Die WN vom 03.07.1993

 
Inzwi­schen liegt die dritte Ausgabe der „Wupper Nachrichten” nach dem Brand­an­schlag von Solingen in unserem Online-Dossier vor. Die Zeitung, die am 03.Juli 1993 erschien – also fünf Wochen nach dem Brand – beschäf­tigt sich noch immer intensiv damit. Im Mittel­punkt dieser Ausgabe stehen die gesell­schaft­li­chen Folgen des Nazi-Anschlags.
Dabei geht es in zwei Artikeln ausführ­lich um die in Wuppertal damals entstan­denen, selbst­or­ga­ni­sierten Nachbar­schafts­ko­mi­tees, aber auch um politi­sche Konse­quenzen, die damals gefor­dert und verspro­chen, aber niemals umgesetzt wurden. Auch die Vision einer „nicht­völ­ki­schen Staat­lich­keit” von Knut Unger erfüllte sich leider nicht. Im Gegen­teil : Der CDU unter Roland Koch gelang es einige Zeit später, mithilfe einer unerträg­li­chen rassis­ti­schen Kampagne sogar das Vorhaben einer doppelten Staats­bür­ger­schaft zu kippen.
Sehr inter­es­sant auch die persön­liche Einschät­zung von Öndar Erdem, der einen sehr kontro­versen und emotio­nalen Blick auf die Reaktion der türki­schen (und deutschen) Linken nach dem fünfa­chen Mord in Solingen wirft. Öndar legt Wert darauf, dass er heute eine etwas andere Sicht hat. Wir möchten die damalige Einschät­zung dennoch im Dossier dokumen­tieren. Eine aktuelle Sicht auf das damalige Geschehen ist bei Öndar angefragt.
Schließ­lich haben wir auch eine Meldung zu einem damals geplanten Abschie­be­knast in Wuppertal-Barmen einge­fügt. Damit wollte sich die Stadt auf die Verän­de­rungen nach dem geänderten Asylrecht vorbe­reiten. Während sich die ÖTV (die damalige Gewerk­schaft des öffent­li­chen Dienstes) haupt­säch­lich um ihre Gefäng­nis­wärter besorgt zeigte, ist das State­ment des seiner­zei­tigen NRW-Justiz­mi­nis­ters Krumsiek (SPD) ein Lehrstück in Sachen kaltem Zynismus.
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Nacht für Nacht auf Feuerwache

 

Wupper Nachrichten vom 03.07.1993
Titel­seite

Nacht für Nacht auf Feuer­wache

Wie blöd muß sich doch die Polizei vorkommen!”, sagt Hugo am Ende der zweiten Schicht. „Nacht für Nacht, Tag ein, Tag aus durch die Gegend gurken, jeden Passanten mißtrau­isch beäugen… Nichts passiert,aber trotzdem muß man aufmerksam bleiben, weil ja etwas passieren könnte ! Mich macht das marode. Mir ist ganz schwin­delig vor lauter Im-Kreis-Fahrerei.”

Nachts, wenn Dracula erwacht, die Fernseh­an­stalten ihre Sende­pausen einlegen, die letzten Kneipen­gänger nach Hause torkeln, klingeln seit einigen Wochen in diversen Elber­felder Haushalten die Wecker : Hugo (28), heute einge­teilt für die zweite Schicht, ging um Elf zu Bett und reißt sich um Halbdrei aus seinen Träumen. „Auch die Eulen der Minerva beginnen ja erst in der Nacht ihren weisen Flug”, denkt er beim Kaffee, „aber die sind bei aller Weisheit wohl nicht so müde”. Auf dem Weg zum Treff­punkt sinniert er, ob er nun ein Narr sei, sich trotz Vollaus­las­tung durch seinen Job nachts den Schlaf rauben zu lassen oder ein Weiser, was bekannt­lich nah beiein­ander liegt : „Wie doch alles inein­an­der­geht, wenn man den verord­neten Rhythmus durch­bricht, ohne einen alter­na­tiven rausch­haften Rhythmus dafür eintau­schen zu können. Ach trübsin­nige Vernunft, gutmei­nende Pflicht”, denkt Hugo und trifft zu seinem Erstaunen am verein­barten Treff­punkt zunächst auf einen jener Transits, mit denen türki­sche Männer, parallel und ohne Absprache mit den von Deutschen majori­sierten Initia­tiv­gruppen, ebenfalls nachts Streife fahren. Die Transit-Männer holen eine Thermos­kanne hervor und winken Hugo zum Kaffee, nehmen dann aber keine weitere Notiz von ihm, der doch so guten Willen zeigt. „Seid ihr auch so müde?” fragt Hugo um irgend­etwas zu sagen. „Geht, geht”, sagt ein Türke. „Sind das jetzt die Grauen Wölfe, über die auf unseren Stadt­teil­ver­samm­lungen immer so viel disku­tiert wird ? Für mich sehen die gar nicht nach Faschisten aus, aber heutzu­tage sieht man ja auch den Deutschen Faschisten ihr Gesin­nung nicht mehr an.” Hugo gibt seine ausge­trun­kene Tasse zurück, die Männer setzen sich mit ihrem Transit in Bewegung.

