Latife muss in Haft

Vor wenigen Tagen kam der knappe Bescheid des Bundes­ge­richts­hofs (BGH): Die von ihren Anwälten gut begrün­dete Revision zum Haftur­teil vom 16. Februar 2017 wurde zurück­ge­wiesen. Damit steht jetzt fest, dass Latife die angesichts der Vorwürfe ungeheu­er­liche Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten wohl antreten muss. Unsere Freundin und Gefährtin, mit der wir u.a. gemeinsam Gezi-Solida­ri­täts­demos und Gedenk­de­mons­tra­tionen zum Solinger Brand­an­schlag organi­siert haben, wird uns im alltäg­li­chen Struggle fehlen. Wir wissen aber, dass sie auch im Knast weiter­ma­chen wird. Wir werden sie mit der Situa­tion nicht alleine lassen.

Gleich­zeitig möchten wir anhand ihres Falls aber auch zeigen, in welcher Geschwin­dig­keit und mit welcher Härte die Repres­sion gegen politi­sche Aktivist*innen in Deutsch­land verschärft wird : Es sind eben nicht nur die geplanten neuen Polizei­ge­setze. Das, was Latife wider­fahren ist, hätte jede und jeden von uns trefen können. Wir dokumen­tieren hier die Presse­mit­tei­lung ihrer Rechts­an­wälte und der „Freunde und Freun­dinnen Latifes“ zur Ableh­nung des Revisi­ons­an­trags.

 

Presse­mit­tei­lung der Anwälte und Freun­dinnen und Freunde Latife Cenan-Adigüzel
Zur Ableh­nung des Revisi­ons­an­trags durch den Bundes­ge­richtshof (BGH)

Essen, Remscheid, Wuppertal, den 18. Juni 2018

BGH bestä­tigt Urteil gegen Latife Cenan-Adigüzel :
Schwerer Angriff auf demokra­ti­sche Rechte und Grund­frei­heiten

Vor ziemlich genau sechzehn Monaten, am 16.2.2017, wurde im Paragraph 129 a/b-Verfahren gegen unsere Mandantin und Freundin Latife Cenan-Adigüzel ein aus unserer Sicht skanda­löses Urteil seitens des Staats­schutz­se­nats des Oberlan­des­ge­richts Düssel­dorf (Akten­zei­chen : III – 5 StS 1/15 – OLG Düssel­dorf) wegen angeb­li­cher „Mitglied­schaft“ in einer „auslän­di­schen terro­ris­ti­schen Verei­ni­gung“ (gemeint ist die türki­sche DHKP-C /Revolutionäre Volks­be­frei­ungs­partei-Front) gefällt. In dem mehr als andert­halb Jahre dauernden Verfahren war der Haftbe­fehl nach einigen Monaten außer Vollzug gesetzt worden. Latife wurde zu drei Jahren und drei Monaten Haft verur­teilt. Über ein Jahr später hat der BGH nun die von uns einge­legte Revision verworfen. (Akten­zei­chen : BGH 3 StR 661/17) Das existenz­be­dro­hende Haftur­teil gegen die seit Jahren antifa­schis­tisch, antiras­sis­tisch und migra­ti­ons­po­li­tisch aktive Mutter zweier Töchter und Alten­be­treuerin aus Wuppertal hat somit jetzt Rechts­kraft und eine baldige Ladung zum Haftan­tritt ist zu erwarten.

Nachdem der BGH das Urteil des OLG Düssel­dorf bestä­tigt hat, kommt der Ausdeh­nung der Krimi­na­li­sie­rung und Diskri­mi­nie­rung progres­siver, antifa­schis­ti­scher und revolu­tio­närer Personen und Organi­sa­tionen auch eine Signal­wir­kung zu – sie reiht sich in die zu beobach­tende Rechts­ent­wick­lung in Deutsch­land ein. Mit dem Urteil erfolgt eine Erwei­te­rung des Verbots der DHKP-C und deren Krimi­na­li­sie­rung als sogenannte „terro­ris­ti­sche Organi­sa­tion im Ausland“ auf die migran­ti­sche Organi­sa­tion „Anato­li­sche Födera­tion“. Damit soll eine selbst­or­ga­ni­sierte migran­ti­sche Verei­ni­gung getroffen werden, die insbe­son­dere gegen Rassismus und für gleiche Rechte für Migranten in Deutsch­land tätig ist, die Solida­rität mit dem Wider­stand in der Türkei gegen die dortigen repres­siven Regime, wie aktuell das Erdogan-Regime, entwi­ckelt und ausge­prägt antifa­schis­tisch tätig ist. Es ist kein Zufall, dass Latife und die „Anato­li­sche Födera­tion“ bereits 2006 auf den rechts­ra­di­kalen Hinter­grund und eine Verstri­ckung von Teilen der deutschen Polizei und Verfas­sungs­schutz­ämter bei den Morden des „NSU“ hinwiesen – fünf Jahre vor dessen Selbstent­tar­nung.

