Kobane ? Völkermord ? Häh ?

Irgendwie setzt sich der Eindruck fest, dass kaum wer von den Entwick­lungen rund um die kurdi­sche Stadt Kobané Notiz nimmt. Wahrschein­lich liegt das daran, dass immer noch viele nicht genug wissen um die Nachrichten einordnen zu können – abgesehen davon, dass manche vor antiim­pe­ria­lis­ti­schen Brettern vorm Kopf einfach keine klare Sicht haben (ihr glaubt nicht was für volli­di­tio­sche E-Mails mir ins Postfach rauschen…). Wenn ich damit jemandem jetzt Unrecht tue, bitte ich um Entschul­di­gung.

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Also, kurze Infos zur Lage :

Seit mehreren Tagen (seit dem 15.09.) läuft im „Herzen von Rojava”, rund um die 500.000 Einwohner*innen-Stadt Kobane, eine Offen­sive des IS. Gehört hat mensch hier in der Regel nur von den „Flücht­lings­strömen”, die in der letzten Zeit die Grenze zur Türkei überquert haben.

Die Richtung der Flücht­lings­be­we­gung ergibt sich aus der Tatsache, dass Kobane als Zentrum der Selbst­ver­tei­di­gungs­kräfte der YPG gleich­zeitig von Westen, Osten und Süden angegriffen wird. So steht den Menschen nur der Nordweg (in Richtung türki­sche Grenze) offen.

Die Kräfte der YPG kämpfen mit Handfeu­er­waffen und Kalash­ni­kovs gegen schwere Waffen des IS. Dieser verfügt u.a. angeb­lich über 50 erbeu­tete US-Panzer, mit denen er die Guerilla-Stellungen beschießen. Seit Diens­tag­abend scheint der Belage­rungs­ring um Kobane so gut wie geschlossen, dier IS soll laut einigen Meldungen bis auf zwei Kilometer an die Stadt heran­ge­rückt sein. Andere Meldungen geben den Bewohner*innen der Stadt (noch etwa 200.000, nicht nur Kurd*innen, auch Araber*innen und Geflüch­tete) noch einen Puffer von sechs Kilome­tern. In jedem Fall scheint der IS mittler­weile 75% der Region zu kontrol­lieren. Die Hilfe­rufe von dort in den sozialen Medien klingen mehr als verzwei­felt. Der IS hat für den Fall der Einnahme der Stadt bereits Massen­tö­tungen angekün­digt und führt diese in den schon eroberten Dörfern rund um Kobane an den dort verblie­benen Menschen auch bereits aus.

In den Medien erfährt man vom angekün­digten Völker­mord in Kobané so gut wie nichts.
Warum ist das so ?

Eine mögliche Antwort ist, dass Kobané das Herz von Rojava ist, und Rojava (der syrische Teil Kurdi­stans) von linken Kräften verwaltet wird, während die ebenfalls durch den IS gefähr­deten Gebiete im Nordirak, die von Mehsut Barzani regiert werden, mit der NATO und der Türkei engstens zusam­men­ar­beiten. Tatsäch­lich handelt es sich bei dem weitest­ge­hend basis­de­mo­kra­tisch verwal­teten, multi­eth­ni­schen und multi­re­li­giösen Rojava um eines der wenigen Verwal­tungs­ge­biete weltweit, mit dem staats­ferne Linke Sympa­thien verbinden können. Sowohl die PYD als auch die PKK haben offiziell das Konzept „Staat” zu den Akten gelegt. Das soll nicht heißen, dass Öcalan jetzt Autonomer ist, aber trotzdem wird das Leben in Rojava eher lokal und dezen­tral organi­siert. Mit diesen Struk­turen schafften es die Menschen der Gegend bislang, im syrischen Bürger­krieg und gegen die radikal-islamis­ti­schen Gruppen stand­zu­halten. Wenn die westli­chen Medien über die drama­ti­sche Lage des Gebietes nichts berichten, liegt das sicher auch im Inter­esse der Türkei, die ein selbst­ver­wal­tetes, linkes kurdi­sches Projekt Rojava wesent­lich mehr fürchtet als die nordira­ki­sche Autono­mie­re­gion unter Barzani, mit der die AKP-Regie­rung in vielen Berei­chen zusam­men­ar­beitet – vor allem auch gegen die PKK.