Hugo trifft auf Lisa und Marion, die heute die erste Schicht von Eins bis Drei bestritten. „Nichts beson­deres passiert, nur ein Transit kurvt rum, von den Türken”, berichten sie karg. Hugo ist heute mit Albert auf der Spätschicht allein. Nach einigem Hin und Her einigen sie sich, erstmals ein Auto zu benutzen. Schließ­lich kommt man dann viel öfter durch die einzelnen Straßen. Nach der dritten Rundfahrt bereits wird es Hugo ganz schwin­delig. „Immer im Kreis herum, das geht auf den Kreis­lauf. Wie gerne würde ich irgend­etwas Wütendes tun, irgend­eine eine Linie machen : Rennen, schmeißen, schießen, schreien.… Aber wir sind halt eine Nachbar­schafts­in­it­fa­tive und müssen uns anstrengen, daß man uns unsere braven Gesichter auch glaubt.”

Hugo ist nur einer unter jenen zahlrei­chen Menschen, die sich nach den ausIän­der­feind­li­chen Anschlägen der letzten Wochen spontan zu Nachbar­schafts­in­itia­tiven zusam­men­ge­schlossen haben und nun Stunden kostbaren Schlafes für die vage Hoffnung opfern, ihre Anwesen­heit in den Vierteln schrecke poten­ti­elle Brand­leger ab. „Stellen Sie sich schüt­zend vor Ihre auslän­di­schen Mietbürger”, hatten hochran­gige Politiker nach Solingen gefor­dert. Leute wie Hugo hätte es auch ohne diese Auffor­de­rung dazu gedrängt, etwas zu tun. Aber trotz eindring­li­cher Appelle, jeder Menge Flugzet­teln in den Hausfluren der Elber­felder Nord-Quartiere und durchaus freund­li­cher Aufnahme durch die Bewoh­ne­rInnen, sind es nicht gar so viele Menschen, die sich beim Gedanken an Deutsch­land in der Nacht um den Schlaf bringen lassen. Sich vor die Häuser bedrohter Nachba­rInnen zu stellen, dazu reicht die Zahl der freiwil­ligen Schutz­pa­trone bei weitem nicht. Gemäß der Devise „Wo die Nacht am tiefsten hängt, ist der Alltag am nächsten” betätigen sich die nachbar­schaft­li­chen Aktivistlnnen, aufge­teilt in Schichten und Reviere, als tritt­feste Nacht­ge­hende oder benzin­fres­sende Nacht­fah­rende. Letzteres geschieht oft mit schlechtem Gewissen.

Wenigs­tens in der Nacht sollte der Verkehr mal aufhören. Und zu Fuß riecht, hört und sieht man viel mehr”, meint Marion..Aber was tust du, wenn du auf die Nazis triffst ? Zu Fuß kannst du da nur noch die Beine in die Hand nehmen”, meint Hugo. „Wir sind doch nicht dazu da, uns mit Nazis anzulegen, sondern, um im Falle einer Gefahr Alarm zu schlagen”, sagt Lisa ; um den Hals trägt sie eine große engli­sche Triller­pfeife. Albert ist zwar eigent­lich anderer Meinung, aber sieht keinen Grund, den Pazifistlnnen zu wider­spre­chen. Hat er doch auch nach drei Nacht­wa­chen noch nicht einen Nazi im Licht­kegel seiner großen Taschen­lampe gefangen, nur ein bumsendes Pärchen hat er einmal aufge­stö­bert. Es wälzte sich zwischen der Hunde­scheiße im düsteren Park. „Offen­sicht­lich trauen sich die Rechten, die es auch in unserem Stadt­viertel gibt, seit Beginn der Nachwa­chen nicht mehr aus ihren Löchern”, erklärt Albert.