Fragwürdig konstru­ierte „Mitglied­schaft“ illega­li­siert politi­sches Handeln

Im Hinblick auf das Urteil ist der von uns in der damaligen Presse­mit­tei­lung gemachten Aussage auch heute wenig hinzu­zu­fügen : Das Urteil gegen Latife ist juris­tisch wie mensch­lich vollkommen inakzep­tabel. Unsere Mandantin war – wie im Verfahren bewiesen wurde – in demokra­ti­scher Wahl mit knapper Mehrheit zur Vorsit­zenden der „Anato­li­schen Födera­tion“ gewählt worden. Der Vorwurf, Latife habe sich als Vorsit­zende dieses bis heute nicht verbo­tenen migran­ti­schen Verbands „pauschal der Mitglied­schaft in der DHKP-C schuldig gemacht“, konnte auch durch monate­lange Ermitt­lungen und in einem über andert­halb jährigen Verfahren nicht belegt werden. Diese Tatsache wurde vom Senat in der Urteils­be­grün­dung selber einge­standen. Grund­lage des Urteils war ledig­lich die durch das Gericht bestrafte politi­sche Gesin­nung von Latife, bzw. eine durch das Gericht unter­stellte angeb­liche innere Überein­stim­mung mit den Zielen der DHKP-C. So heißt es im Urteil : „Obwohl der Senat keine unmit­tel­baren Beweise für konkrete Vorgaben zur Programm­ge­stal­tung bzw. für Aktionen der Anato­li­schen Födera­tion durch – andere – Führungs­kader der DHKP-C gefunden hat, ist der Senat davon überzeugt, dass sich die Angeklagte in die DHKP-C einge­bunden hat.“

Erst durch diese Konstruk­tion einer Mitglied­schaft aus innerer Überein­stim­mung, die der bishe­rigen Recht­spre­chung zuwider­läuft, war es dem 5. Senat unter dem Vorsit­zenden Richter Schreiber möglich, Latife für völlig legale politi­sche Handlungen zu verur­teilen. Eine straf­bare Handlung oder ein „Eintritt“ in die DHKP-C konnte Latife nicht nachge­wiesen werden, obwohl gegen sie eine alle Bereiche ihres Lebens betref­fende Überwa­chung und Bespit­ze­lung durch­ge­führt wurde. Die Teilnahme an Infor­ma­tions- und Gedenk­ver­an­stal­tungen, die Durch­füh­rung mehrerer Konzerte der antifa­schis­ti­schen Band „Grup Yorum“, der Verkauf von Essen bei Festi­vals, die Arbeit mit migran­ti­schen Familien und Jugend­li­chen oder die Teilnahme an angemel­deten Demons­tra­tionen, (beispiels­weise während der „Gezi“-Solidarität im Sommer 2013 oder anläss­lich des 20. Jahres­tags des Solinger Brand­an­schlags im Mai 2013), wurden nur durch die fragwürdig konstru­ierte „Mitglied­schaft“ zu illega­li­sierten Handlungen im Auftrag einer „terro­ris­ti­schen Verei­ni­gung“.