Bis heute gibt es auch immer wieder Berichte über perso­nelle und logis­ti­sche Unter­stüt­zung der Türkei für den „Islami­schen Staat”. Hinzu kommt, dass die Türkei die Grenze nach Kobané nach Gutdünken schließt und öffnet. Für Flücht­linge ist sie zwar meist offen, kurdi­sche Kämpfer*innen in Gegen­rich­tung werden jedoch teils mit Waffen­ge­walt am Grenz­über­tritt gehin­dert. Manche sprechen auch von einem Deal der Türkei „Geiseln gegen Kobané” (bezüg­lich der vom IS freige­las­senen türki­schen Geiseln).

Es sollen doch Waffen an „die Kurden” gelie­fert werden.
Warum ist deren Lage trotzdem so verzwei­felt ?

Weil die Aussage schlicht falsch ist. Waffen­lie­fe­rungen gab es nur an die Peschmerga, und die Peschmerga sind Barzanis Armee im Nordirak. Während die Guerilla der YPG nach dem Fall Mosuls den Peschmerga von Syrien aus sehr schnell zur Hilfe eilte, ist jetzt aller­dings von einer Unter­stüt­zung Rojavas durch die Peschmerga nichts bekannt. Mehr noch : Die Peschmerga haben sich dem Westen gegen­über verpflichtet, gelie­ferte Waffen keines­falls an die PKK oder die YPG weiter­zu­rei­chen. Das versteht die Bundes­re­gie­rung unter „Zuver­läs­sig­keit”. Die YPG Kämpfer*innen haben inzwi­schen nicht einmal mehr Munition für ihre Kalash­ni­kovs.

Die Amis führen doch jetzt Luftschläge aus.
Wird das den „Islami­schen Staat” nicht aufhalten ?

Nein. Bisher nicht. Die Luftschläge der „Koali­tion” haben in den letzten Tagen sollten den IS haupt­säch­lich aus Raqqa vertreiben. Das hat bei den IS-Kämpfern eine Bewegung in den Norden Syriens ausge­löst. Und das ist da, wo Kobané liegt. Die Front um Kobané blieb weitge­hend ohne Unter­stüt­zung. Insge­samt sind die Opera­tionen für Kobané bisher eher kontra­pro­duktiv. Die „Koali­tion” bombar­diert lieber Ölfelder, die unter Kontrolle des IS sind, als die Angreifer der Stadt Kobané. Meinungen, nach denen die IS-Milizen ledig­lich versu­chen, sich vor den US-ameri­ka­ni­schen Luftan­griffen in der Türkei in Sicher­heit zu bringen, erscheinen unsinnig. Die Medien des IS lassen diesen Schluss nicht zu, auch der Belage­rungs­ring um Kobané spricht dagegen. Solche Aussagen sind daher eher den von der vorgeb­li­chen militä­ri­schen Stärke begeis­terten USA-Fans zuzuschreiben.

Ist das also doch imperia­lis­ti­sche Kackscheiße ?