Hugo, Albert, Marion und Lisa - sie bewohnen das gleiche Stadt­viertel, aber vor dem ersten Treffen der Initia­tive kannten sie sich höchs­tens vom Sehen. Bei den gemein­samen Nacht­streifen lernen sie sich ein wenig besser kennen, reden über Gott und die Welt und die Struktur ihres Stadt­teile. Sie regis­trieren „gefähr­dete Objekte”, unabge­schlos­sene Haustüren, feuer­ge­fähr­li­chen Sperr­müll. In ihren Einschät­zungen, ihrem politi­schen Weltbild, ihrer Form des Umgangs mit Gewalt und Gefahr unter­scheiden sie sich deutlich. Aber auch wenn die Nacht­wa­chen wider einschlafen sollten, ist im Stadt­teil eine rudimen­täre Kommu­ni­ka­ti­ons­struktur entstanden. Manche Aktivistlnnen halten dies für wesent­li­cher, als die zweifel­hafte Schutz­funk­tion.

Nicht bewahr­heitet haben sich bislang verein­zelte Befürch­tungen von Leuten, die nicht an den Nachwa­chen betei­ligt waren : Die Sache könne sich verselbst­stän­digen, die Streifen könnten sich Polizei­ge­walt anmaßen, auf den StraBen würden diverse Banden in Konkur­renz zuein­ander die Kontrolle beanspru­chen. Die Polizei spricht zwar von „verein­zelten Überre­ak­tionen ganz zu Anfang der Wachen” und zu diesem Zeitpunkt machten auch Gerüchte die Runde, einzelne Autofahrer wären zum Vorzeigen ihrer Papiere gezwungen worden. Solche Einzel­taten stießen bei den Initia­tiven jedoch auf breite Ableh­nung. Die Polizei versi­chert, die Nacht­wa­chen wider­sprä­chen nicht ihrem neu aufge­legten Sicher­heits­kon­zept, das auf seine Art auf die Betei­li­gung und Beruhi­gung der auslän­di­schen Bewoh­ne­rinnen abzielt. So wurden alle auslän­di­schen Adressen Wupper­tals, Solin­gens und Remscheids erfasst. Die Polizei beabsich­tigt jetzt, alle einzelnen Quartiere aufzu­su­chen, und mit Hausmeis­terlnnen, Eigen­tü­me­rInnen oder Bewoh­nerlnnen notwen­dige Siche­rungs­maß­nahmen zu erörtern. Auch die Feuer­wehr hält Tips für mehr Sicher­heit bereit.

Totale Sicher­heit können aber weder die nachts immer noch spärlich vertre­tenen Polizistlnnen, noch die selbst­or­ga­ni­sierten Nacht­wa­chen bieten. Das hat eine Brand­stif­tung in der Nordstadt am 24.Juni gezeigt. Nach einem Einbruch in den Keller der Marienstr. 32 wurde Feuer gelegt. Die Bewoh­ne­rInnen bemerkten die Rauch­ent­wick­lung frühzeitig und konnten den Brand löschen. Es entstand nur geringer Sachschaden. Die Polizei hat noch keinen Tatver­däch­tigen ermit­telt, aber die Betrof­fenen sind verun­si­chert : „Bislang hat es mir hier am Ölberg sehr gut gefallen”, sagt ein spani­scher Bewohner des Hauses, „hier gibt es viele andere Ausländer und auch die Deutschen finde ich nett. Viele kenne ich vom Sehen. Ich weiß nicht was diese Nazis wollen. Wir haben dreißig Jahre hier die Drecks­ar­beit gemacht, Steuern bezahlt und neue Speisen einge­führt. Was wäre das für eine deutsche Kultur ohne die Ausländer?”

Knut Unger

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