Latife hatte erklärt, sie habe ausschließ­lich ihre demokra­ti­schen Rechte wahrge­nommen und alles, was sie getan habe, habe sie aus eigenem Entschluss und Überzeu­gung getan ; nichts sei in jemandes Auftrag oder auf Verlangen einer überge­ord­neten Organi­sa­tion geschehen. Ihre Erklä­rung blieb bei der Urteils­fin­dung komplett unberück­sich­tigt. Der logische Wider­spruch in der Urteils­be­grün­dung blieb unauf­ge­löst : Einer­seits sei die Wupper­ta­lerin selbst erklärt und aus eigenem Entschluss einer „terro­ris­ti­schen Verei­ni­gung“ beige­treten – anderer­seits beruhe aber ihr gesamtes politi­sches Handeln nicht auf „eigenem Entschluss“, sondern geschehe auf Weisung einer Organi­sa­tion.

Ein Merkmal dikta­to­ri­scher Regimes

Bis zum Urteil gegen unsere Mandantin bedurfte es für die Feststel­lung einer „Mitglied­schaft in einer auslän­di­schen terro­ris­ti­schen Verei­ni­gung“ nach Einschät­zung des BGH recht­lich hoher Anfor­de­rungen an die Beweis­füh­rung. Dies umso mehr, wenn sich Beschul­digte gar nicht in dem Land aufge­halten hatten, in dem die „terro­ris­ti­sche Verei­ni­gung“ aktiv ist. Bei Latife Cenan-Adigüzel ist das der Fall : Seit über dreißig Jahren in Deutsch­land lebend, besuchte sie die Türkei nur im Urlaub. Das OLG Düssel­dorf hat diese hohen Anfor­de­rungen an den Nachweis einer Mitglied­schaft mit seinem Urteil negiert und massiv in verfas­sungs­recht­lich garan­tierte Rechte, wie das Recht der Verei­ni­gungs- und Meinungs­frei­heit, einge­griffen. Er hat damit eine gefähr­liche Auswei­tung der Anwend­bar­keit der Paragra­phen 129 a/b StGB geschaffen.

Wenn eine „Einglie­de­rung“ in eine als „terro­ris­tisch“ einge­stufte Gruppe keine konkret nachweis­baren Schritte mehr voraus­setzt, sondern alleine die legale und immer öffent­liche Betei­li­gung an Aktivi­täten eines nicht verbo­tenen Verbands ausreicht, werden funda­men­tale und bislang geltende rechts­staat­liche Prinzi­pien außer Kraft gesetzt. Wenn legale Handlungen durch eine unter­stellte innere Überein­stim­mung mit den Zielen einer Organi­sa­tion willkür­lich und nachträg­lich zu illegalen Taten gemacht werden können, wird es unmög­lich, in Betrach­tung der Geset­zes­lage zu handeln. Politi­sche Betäti­gung ist dann ständig davon bedroht, mit dem vollen Spektrum der – im Zuge des „Kampfs gegen den Terror“ weiter ausge­bauten – staat­li­chen Überwa­chungs und Repres­si­ons­maß­nahmen konfron­tiert zu werden, weil eine „innere Überein­stim­mung“ ausreicht, eine umfas­sende „Terror-Ermitt­lung“ gegen politisch aktive Menschen und ihr Umfeld anzuordnen.

In Kombi­na­tion mit der Einfüh­rung der „drohenden Gefahr“ und des Gefähr­dungs­be­griffs durch neue Polizei­ge­setze, die weitrei­chende polizei­liche Maßnahmen bereits im Vorfeld erlauben, ohne dass eine Ermitt­lung wegen straf­barer Handlungen vorliegt, ist die durch das Urteil gegen Latife Cenan-Adigüzel erfolgte Auswei­tung der Anwend­bar­keit der Paragra­phen 129 a+b ein beängs­ti­gender Schritt in eine vollstän­dige Überwa­chung und Kontrolle der Gesell­schaft. Zukünftig können somit erste erheb­liche Maßnahmen der Überwa­chung und Kontrolle von „Gefähr­dern“ zunächst durch die Polizei angeordnet und dann von Staats­an­walt­schaften immer häufiger in ausge­dehnte „Terro­ris­mus­er­mitt­lungen“ überführt werden. Die durch eine nachträg­liche Straf­an­dro­hung geschaf­fene ständige Verun­si­che­rung, sich der Legalität eigenen Handelns nie sicher sein zu können, ist ein ein Merkmal dikta­to­ri­scher Regimes. Im Kern zielt dies auf die Einschüch­te­rung aller opposi­tio­neller Kräfte ab.

