Fast vierzig Prozent Zugewinn – und nun ?

Eine lokale Analyse und Betrach­tung für Wuppertal zur Bundes­tags­wahl am 24.September von der Website „Politik in der Rechts­kurve“.

Wuppertal liegt voll im westdeut­schen Trend der Ergeb­nisse zur Bundes­tags­wahl vom 24. September. Die rechte AfD kann in Wuppertal die Anzahl ihrer Stimmen in nur vier Monaten verdop­peln. Auch die LINKE legt zu, „Wohlfühl­kieze“ bleiben stabil, sind aber nicht immun gegen rechte Zugewinne. Die Ost-West-Diffe­renz in der Stadt ist verfes­tigt.

Das Ergebnis der AfD in Wuppertal liegt mit 10,8% ziemlich exakt auf dem Niveau der Ergeb­nisse für die Partei in Westdeutsch­land (10,7%), aber über dem Ergebnis in NRW (9,4%), (im Osten Deutsch­lands wählten 21,7% die AfD). In NRW gehört Wuppertal neben vielen Ruhrge­biets­städten damit zum oberen Mittel­feld der rechten Ergeb­nisse. Deutlich besser schnitt die AfD ledig­lich im Norden des Ruhrge­biets ab (in Essen II 15%, in Duisburg II 15,4%, in Gelsen­kir­chen 17%). In Münster (4,9%), Köln (5%-8%) und in Düssel­dorf I (7,9%) bekam die AfD hingegen unter­durch­schnitt­lich wenige Stimmen. Angesichts eines eher wenig präsenten AfD-Wahlkampfs in der Stadt ist es ernüch­ternd, dass sich Wuppertal in den Gesamt­trend der Wahl einreiht. Im Gegen­satz zu anderen Städten ist es hier nicht gelungen, den Trend zu rechter Politik zu brechen. Und es wird nicht einfa­cher werden. Nach dieser Wahl muss einkal­ku­liert werden, dass die AfD auch im lokalen Umfeld zukünftig deutlich präsenter sein wird. Von den etwa 400 Mio. Euro, die ihr durch Parla­ments­zu­ge­hö­rig­keiten in den nächsten vier Jahren zufallen, wird ganz sicher auch ein Teil nach Wuppertal fließen.

Nach der Landtags­wahl im Mai konsta­tierten wir „13.574 Wupper­ta­le­rInnen wählen rechts“. Das waren verdammt viele, doch die Zahl ist seit dem Mai nochmals deutlich größer geworden. Bei der Bundes­tags­wahl am 24.September machten 20.645 Menschen ihr Kreuz bei einer der rechten Parteien. Alleine auf die AfD entfielen 18.931 Stimmen. Im Vergleich zu den 12.586 Stimmen bei der Landtags­wahl sind das 50% mehr. Auch wenn die höhere Wahlbe­tei­li­gung bei der Bundes­tags­wahl berück­sich­tigt wird, ist das eine Steige­rung um 37,8% – geht man davon aus, dass die Wahlan­teile gleich­blei­bend verteilt worden wären. (Im Landes­schnitt von NRW hat die AfD nach dieser Berech­nung ebenfalls 38% Stimmen im Vergleich zur Landtags­wahl hinzu­ge­wonnen.) Diese Steige­rung um fast 40% in nur vier Monaten ist besorg­nis­er­re­gend und löst Fragen nach der Ursache aus. Handelt es sich um einen bundes­po­li­ti­schen Effekt, oder ist die eindeutig rechts positio­nierte Bundes-AfD wählbarer, als die sich unter Markus Pretzell gemäßigter gebende Landes-AfD ? Dagegen spricht das eher stabile, jedoch margi­nale NPD-Ergebnis, die nach 567 Stimmen im Mai immer noch von 423 Nazis in Wuppertal gewählt wurde.

