi­sierte sie u.a. zusammen mit der Alevi­ti­schen Gemeinde im Sommer 2013 mehrere Gezi-Solida­ri­täts­demos in Wuppertal und der Umgebung. All diese – ganz normalen und öffent­li­chen – politi­schen Aktivi­täten finden sich nun in der Anklage der Staats­an­walt­schaft wieder.

Latife hat aber auch eine ganze Menge gemacht, was öffent­lich weniger bekannt war. Zum Beispiel hat sie sich, nachdem sie 2009 zur Vorsit­zenden des Vereins Anato­li­sche Födera­tion gewählt wurde, mit anderen migran­ti­schen Frauen gegen die rassis­ti­sche Diskri­mi­nie­rung durch die deutsche Mehrheits­ge­sell­schaft und gegen die Unter­drü­ckung als Frauen durch ihre Männer organi­siert. Sie unter­stützte migran­ti­sche Familien, Frauen und Jugend­liche, organi­sierte Bildungs­ar­beit und inves­tierte viel Zeit und Energie in kultu­relle Aktivi­täten. Diese Aufzäh­lung an Aktivi­täten müsste eigent­lich bereits ausrei­chen, um die Unter­stel­lung der General­staats­an­walt­schaft, die Anato­li­sche Födera­tion sei nichts anderes als eine getarnte Umfeld­or­ga­ni­sa­tion der DHKP-C, zu demen­tieren.

Der NSU-Komplex als Kataly­sator der Anklage ?

Latife hob aller­dings noch eine weitere, nicht ganz unwich­tige Aktivität der Födera­tion hervor : Frühzeitig hatte diese nämlich lautstark öffent­lich gemacht, was inzwi­schen als offenes Geheimnis gilt : die Verwick­lung staat­li­cher Behörden, und insbe­son­dere des Verfas­sungs­schutzes, in die Mordserie des NSU. Und das tat der Verein bereits vor der Selbstent­tar­nung des NSU im November 2011, nachdem die Anato­li­sche Födera­tion Kontakt zur Familie eines der Mordopfer erhalten hatte. Im Januar 2012 startete die Anato­li­sche Födera­tion eine Kampagne zu der Mordserie. Sie betei­ligte sich an der Bündnis­demo « Verfas­sungs­schutz auflösen » im Dezember des gleichen Jahres in Köln und war zum Prozess­auf­takt gegen Zschäpe, Wohlleben und Co. mit einer Delega­tion in München. Es ist sicher nicht an den Haaren herbei­ge­zogen, dass sich manche Person in mancher Sicher­heits­be­hörde dadurch auf die Füße getreten fühlte. Nun steht also die Vorsit­zende eines migran­ti­schen Vereins, der schon sehr früh – lange bevor die meisten Medien aufmerksam wurden – die Kompli­zen­schaft des deutschen Staates mit den Nazi-Terro­risten benannte, selber wegen Terro­ris­mus­vor­würfen vor Gericht.

Im Anschluss an Latifes Schil­de­rung erläu­terte Rechts­an­walt Roland Meister seine Einschät­zung des Prozesses. Er kann auf reich­liche Erfah­rung mit § 129-Verfahren zurück­greifen ; Meister hat zahlreiche Verfahren gegen türki­sche und kurdi­sche Linke als Anwalt begleitet. Er hob nochmals hervor, dass der Paragraph syste­ma­tisch einge­setzt wird nicht um straf­bare Handlungen zu verfolgen, sondern dazu, Gesin­nungen und politi­sche Haltungen zu bestrafen. Er merkte an, dass die Staats­an­walt­schaft im Prozess gegen Latife aber noch über das übliche Ankla­ge­muster hinaus­geht. Denn die Anklage nimmt hier tatsäch­lich keinerlei Bezug auf irgend­eine Verbin­dung Latifes zur Türkei ; sie klagt ausschließ­lich vollkommen « normale » politi­sche Aktivi­täten in Deutsch­land an, wie die Teilnahme an Veran­stal­tungen oder die Anmel­dung von Demons­tra­tionen.

Abschlie­ßend machte Roland Meister noch einmal deutlich, wie deutsche Innen­po­li­tiker und Sicher­heits­be­hörden in mancher Hinsicht auch über das hinaus­gehen, was die oft als faschis­tisch geschol­tenen türki­schen Behörden bei ihrer Repres­si­ons­ar­beit tun : So wurde bspw. kürzlich in der Türkei ein Konzert der links­ra­di­kalen Musik­gruppe Grup Yorum zwar zwischen­zeit­lich verboten, ein türki­sches Gericht kassierte jedoch letzten Endes dieses Verbot. Das Konzert konnte wie geplant vor tausenden Zuhörer*innen statt­finden. In Deutsch­land wird der Verkauf von Eintritts­karten zu einem Grup Yorum-Konzert hingegen als Beweis­mittel für die Unter­stüt­zung einer terro­ris­ti­schen Verieni­gung in die laufenden 129b-Verfahren einge­bracht. Und die in nach wie vor frei in der Türkei erschei­nende Wochen­zei­tung « Yürüyü ? », die ebenfalls als DHKP/C-nah gilt, weil sie erst kürzlich die staat­li­chen Aussagen zur tödlich verlau­fenden Geisel­nahme eines Staats­an­waltes anzwei­felte, wurde im Mai durch das Bundes­in­nen­mi­nis­te­rium verboten.

Weitere Unter­stüt­zung erwünscht !

Der Auftritt Latifes bei der Veran­stal­tung hinter­ließ bei vielen der Teilneh­menden einen tiefen Eindruck : Entschlossen und gleich­zeitig authen­tisch schil­derte sie, wie die Ermitt­lungen und der Prozess Einfluss auf ihr Leben nehmen und wie sie versucht, sich davon nicht brechen zu lassen. Ihr weiterer Weg durch das Verfahren verdient jede Unter­stüt­zung, die wir geben können. Leider fand sich trotz zahlrei­cher Unter­stüt­zungs­be­kun­dungen – (die Spenden­kasse war am Ende gut gefüllt ; vielen Dank dafür!) – bislang noch niemand bereit, sich konkret an der weiteren Prozess­be­ob­ach­tung in Düssel­dorf zu betei­ligen. Wer Inter­esse hat, darf sich gerne an uns – Freun­dinnen und Freunde von Latife – wenden. Allen, die erstmals zu einem solchen Verfahren wollen, bieten wir an, beim ersten Mal gemeinsam nach Düssel­dorf zu fahren. (Kontakt)

Die nächsten Prozess­ter­mine sind am Montag, den 20.7., Donnerstag, den 23.7. und am Donnerstag, den 30.7.2015 am OLG in Düssel­dorf (Kapellweg 36).

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