Stigma­ti­sie­rung als „Terro­ristin“

Was für politisch engagierte Menschen auf dem Spiel steht, wird an den persön­li­chen Folgen des nun rechts­kräf­tigen Urteils für unsere Mandantin deutlich. In erster Linie ist es die drohende Haftstrafe, die eine mitten im Berufs­leben stehende zweifache Mutter aus ihrem normalen Leben zwischen der Tätig­keit im Kiosk ihres Mannes und als Alten­pfle­gerin reißen wird. Ihre Haft wird dabei nicht nur für Latife bedeut­same Folgen haben : Auch ihre Töchter, ihr an einer Herzer­kran­kung leidender Ehemann und ihre Patient*innen müssen für eine lange Zeit ohne ihre Unter­stüt­zung auskommen.

Doch eine Verur­tei­lung als „Terro­ristin“ führt noch zu wesent­lich mehr Einschrän­kungen als die zunächst anzutre­tende Haftstrafe. Aufgrund der jetzt einge­tre­tenen Rechts­kraft des Urteils wird unsere Mandantin und Freundin zukünftig inter­na­tional als „Terrro­ristin“ in den entspre­chenden Listen geführt – mit allen denkbaren Schikanen durch die Behörden und mit allen mögli­chen Beschrän­kungen der Freiheit zur Ein- und Ausreise, etwa wenn sie verreisen will. Darüber­hinaus drohen Latife auch auslän­der­recht­liche Konse­quenzen, wie der Verlust ihrer Nieder­las­sungs­er­laubnis ; es können auch Aufent­halts­ge­bote gegen sie ausge­spro­chen werden, so dass sie Besuche in einer anderen Stadt bei den Behörden anmelden muss. Auch die Weiter­aus­übung ihrer beruf­li­chen Tätig­keit als Betreuerin alter und kranker Menschen ist zukünftig infrage gestellt.

Gleich­zeitig zeigt der Fall unserer Mandantin auch, was eine Auswei­tung der Anwend­bar­keit der Paragra­phen 129 a+b auf Menschen bedeutet, die nicht „Berufs­re­vo­lu­tio­näre“ sind, sondern die ein Leben zwischen Familie und Beruf führen. Ein langer Prozess wie der gegen Latife, kostet einen hohen sechs­stel­ligen Betrag. Nach einer Verur­tei­lung sind diese Kosten vom Angeklagten zu tragen. Was bei klandestin lebenden „Berufs­re­vo­lu­tio­nären“ dank Vorbe­rei­tung meist mit einer Übernahme der Kosten durch den Staat endet, bedeutet für Menschen wie Latife den vollstän­digen finan­zi­ellen Ruin. Die gegen immer mehr Menschen gerich­tete Drohung eines Paragraph 129-Verfah­rens verschafft dem Staat so über die Prozess­kos­ten­ord­nung indirekt ein zusätz­li­ches Einschüch­te­rungs­sze­nario gegen alle, die sich politisch betätigen.

Verfas­sungs­klage beabsich­tigt

Die Tatsache, dass all dies von unserer Mandantin und Freundin zu tragen sein wird, weil sie sich stets solida­risch zeigte, Rassismus und Faschismus entge­gen­stellte, Demons­tra­tionen organi­sierte oder selbst­ge­machte Börek bei Musik­fes­ti­vals verkaufte, spricht nicht nur jedem Rechts­emp­finden Hohn : Es lässt uns als Anwälte und Freund*innen auch nicht ruhen. In Absprache mit unserer Mandantin werden wir deshalb eine Verfas­sungs­klage gegen das Urteil vorbe­reiten, weil es die Organi­sa­tions- und Verei­ni­gungs­frei­heit funda­mental infrage stellt. Wir werden auch nicht zögern, Klage vor dem Europäi­schen Gerichtshof für Menschen­rechte einzu­rei­chen, weil wir in dem Urteil eine Gefahr für die Meinungs­frei­heit und die Freiheit zur politi­schen Betäti­gung sehen. Gerade vor dem Hinter­gund weiterer legis­la­tiver Verschär­fungen wie den neuen Polizei­ge­setzen in verschie­denen Bundes­län­dern, sehen wir es als unsere Pflicht an, die gleich­zeitig statt­fin­dende juris­ti­sche Auswei­tung der Repres­si­ons­on­stru­mente nicht unwider­spro­chen hinzu­nehmen. Es ist deshalb ermuti­gend, dass sich inzwi­schen gegen die Gesetz­ver­schär­fungen eine wachsende Bewegung für demokra­ti­sche Rechte und Freiheiten entwi­ckelt.