Ja klar doch. Ohne einen antiim­pe­ria­lis­ti­schen Ansatz lassen sich die Gesamt­ent­wick­lungen in der Region nicht verstehen. Vor allem das Erstarken der IS-Terror­gruppen und deren Rolle im syrischen Bürger­krieg ist etwas, das auch auf die Kappe der üblichen Verdäch­tigen geht. Anderer­seits : Ist die Ursachen­for­schung derzeit die dring­lichste Aufgabe ? Spielt das in dem Moment wirklich eine große Rolle, in dem sich die Dinge ganz offen­sicht­lich verselbst­stän­digt haben und die Auslö­schung eines linken Experi­ments und von zehntau­senden Menschen bevor­zu­stehen scheint ? So, wie die Sache aussieht, werden die Kurd*innen den IS wahrschein­lich nur aus Kobane heraus­halten können, wenn sie effektiv unter­stützt werden. Und da wir keine inter­na­tio­nalen Brigaden auf die Füße bekommen, bleiben offen­sicht­lich nur die US-Ameri­kaner als militä­ri­sche Hoffnung. Bisher verhallten alle Appelle nach Unter­stüt­zung ungehört. Wenn die „Imperia­listen” nicht helfen, wird das dann eine wahrhaft imperia­lis­ti­sche (Nicht-) Handlung sein, die den türki­schen Mittel­macht-Inter­essen dient. Alles scheiße kompli­ziert eben.

Was tun ?
Mist. Wir können eigent­lich gar nix tun. Nur in Gedanken bei den Menschen in Rojava sein, die um ihr Leben fürchten.

Aber : Inter­es­siert euch ! Bildet euch ! Haltet euch auf dem Laufenden ! Unter dem Hashtag #Kobane bekommt ihr bei Twitter das meiste mit – dort wird auch englisch gepostet, und zwar haupt­säch­lich von kurdi­scher Seite. Die IS-Ärsche und ihre Fans nutzen für den Kampf um Kobané eigene Hashtags.

Weitere Infos :
roarmag​.org/​2​0​1​4​/​0​9​/​k​o​b​a​n​e​-​r​o​j​a​v​a​-​i​s​-​t​u​r​key
civaka​-azad​.org/​e​i​n​-​a​b​g​e​k​a​r​t​e​t​e​s​-​s​p​i​e​l​-​m​i​t​-​d​e​r​-​t​u​e​r​kei
facebook​.com/​p​e​r​s​p​e​k​t​i​v​e​k​u​r​d​i​s​tan

P.S. Es ist eigent­lich zusammen mit dem so_ko_wpt eine Infover­an­stal­tung zu Rojava und zum Kampf gegen ISIL in Vorbe­rei­tung. Gedacht war daran, soetwas für Mitte Oktober zu organi­sieren. Derzeit sieht es aber so aus, als käme sie zu spät – traurig aber wahr.

Update (25.09., am Nachmittag):

Nachdem es in der gestrigen Nacht ganz schlimm aussah und die Erobe­rung Kobanés durch den IS ausge­machte Sache schien, gab es im Laufe des heutigen Tages die erfreu­liche Nachricht, dass die YPG-Kämpfer*innen den von Süden vorge­tra­genen Angriff des IS zunächst zurück­schlagen konnten. Die Angriffe des IS setzen sich den Tag über fort. Dabei soll es in der späten Nacht auch tatsäch­lich zu Unter­stüt­zung aus der Luft gekommen sein, laut Presse­mit­tei­lung des YPG-Sprechers aller­dings „sehr spät” und auch „nicht ausrei­chend”. Während sich die deutsche Vertei­di­gungs-Uschi zusammen mit Barzani in Erbil für die Unter­stüt­zung der Peschmerga feiern lässt, fehlen der YPG noch immer schwere Waffen zur Vertei­di­gung. Die Munition wird immer knapper. Die Lage bleibt unver­min­dert drama­tisch.

Peschmerga und im Irak befind­liche PKK-Truppen haben mittler­weile verlauten lassen, dass sie nicht zu Hilfe kommen können, weil ihnen der Weg nach Kobané abgeschnitten ist. Die YPG fordert die Peschmerga verzwei­felt auf, ihr Waffen zur Verfü­gung zu stellen. Die Aufmerk­sam­keit in Deutsch­land wächst langsam. Für Samstag wird zu einer landes­weiten Kundge­bung für Kobane/Rojava in Düssel­dorf aufge­rufen.