AfD kann überall dazuge­winnen

Bei Betrach­tung der Wupper­taler Einzel­er­geb­nisse fällt zunächst auf, dass die AfD in allen Wahlbe­zirken, also in allen Milieus und allen Lagen, in ähnli­cher Weise dazu gewinnen konnte. Negativ inter­pre­tiert bedeutet das, dass auch Viertel mit noch im Mai sehr schlechten Ergeb­nissen für die Partei nicht immun gegen den Rechts­ruck sind. Positiv betrachtet, flacht sich die Kurve der Zugewinne in den bisher als AfD-Hochburgen geltenden Wahlbe­zirken zuneh­mend ab. Ergeb­nisse von mehr als 20% bleiben die Ausnahme (ihr bestes Ergebnis erzielte die AfD mit 24,76% in Ronsdorf-Ost, Wahlbe­zirk 210, 52 Stimmen). Dabei gibt es einzelne Ausreißer, bei denen sich ein genauerer Blick auf die Bedin­gungen lohnen würde. Im Wahlbe­zirk 114 (Steinweg, Barmen 86 Stimmen) ist es der Partei gelungen, mit 22, 75% vor der SPD stärkste Partei zu werden, die hier noch bei der Landtags­wahl fast doppelt soviele Stimmen wie die AfD bekam. (SPD Landtags­wahl : 32,12%; Bundes­tags­wahl : 22,49%)

Auffällig ist die nach wie vor geringe Wahlbe­tei­li­gung in jenen Wahlbe­zirken, in denen die AfD beson­ders gute Ergeb­nisse erzielen konnte. Vielfach liegt dort die Betei­li­gung an der Wahl nach wie vor unter 50%. Ebenso auffällig ist die nach wie vor bestehende Ost/West-Diffe­renz. Mit wenigen Ausnahmen wie Ronsdorf-Ost oder in Vohwinkel (ausge­rechnet im Wahlbe­zirk 88 am Elfen­hang) befinden sich alle Bezirke mit überpro­por­tional hohen AfD-Anteilen in Wupper­tals Osten ; in Barmen, Oberbarmen, Langer­feld und Hecking­hausen. Dass es nicht ein hoher Anteil an Bewoh­ne­rInnen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund ist, der beispiels­weise für die Ergeb­nisse in Oberbarmen verant­wort­lich ist, zeigt das Beispiel der im Norden Elber­felds liegenden Gathe, die in Lokal­presse und von AfD-Hetzern oft als Hort des Bösen skanda­li­siert wird. Hier konnte die AfD nur 7,23% holen (42 Stimmen), weit hinter die LINKE, die an der Gathe zweit­stärkste Partei wurde (24,44%, 142 Stimmen).

Alle Einzeler­ge­nisse zeigen, dass die beiden großen Parteien SPD und CDU in ihren Hochburgen jeweils deutlich verloren haben. Doch während im Osten davon vor allem die AfD profi­tierte, war es in einigen Wahlbe­zirken des Elber­felder Nordens die LINKE. Sie konnte zum Beispiel im Wahlbe­zirk Schles­wiger Straße, im Herz des noch bei der Landtags­wahl zwischen rechts und links heftig umkämpften Bezirkes um den Platz der Republik, diesmal mit 24,44% stärkste Partei werden (152 Stimmen). Die AfD erhielt hier ledig­lich 40 Stimmen oder 6,43% (fast gleich­blei­bend zu Mai). In anderen Wahlbe­zirken am Opphof sieht das Wahler­gebnis nicht so gut aus. Auf der östli­chen Seite des Platz der Republik, am Engeln­berg, konnte die AfD die LINKE jetzt als dritte Kraft ablösen (AfD 13,38%, 84 Stimmen, die LINKE 11,62% 66 Stimmen). Die „andere Seite“ der Elber­felder Nordstadt bleibt also, bei konstant niedriger Betei­li­gung und teils katastro­phalen Ergeb­nissen für SPD und CDU,  ein umkämpftes Gebiet.

Der Ölberg bleibt nach wie vor Ort linker Hegemonie. Die LINKE konnte bei schon vorher guten Werten auch bei der Bundes­tags­wahl nochmals deutlich zulegen. Am Hombü­chel (29,67%, 214 Stimmen), in der Marien­straße (28,20%, 247 Stimmen) und auch in der Helmholtz­straße (26,37% 173 Stimmen) wurde sie stärkste Partei. Die AfD kam in diesen Bezirken auch diesmal nicht über die 5%, konnte aber dennoch überall an absoluten Stimmen rund 30% zulegen. Das sind im Vergleich zur Landtags­wahl im Mai jeweils zwischen sieben und zehn in der unmit­tel­baren Nachbar­schaft wohnende Wähle­rInnen mehr. Auch auf dem Ölberg gibt es Wahlbe­zirke mit größeren AfD-Zugewinnen. Sie konnte im Wahlbe­zirk 10 (das Gebiet Ekkehard­straße, Grüne­walder Berg und der untere Teil des Ölberges) zum Beispiel ihr Ergbnis von 2,91% auf 6,37% steigern. Gleich 18 Nachba­rInnen mehr als im Mai haben hier nun rassis­tisch gewählt, bei der Landtags­wahl waren es nur 13 gewesen.