Latife wird sich nicht einschüch­tern lassen und weiterhin ihre Stimme gegen Ungerech­tig­keiten, Ausbeu­tung und Unter­drü­ckung erheben – oder – wie es der türki­sche Dichter Nazim Hikmet formu­lierte :

Sich einem andern zu verdingen, damit soll Schluß, endgültig Schluß sein,
schafft ab die Knecht­schaft des Menschen durch den Menschen !
Diese Einla­dung ist unser.
Leben ! Wie ein Baum, einzeln und frei
und brüder­lich wie ein Wald,
diese Sehnsucht ist unser !

Rechts­an­walt Roland Meister
Rechts­an­walt Yener Sözen
Freunde und Freun­dinnen Latifes

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Am „Tag X“ unsere Solidarität auf die Straße tragen !

Sechs Wochen Mobili­sie­rung, Infor­ma­tion, Film und Diskus­sion zum NSU-Komplex, Solingen 1993 und dem beide Themen verbin­denden rassis­ti­schen Normal­zu­stand liegen hinter uns. Und nach dem Jahrestag zum mörde­ri­schen Brand­an­schlag von Neonazis auf das Solinger Wohnhaus steht jetzt auch der zweite Termin bevor. Es dauert nicht mehr lange bis zur Urteils­ver­kün­dung im Prozess gegen einen Teil des „Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds“ in München. Dem Aufruf der Kampagne „Kein Schluss­strich!“ folgend, organi­sieren wir für den Tag der Urteils­ver­kün­dung eine Fahrt nach München um an der geplanten Demo teilzu­nehmen.

Was schon vorher klar war, wurde durch Schil­de­rungen von Opfer­an­ge­hö­rigen, Prozessbeobachter*innen und Rechts­an­wälten mit jeder Veran­stal­tung unserer Koope­ra­ti­ons­reihe „Kein Schluss­strich für Opfer und Zivil­ge­sell­schaft“ klarer : Am Tag des Urteils gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger und die beiden anderen Angeklagten ist es unsere Aufgabe, unsere Solida­rität mit den „Überle­benden des NSU“ (Neben­kla­ge­an­walt Mehmet Daima­güler), den Angehö­rigen der Opfer und all denen zu zeigen, die von Rassismus und rassis­ti­scher Gewalt in Deutsch­land betroffen sind. Das durch den Prozess als falsch entlarvte Verspre­chen einer lücken­losen Aufklä­rung, die Ermitt­lungen, bei der die Opfer zu Tätern gemacht werden sollten und das Desin­ter­esse der Öffent­lich­keit für die Betrof­fenen machen die Demons­tra­tion unserer Solida­rität zum Geringsten was wir tun können.

Wann wird das Urteil gespro­chen ?

In dieser Woche begannen die Plädoyers der ursprüng­li­chen Vertei­diger von Beate Zschäpe. Die drei Anwält*innen mit den „sprechenden Namen“, Herr, Stahl und Sturm, haben angekün­digt, dafür eine ganze Prozess­woche zu benötigen. Im Anschluss haben die Angeklagten das Recht auf eine letzte Bemer­kung. Danach stehen dem Straf­senat am OLG München unter dem Vorsit­zenden Richter Manfred Götzl theore­tisch sechs Wochen Zeit zur Verfü­gung, zu einem Urteil zu kommen. Niemand erwartet aber, dass das Gericht diese Zeit in Anspruch nimmt. Abhängig von der Frage, ob der Senat möglichst allen Nebenklagevertreter*innen die Gelegen­heit geben möchte, an der Urteils­ver­kün­dung teilzu­nehmen, ist der Beginn der Urteils­ver­kün­dung wahrschein­lich für einen Dienstag Mitte oder Ende Juni bzw. Anfang oder Mitte Juli zu erwarten. Frühest­mög­li­cher Termin wäre Dienstag, der 19.06. Ab diesem Zeitpunkt kann es jedoch auch jeder der folgenden Diens­tage sein, also der 26.06., der 03.07. oder auch der 10.07.