Update (02.10., am Nachmittag): Kobané vor dem Fall

Vor einer Woche konnte noch gehofft werden, dass die Untätig­keit der „Koali­tion” auf einer mangelnden Kenntnis beruhen könnte. Das ist inzwi­schen Geschichte – die Lage in und um Kobané hat die Weltöf­fent­lich­keit erreicht, die Medien berichten ausführ­lich über die drama­ti­sche Situa­tion. Heute, am 2.Oktober, muss deshalb festge­stellt werden, dass die sich selbst als „freie Welt” titulie­renden Länder taten- und gnadenlos in eben jenen Medien einfach zusehen, wie die Verteidiger*innen einer antipa­tri­a­chalen, multi­eth­nisch und multi­re­li­giösen Gemein­schaft im Dauer­be­schuss der Angreifer verbluten.

Die Selbst­ver­tei­di­gungs­kräfte der YPG haben sieben weitere Tage mit völlig unter­le­genen Mitteln stand­ge­halten. Seit einigen Tagen liegt Kobané unter schwerem Artil­le­rie­be­schuss, gegen den sich die Belagerten nur durch Selbst­mord­kom­mandos wehren können, die einzelne Panzer der IS-Milizen ausschalten. Die immer wieder herbei­ge­re­deten Luftschläge der „Koali­tion” gegen den IS haben zu keiner Zeit wirklich statt­ge­funden. Auch eine Bewaff­nung der kurdi­schen Verteidiger*innen gab es nicht. Ledig­lich eine einzelne moderne „Milan”-Panzerabwehrwaffe konnte offenbar in die Stadt gebracht werden. Seit gestern versucht die YPG die Zivilisten aus der Stadt in Sicher­heit zu bringen, nachdem das letzte Dorf vor Kobané in die Hand des IS gefallen ist. Berichten zufolge sollen 80% der zivilen Bevöl­ke­rung rausge­kommen sein und nun in der Geröll­wüste vor der türki­schen Grenze auf eine Einrei­se­er­laubnis in die Türkei warten. Die in der Stadt verblie­benen Kämpfer*innen bereiten sich auf einen Straßen­kampf „bis zur letzten Kugel” vor. Seit 14:00 Uhr werden Meldungen verbreitet, Kobané sei gefallen. Sie sind noch unbestä­tigt.

Die Türkei hat in den letzten Tagen massiv Truppen und Panzer an die syrische Grenze bei Kobané verlegt. Heute soll das türki­sche Parla­ment über den Einsatz von Boden­truppen entscheiden, die in Rojava entlang der Grenze eine „Puffer­zone” errichten sollen. Wie nicht anders zu erwarten, wird dies erst geschehen, wenn die kurdi­sche Selbst­ver­tei­di­gung aufge­rieben wurde. Um diesen Prozess zu beschleu­nigen, hat die Türkei spätes­tens gestern ihre Grenze für IS-Kämpfer geöffnet, die von der Türkei aus nach Kobane wollen. Unter­dessen hat der inhaf­tierte PKK-Führer Abdullah Öcalan verlauten lassen, dass der Friedens­pro­zess zwischen der türki­schen Regie­rung und der PKK definitiv beendet sei, wenn in Kobané ein Massaker geschehe. Im kurdi­schen Amed kam es aus Solida­rität mit den Belagerten in Rojava heute zu einem General­streik, der von Ausein­an­der­set­zungen zwischen Demons­trie­renden und „Sicher­heits­kräften” überschattet wurde.