Der Kampf gegen Rechts wird in den Vierteln geführt

Das macht deutlich, dass auch die Gegenden, in denen sowohl im Alltag als auch bei den Wahlen bislang kaum etwas vom Rechts­ruck der Gesell­schaft zu spüren gewesen ist, nicht immun dagegen sind. Es wäre ein Fehler zu glauben, die oft so genannten „Wohlfühl­kieze“ als dauer­haft gesichert gegen rassis­ti­sche Tendenzen anzusehen. Denn was bedeutet „Wohlfühl­kiez“ über (noch) beruhi­gende Wahler­geb­nisse hinaus ? Wenn die Wahlbe­zirke betrachtet werden, in denen die AfD eher wenig Zustim­mung findet, dann lässt sich häufig ein großes zivil­ge­sell­schaft­li­ches Engage­ment auch außer­halb der Wahlpe­ri­oden feststellen. Viele Initia­tiven und Inter­ven­tionen – nicht zuletzt auch linke – sind für ein Klima verant­wort­lich, in dem sich eine Kritik am Bestehenden eher konstruktiv artiku­liert. Diese Alltags­ar­beit jedoch ist im wahrsten Sinn des Wortes viel zu oft prekär – unhono­riert, freiwillig und sie wird sehr oft mit zu wenigen Aktiven geleistet. Kleine Änderungen der Lebens­um­stände der Betei­ligten oder der Umgebung können ausrei­chen, die Arbeit in den Kiezen einschlafen zu lassen.

Wenn Viertel, die über sehr hetero­gene Nachbar­schaften definiert werden, einen sozio-kultu­rellen Wandel durch­laufen – so, wie es anläss­lich der sehr spezi­ellen Wupper­taler Form von Gentri­fi­zie­rung gerade auf dem Ölberg passiert – besteht die Gefahr, dass zuvor gewach­sene linke Inter­ven­ti­ons­mög­lich­keiten margi­na­li­siert werden können, wenn nicht bewusst an ihnen weiter­ge­ar­beitet wird. Da kann die Schlie­ßung einzelner Lokale die als Orte des Austauschs dienten, schon reichen, wesent­lich an Einfluss zu verlieren. Dabei geht es nicht um Agita­tion sondern um perma­nenten Austausch mit den Nachba­rInnen. Es geht darum, ein Gesamt­klima zu schaffen, in dem rechte Entwick­lungen gar nicht Fuß fassen können. Angesichts von etwa 50% Nicht­wäh­le­rInnen auch auf dem Ölberg könnten auch dort Wahler­geb­nisse künftig überra­schend negativ ausfallen, wenn die Erwei­te­rung von Sagbar­keits­räumen und rechte Diskurs­ver­schie­bungen zugelassen werden. Ähnli­ches gilt für die Gegend um den Mirker Bahnhof und die Wiesen­straße.

Die nach der Landtags­wahl disku­tierte Alter­na­tive, besser in anderen, scheinbar schon „gekippten“ oder zumin­dest „umkämpften“ Vierteln zu inter­ve­nieren statt sich auf das eigene Quartier zu konzen­trieren, ist keine. Die eigenen Viertel dürfen nicht vernach­läs­sigt werden, so richtig es zweifellos ist, ein rechtes Überge­wicht auch in Hecking­hausen oder Ronsdorf nicht einfach hinzu­nehmen. Doch schon nach der Landtags­wahl stellte sich die Frage, wie das von der radikalen wie der parla­men­ta­ri­schen Linken gestemmt werden soll. Ohne die eigene Basis zu vergößern, wird das nicht funktio­nieren. Bevor Inter­ven­tionen außer­halb eigener Zonen erfolgen können, muss deshalb in Teilen ein Neuaufbau statt­finden. Es könnte sein, dass der „Schock“, den viele angesichts der Wahl dann doch empfunden haben, eine Reorga­ni­sa­tion auf breiterer Basis erleich­tert.