Wie fahren wir nach München ?

Der Bus aus dem Tal wird am Voraband der Urteils­ver­kün­dung so gegen 21 Uhr losfahren, um etwa neun Stunden später in den frühen Morgen­stunden recht­zeitig zur Demoteil­nahme in München anzukommen. Die Rückfahrt nach Wuppertal soll am gleichen Tag statt­finden, sodass alle Diens­tag­nacht wieder zurück sind. Es fallen Reise­kosten von ca. 30 Euro pro Person an. Wenn das für irgendwen ein Hindernis darstellt, kann darüber natür­lich geredet werden.

Wer mitfahren möchte, sollte sich verbind­lich per E-Mail an so_ko_wuppertal [at] subver​ti​sing​.org bis Mittwoch den 13.06 anmelden (bis Montag, 18.06. verlän­gert!). Bitte teilt uns mit, ob ihr an allen genannten Terminen oder nur an einem oder zwei Terminen könnt. Denkt daran, dass es sehr schnell gehen wird, sobald feststeht, wann der „Tag X“ tatsäch­lich ist. Verschie­bungen sind jeder­zeit möglich. Wir benötigen deshalb unbedingt eine funktio­nie­rende Antwort­adresse von euch. (Mehr zu unserer „Tag X“-Kampagne)

Und in Wuppertal ?

Für alle, die nicht mit nach München zur Demo fahren können, regen wir an, den vielen dezen­tralen Aktivi­täten die bundes­weit statt­finden, eine eigene lokale Aktion hinzu­zu­fügen. Für Berlin, Dortmund, Kiel, Leipzig oder Rostock sind jeweils Demons­tra­tionen am „Tag X“ angekün­digt, in anderen Städten z.B. in Göttingen, Freiburg oder Hamburg, wird zu Kundge­bungen oder Demos für den Samstag nach der Urteils­ver­kün­dung aufge­rufen. (Übersicht der bisher geplanten Aktivi­täten). Auch für Wuppertal können wir uns eine Aktion am Samstag nach der Urteils­ver­kün­dung statt­finden. Das würde auch jenen die nach München fahren, die Möglich­keit geben, teilzu­nehmen. Gründe für unseren Zorn auf den rassis­ti­schen Normal­zu­stand in Behörden und Gesell­schaft gibt es auch hier genug.

Auch in Wuppertal häufen sich die Berichte zu gezielt rassis­ti­schen Polizei­kon­trollen in migran­tisch bewohnten Vierteln, und „neue Rechte“ und Nazis versu­chen auch in Wuppertal Stimmung gegen Migran­tinnen und Migranten zu machen – z.B. am 16. Juni, wenn die militanten Nazis der Minipartei „Die Rechte“ ausge­rechnet am Tag des Ölberg­festes einen Marsch von Barmen nach Elber­feld planen. Und schließ­lich ist es auch in Wuppertal nicht bei rassis­ti­scher Hetze geblieben.

Rassis­ti­scher Mordver­such durch Nazis in Wuppertal

Wir erinnern an den rassis­ti­schen Mordver­such an einem 53-jährigen Besucher des Autonomen Zentrums mit türki­schen Migra­ti­ons­hin­ter­gund in der Nacht vom 11. auf den 12.4.2015 durch Nazis. Wir erinnern daran, dass die katastro­phalen Mecha­nismen der Ermitt­lungs- und Öffent­lich­keits­ar­beit der Behörden, die während des NSU-Verfah­rens zu Tage traten, im Umgang mit dem Mordver­such am AZ Wuppertal eine nahtlose Fortset­zung fanden. So wurden Ersthelfer und Freund*innen des Opfers von der Polizei zunächst beschul­digt, die Rettungs­sa­ni­täter an der Arbeit behin­dert und die Polizei am Tatort angegriffen zu haben. Die Vorwürfe, die von der Lokal­presse zunächst ungeprüft übernommen wurden, erwiesen sich während des Verfah­rens gegen die drei Täter später als haltlos. Auch in Wuppertal war die Ermitt­lungs­ar­beit zu den Tätern zunächst von vielen Ungereimt­heiten und Zufällen geprägt und ein politi­sches Motiv des Mordver­suchs wurde so lange es ging relati­viert. Die Verstri­ckungen der Täter in aktive und militante Nazistruk­turen aufzu­klären, blieb – wieder einmal - der Antifa überlassen. (Zum Nachlesen : Antifa­schis­ti­sche Kampagne Wuppertal 2015)