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Bericht aus Süd-Kurdistan : Nach dem Fall von Mossul

Eine Freundin von uns befindet sich zur Zeit in Süd-Kurdi­stan, also im nördli­chen Irak, nur wenige Kilometer von Mossul entfernt. Die Millio­nen­stadt Mossul wurde vor einigen Tagen von den radikal-islamis­ti­schen Milizen der « ISIL » («Islami­scher Staat im Irak und der Levante») besetzt. Während die Situa­tion im Irak nach anfäng­li­cher Schock­starre der Medien inzwi­schen in den Top-Nachrichten und Sonder­sen­dungen angekommen ist, gibt es zur Lage in der autonomen kurdi­schen Region kaum Berichte. Dabei spitzt es sich auch in den kurdi­schen Gebieten insge­samt weiter zu. Wir haben uns daher entschlossen, aus den verschie­denen E-Mails unserer Freundin einen Bericht zusam­men­zu­stellen.

Nachdem die nahge­le­gene Millio­nen­stadt Mossul in die Hand der radikal-islamis­ti­schen « ISIL » (ISIS) gefallen ist,  ist die Situa­tion in der gesamten Region extrem gefähr­lich. Durch den flucht­ar­tigen Rückzug der iraki­schen Armee aus Mossul hat der Terror der islamis­ti­schen Kämpfer nun auch den Norden des Irak und die Grenze zur bislang einiger­maßen stabilen Region des autonomen kurdi­schen Gebietes erreicht. Letzteres ist das Ziel zehntau­sender – die Medien sprechen von bis zu 500.000 – auf der Flucht befind­li­cher Menschen. Entgegen den Beteue­rungen der « ISIL » fallen immer wieder auch Zivilisten den Terror­gruppen zum Opfer. Deren Ankün­di­gung, die Menschen hätten « nichts zu befürchten, solange sie nicht Schiiten » seien, spricht nicht nur für einen unglaub­li­chen Zynismus, sondern auch für eine menschen­ver­ach­tende Ideologie. Ihre Bereit­schaft zur brutalen Ermor­dung Unbewaff­neter haben sie schon seit geraumer Zeit im benach­barten kurdi­schen Gebiet des bürger­kriegs­er­schüt­terten Syrien («Rojava») unter Beweis gestellt. Immer wieder kam es in Rojava zu fürch­ter­li­chen Massa­kern an der kurdi­schen Zivil­be­völ­ke­rung durch ISIS-Millizen. Die Mörder der ISIL/ISIS kommen auch aus Europa und Deutsch­land. Die Rekru­tie­rungen laufen über soziale Netzwerke im Internet und bei regel­mä­ßigen Veran­stal­tungen. Unsere Freundin stellte beim Betrachten der Bilder von der Beset­zung Mossuls fest, dass ihr die Fahne der Islamisten erst kürzlich begegnet ist : Die Security des islamis­ti­schen Predi­gers Pierre Vogel trug bei seinem Auftritt in Wuppertal das gleiche Logo auf ihren Shirts.

Die Vertei­di­gung der kurdi­schen Bevöl­ke­rung in Syrien musste dabei alleine von den Guerillas der YPG geleistet werden. Sie sind die Selbst­schutz­ein­heiten der kurdi­schen Gebiete in Syrien. Die Peschmerga, die Streit­kräfte des autonomen kurdi­schen Gebietes im Irak, hatten hingegen in der Vergan­gen­heit versucht, sich möglichst aus den Konflikten in der Region heraus­zu­halten. Jetzt – nach der Flucht der regulären iraki­schen Armee – stellen die Peschmerga die einzige Schutz­macht für die Zivil­be­völ­ke­rung des nördli­chen Irak dar. Ungeachtet tradi­tio­neller Konflikte zwischen arabi­scher und kurdi­scher Bevöl­ke­rung des Nordirak versu­chen auch viele arabisch­stäm­mige Flücht­linge die Region um Arbil und Dohuk zu errei­chen. Nachdem sie anfäng­lich die Grenze noch passieren konnten und größten­teils bei Familien und privat unter­ge­bracht wurden, haben die Peschmerga inzwi­schen begonnen die herein­strö­menden Menschen aus Furcht vor einsi­ckernden Islamisten zu kontrol­lieren. Die Folge sind lange Schlangen Wartender an der Grenze zwischen Irak und Süd-Kurdi­stan. Ein Teil der Geflüch­teten lebt jetzt in hastig errich­teten Zeltla­gern. Viele mussten die knapp 100 Kilometer zwischen Mossul und Süd-Kurdi­stan zu Fuß zurück­legen, weil ihnen verboten wurde, ihre Autos mitzu­nehmen, oft haben sie wenig mehr mitnehmen können, als das, was sie gerade dabei hatten als die Milizen der ISIL in die Stadt kamen.