Doch bevor das passiert ist, stellt sich eine ganz andere Frage : Was ist eigent­lich mit den großen Parteien ? Auch wenn sie bundes­weit zur Zeit darum bemüht zu sein scheinen, die AfD rechts überholen zu wollen, ihre katastro­phalen Ergeb­nisse auf lokaler Ebene müssten auch sie eigent­lich motivieren, gegen­zu­steuern. Es geht ja auch um „ihre“ Viertel. Es kann nicht sein, dass Alltags­en­ga­ge­ment und „demokra­ti­sche Inter­ven­tion“ weiterhin an Antifa und Linke delegiert werden, die man ansonsten bekämpft. Mehr noch als in Sonntags­reden der Bundes­po­li­ti­ke­rInnen wird sich in den nächsten Jahren an der Präsenz in den Quartieren und Nachbar­schaften festma­chen lassen, ob die „demokra­ti­sche Mitte“ gewillt ist, dem Rechts­ruck etwas entge­gen­zu­setzen. Ein vierjähr­li­cher „Türklin­gel­wahl­kampf“ oder bei Straßen­festen feilge­bo­tene Bratwürste werden dafür aber nicht reichen – da müsste schon mehr kommen. Wenn sie sich perso­nell oder inhalt­lich nicht dazu in der Lage sehen, sollten sie zumin­dest dafür sorgen, dass in der Stadt mehr Mittel als bisher für gesell­schaft­liche Initia­tiven bereit gestellt werden.

Artikel teilen

Istanbul : Die Bewegung ist schwach, die Repression stark

Der nachfol­gende Text (und sein ebenfalls dokumen­tierter Vorläufer) stammt von einem Genossen aus Istanbul und erschien ursprüng­lich auf indymedia-links­unten.

Beide Texte stehen unter einer Creative Commons-Lizenz (Namens­nen­nung-Keine kommer­zi­elle Nutzung-Weiter­gabe unter gleichen Bedin­gungen)

Istanbul : Die Bewegung ist schwach, die Repres­sion stark – 18.06.

Man weiss seit langem, dass nichts einem Kampf fremder ist als sein eigenes Ende. Doch wenn man einen Haufen Trottel sieht, die versu­chen, weiter zu protes­tieren, indem sie sich in schwei­gende Statuen verwan­deln (die manchmal ein Smart­phone in der Hand halten), stellt man fest, inwie­fern die ganze Sache buchstäb­lich verstei­nernd ist.

Es scheint, als ob die Konfron­ta­tionen und die nächt­li­chen Demons­tra­tionen am Wochen­ende den Ehren­kampf der Bewegung darstellten. Die Expan­sion, welche der einzige Weg gewesen wäre, um weiter­zu­gehen, hat nicht statt­ge­funden.

In den letzten Tagen hat die Macht die Zähne gezeigt. Nachdem sie während der Räumung Samstag vorsätz­lich ein sehr hohes Niveau an Gewalt an den Tag gelegt hat (Gas im Wasser­werfer, Menschen­jagd, Angriff des Hotels, welches als Spital benutzt wurde…), hat sie das Aufgebot der Polizei- und Gendar­me­rie­ein­heiten aus Kurdi­stan in Istanbul angekün­digt. Am Sonntag waren alle Strassen aller Quartiere rund um den Taksim­platz voll von Bullen, welche alle Gruppen zerstreuten, welche sich formierten und die Konfron­ta­tion suchten. Viele Zivil­bullen, viele Verhaf­tungen (600 gemäss mehreren Quellen), erneut viele Verletzte. Pro-AKP-Gruppen formierten sich, schüch­terten die Demons­tranten ein, ein Molotov wurde auf Demons­tranten geworfen (von einem Schiff zum anderen). Der Gouver­neur von Istanbul drohte, die Armee aufzu­bieten, Erdogan sagte den Demons­tranten : Ihr habt dieses und jenes Quartier hinter euch, doch wir das, dieses und jenes Quartier hinter uns. Die Atmosphäre ist geprägt von der drohenden Rückkehr der dunklen Jahre, der Ausset­zung der demokra­ti­schen Bräuche. Die Macht spielt mit der Angst vor dem Bürger­krieg, obwohl die Situa­tion weit davon entfernt ist, aufstän­disch zu sein. Man kann annehmen, dass das vielen Angst macht in Anbetracht der sozialen Zusam­men­set­zung der Bewegung – Leute, welche faktisch vom Rechts­staat beschützt werden.

Am Montag Streik und Demo, zu welcher mehrere linke Gewerk­schaften aufge­rufen haben, vor allem im öffent­li­chen Dienst. Der Streik wird kaum befolgt, die Gewerk­schaften entscheiden sich, die wenig massiven Demozüge aufzu­lösen, sobald sie von den Bullen blockiert werden. Die Gewerk­schaften haben klar kaum mobili­siert, diese Bewegung passt nicht wirklich in ihre politi­sche Agenda. Sie neigen nicht zu einem Kräfte­messen mit der Regie­rung und werden von der Basis nicht dazu gezwungen. Die politi­schen Kräfte der Opposi­tion bocken, sie stellen ihre Schwäche zur Schau, sie haben nie gewusst, wie sie aus der Bewegung Profit schlagen können. Sie suchen keinen unmit­tel­baren Sieg – das ist wohl umso besser, doch sie schafften es trotzdem, die Konfron­ta­ti­ons­dy­namik zu schwä­chen, weil die Bewegung nie versuchte, sie auszu­schliessen.