Auch der Umgang mit dem Opfer reiht sich bis heute in die mehrheits­ge­sell­schaft­liche Ignoranz gegen­über von rassis­ti­scher Gewalt Betrof­fenen ein. Der am AZ schwer verletzte Mann, der nach der Tat für Wochen im künst­li­chen Koma lag, leidet bis jetzt unter seinen erlit­tenen Verlet­zungen und kann seinen Beruf nicht weiter ausüben. Für die lokale Monopol­zei­tung „Westdeut­sche Zeitung“ und auch für die Stadt­spitze ist sein Fall jedoch keine Erwäh­nung wert. Auch dann nicht, wenn es um die Beschäf­ti­gung mit Nazige­walt und deren gesell­schaft­li­cher Aufar­bei­tung geht.

Das Opfer ist der Mehrheits­ge­sell­schaft keine Erwäh­nung wert

So wurde bespiels­weise für das Grußwort des Oberbür­ger­meis­ters Andreas Mucke bei der Eröff­nung der Ausstel­lung „Die Opfer des NSU und die Aufar­bei­tung der Verbre­chen“ nach einem Wupper­taler Bezug zur NSU-Mordserie gesucht ; der vor dem Autonomen Zentrums fast ermor­dete 53-Jährige fand trotz entspre­chender Erinne­rung an die Tat jedoch keine Erwäh­nung in Muckes Ansprache. Auch die „Westdeut­sche Zeitung“ schwieg über den Beinahe-Mord durch Nazi-Hooli­gans, als sie am 8. Mai über die Ausstel­lung im Barmer Rathaus berich­tete, obwohl sich der Artikel lobend über die Ausstel­lung äußert, weil „Die Opfer (…) im Mittel­punkt der Ausstel­lung [stehen].“ Dass der Wider­spruch, den Fokus der Ausstel­lung auf die Opfer des NSU zu loben und gleich­zeitig das Wupper­taler Opfer eines rassis­ti­schen Mordver­suchs zu „vergessen“, in der WZ-Redak­tion anschei­nend niemanden auffiel, zeigt vielleicht deutli­cher als alles andere, dass auch für Wuppertal festge­stellt werden muss, was im Münchener Aufruf der Kampagne „Kein Schluss­strich!“ formu­liert wird :

Rassismus ist ein gesell­schaft­li­ches Problem. Und das gilt wortwört­lich : Diese Gesell­schaft hat ein Rassis­mus­pro­blem, und zwar ein gewal­tiges. Rassismus wird dabei fälsch­li­cher­weise oft nur bei klassi­schen Neonazis verortet. Ebenso findet sich Rassismus auch jenseits der sogenannten neuen Rechten, die sich hinter den Bannern von AfD, Pegida und Konsorten versam­meln. Rassismus findet sich in Ämter- und Behör­den­praxis, Polizei­ar­beit, der Art wie gesell­schaft­liche Ressourcen und Teilhabe verteilt werden. Rassismus findet sich in markt­schreie­ri­schen Wahlkampf­auf­tritten wie auch in subtil und vornehm formu­lierten Leitar­ti­keln. Rassismus zieht sich durch die ganze Gesell­schaft. Lasst uns in den Wochen bis zur Urteils­ver­kün­dung in München gemeinsam darüber beraten, wie ein Wupper­taler Beitrag zu den dezen­tralen Aktionen zum „Tag X“ aussehen kann, mit dem wir auch in unserer Stadt von rassis­ti­scher Gewalt Bedrohten zeigen, dass sie sich nicht alleine wehren müssen.

Was immer dabei heraus­kommt : Wir sehen uns auf der Straße – in München oder Wuppertal !


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