UNHCR-Übersicht der Flüchtlingsströme im Irak

UNHCR-Übersicht der Flücht­lings­ströme im Irak

Die sich bislang blockie­renden Verhält­nisse auf kurdi­scher Seite – so ließ der Präsi­dent der autonomen kurdi­schen Region im Irak, Masud Barzani von der Demokra­ti­schen Partei Kurdi­stans (KDP), in der Vergan­gen­heit auch schon die Grenze zu Rojava für Flücht­linge aus Syrien schließen – geraten jedoch in Bewegung. Die Rivali­täten zwischen der Autono­mie­re­gie­rung und den Struk­turen in Rojava, die der kurdi­schen Arbei­ter­partei PKK nahestehen sollen, treten angesichts der Lage in den Hinter­grund. Nachdem unsere Freundin am Dienstag (10.06.) noch berich­tete, ein Angebot der YPG an die Peschmerga zur gemein­samen Vertei­di­gung gegen die Islamisten sei ohne Antwort aus Süd-Kurdi­stan verblieben, wurde einen Tag später von der kurdi­schen Guerilla, die über bis zu 40.000 Kämpfe­rInnen verfügen soll, verlaut­bart, dass sie ab sofort zusammen mit den Peschmerga koordi­niert die Vertei­di­gung der kurdi­schen Bevöl­ke­rung in ganz Kurdi­stan übernommen haben. Das wurde wenig später auch in den Nachrich­ten­sen­dungen Süd-Kurdi­stans offiziell bestä­tigt.

Die Überwin­dung der starken Rivalität zwischen der KDP Masud Barzanis und der PKK-nahen Guerilla YPG ist aufgrund der für Süd-Kurdi­stan drama­ti­schen Lage wichtig. Auch wenn es dort noch nicht zu direkten Kampf­hand­lungen gekommen ist, stellt der Fall Mossuls ein ernstes Problem dar. Die gesamte Versor­gung der Region ist von Wegen abhängig, die über Mossul führen und die deshalb die Haupt­schlag­ader des autonomen kurdi­schen Gebietes sind. So berich­tete unsere Freundin schon am Montag von ersten Engpässen in der Benzin­ver­sor­gung, die kurz darauf tatsäch­lich zusam­men­brach. Tausende Menschen befanden sich am Dienstag auf der vergeb­li­chen Suche nach Treib­stoff. Einge­zwängt zwischen dem zuneh­mend umkämpften Mossul und der Türkei, sitzen die Menschen Süd-Kurdi­stans in einer Art Falle, denn über die Situa­tion an der Grenze zur Türkei gibt es wider­sprüch­liche Meldungen. Einmal heißt es, die Grenze sei in beide Richtungen geschlossen, ein anderes Mal wird das bestritten. Auch Berichte über erste Gefechte an der Grenze ließen sich von Süd-Kurdi­stan aus nicht bestä­tigen. Eine koordi­nierte kurdi­sche Aktion und ein Versuch, die Versor­gungs­wege nach Süden freizu­kämpfen scheint jeden­falls dringend notwendig. Erste Erfolge zeichnen sich ab, die Stadt Kirkuk soll inzwi­schen unter kurdi­scher Kontrolle stehen, es gibt aller­dings auch erste ernst­hafte Verluste bei den Peschmerga. Die Versor­gungs­lage der Bevöl­ke­rung hat sich mittler­weile offenbar auch wieder etwas stabi­li­siert. In einer der letzten E-Mails aus der Region hieß es, dass zumin­dest Benzin wieder zu bekommen ist. Für die flüch­tende Bevöl­ke­rung in den Auffang­la­gern spitzt sich die Lage jedoch, trotz einset­zender inter­na­tio­naler Unter­stüt­zung, täglich weiter zu.

Auch über die Möglich­keit eines militä­ri­schen Eingrei­fens der Türkei wird in Süd-Kurdi­stan zuneh­mend speku­liert, nachdem die Islamisten türki­sche Staats­an­ge­hö­rige als Geiseln genommen haben. Was ein solches Eingreifen für das autonome kurdi­sche Gebiet im Nordirak und den kurdi­schen Abwehr­kampf in Rojava bedeu­tete, ist nur sehr schwer einzu­schätzen. Denn trotz einer in der Vergan­gen­heit teils erstaun­li­chen wirtschaft­li­chen Zusam­men­ar­beit Barzanis mit Erdogans AKP-Regie­rung gibt es ein tiefsit­zendes Mißtrauen. Auf kurdi­scher Seite ist dies nicht zuletzt in einer bis vor kurzem fortge­setzten türki­schen Unter­stüt­zung für die islamis­ti­schen Gruppen in Syrien begründet, einige sehen hinter der Entwick­lung im Irak sogar einen türki­schen Master­plan am Werk. Die Türkei wiederum fürchtet eine weitere kurdi­sche Autonomie an ihrer Grenze. Die jetzt bekannt­ge­wor­dene Zusam­men­ar­beit von Peschmerga und YPG wird türki­sche Natio­na­listen auf den Plan rufen.

Die sich überschla­genden Ereig­nisse fallen in eine Zeit, in der die Entwick­lung in der Region und in Kurdi­stan ohnehin an einen kriti­schen Punkt gelangt war –  nur wenige Tage, nachdem der Waffen­still­stand zwischen der türki­schen Regie­rung und der PKK ernst­lich infra­ge­ge­stellt wurde. Nachdem bei fried­li­chen Massen­pro­testen gegen die Errich­tung neuer Militär­stütz­punkte in Kurdi­stan in Lice mehrere Demons­trie­rende durch das türki­sche Militär getötet worden waren, schien der « Friedens­pro­zess » an ein Ende gelangt. Zunächst sah es zwar danach aus, dass der im Gefängnis auf der Insel Imrali einsit­zende Führer der PKK, Abdullah Öcalan, die von der PKK-Leitung verkün­dete Mobili­sie­rung der Kämpfe­rInnen bei einem Gespräch mit kurdi­schen Politi­kern mit einem Macht­wort gestoppt habe. Doch nur einen Tag später gab es Gerüchte, dass dem State­ment von Öcalan « draußen » nicht mehr geglaubt wird. Statt­dessen sollen direkte Gespräche zwischen PKK-Führung und Öcalan gefor­dert worden sein – ohne die Vermitt­lung durch die kurdi­schen Parteien HDP und BDP. Bis zu solchen Gesprä­chen soll der Waffen­still­stand nicht mehr gelten. Neben der kriege­ri­schen Zuspit­zung im Irak und dem fortge­setzten grausamen Krieg in Syrien droht also auch in der Türkei selber wieder eine militä­ri­sche Ausein­an­der­set­zung zwischen türki­scher Regie­rung und PKK. Ganz Kurdi­stan befindet sich also in einer explo­siven Situa­tion.

Bei alldem ist die Lage in den südkur­di­schen Städten derzeit fast surreal fried­lich – trotz der zuvor geschil­derten Probleme. Unsere Freundin schreibt von einem für sie nur schwer nachvoll­zieh­baren Vertrauen auf die Stärke der Peschmerga und in die Regio­nal­re­gie­rung. Uns bleibt für sie und die betrof­fenen Menschen in Kurdi­stan erstmal nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass dieses Vertrauen gerecht­fer­tigt ist.

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