Diens­tag­morgen, Razzia bei links­ra­di­kalen Organi­sa­tionen, welche von der Macht als terro­ris­tisch bezeichnet werden und sie kündigt an, Leute zu lebens­langen Haftstrafen zu verur­teilen. Der Chef der Ultras Çarsi wird ebenfalls verhaftet. Das ist wohl noch nicht das Ende.

Die Repres­sion weiss sich ihre Ziele auszu­su­chen. Wir sprachen im vorhe­rigen Text („Bericht und bruch­stück­hafte Analyse der Situa­tion in Istanbul“) von der doppelten Zusam­men­set­zung der Bewegung : Einer­seits die mehr oder weniger autono­mi­sierten Aktivisten der links­ra­di­kalen Bewegung (Maoisten, Trotz­kisten, Kurden), welchen sich die im Stras­sen­kampf erfah­renen „anarchis­ti­schen“ Ultras angeschlossen haben ; anderer­seits die europäi­sche Mittel­klasse der Stadt. Diese beiden Kompo­nenten haben sich mit ziemlich klar verschie­denen Modali­täten einge­bracht ; und nun vertieft die Repres­sion den Graben zwischen ihnen. Die erste Kompo­nente wurde hart getroffen und wird weiterhin angegriffen werden. Sicher, alle haben Gas geatmet und die Verhaf­tungen waren massiv und gingen über den harten Kern der Aktivisten und der „Gewalt­tä­tigen“ hinaus, doch für die meisten war der Polizei­ge­wahrsam kurz und folgenlos. Die Behand­lung ist klar anders, vor allem seit einer Woche und die Bewegung vertei­digt sich kaum.

Es sind noch viele Spuren der Bewegung vorhanden : In den Quartieren der westli­chen Mittel­klasse werden weiterhin Parolen gerufen, es wird gepfiffen und auf zu fixen Zeiten auf Kochtöpfe gehäm­mert und von nun an verbreitet sich auch diese bescheu­erte Sache der Verstei­ne­rung. Doch es ist ein toter Protest, der jegli­chem realem Kräfte­ver­hältnis entbehrt und der mehr denn je von der beson­deren sozialen und kultu­rellen Identität der kemalis­ti­schen Bourgeoisie geprägt ist. Faktisch hat die Gesamt­heit dieses Teils der Bevöl­ke­rung die Bewegung unter­stützt, weil sie begreif­li­cher­weise gegen die AKP ist. Dieser Teil hat auch teilge­nommen, er war präsent, doch eine gewisse Dimen­sion der Bestä­ti­gung der Existenz als gesell­schaft­liche Elite eines Landes, welches sie als „ihr“ Land betrachten und von einer Regie­rung bedroht ist, die sie ablehnen, spielte ebenfalls mit. Die Unter­schei­dung zwischen Kampf­ak­ti­vität und demons­tra­tive Unter­stüt­zung war häufig unscharf – unter­ge­gangen in einem Massen­ef­fekt, welcher als Träger des Kräfte­ver­hält­nisses vorge­sehen war.

Diese Kampf­ak­ti­vität war selbst beschränkt. Versamm­lungen, Beset­zungen, Blockaden gab es nicht. Sicher, der Park war während der ganzen Dauer des Kampfes ein „befreiter Raum“ und der Ausschluss der Polizei aus dem Perimeter machte daraus einen Ort des Austauschs, der Wieder­an­eig­nung der Zeit und des Raums, der Ausar­bei­tung gewisser Ausdrucks­prak­tiken und gemein­samer Vertei­di­gung – und diese Beset­zung führte zu einer fakti­schen Blockade, wenn es auch nicht ihr eigent­li­ches Ziel war. Eine kollek­tive Kraft war sicher präsent ; sie führte zu Euphorie sogar unter den abgehär­testen Aktivisten – und von aussen gesehen, hatte man den Eindruck, etwas unglaub­lich grosses zu beobachten. Die Reaktion auf die Räumung Samstag­abend (spontane nächt­liche Demos in der ganzen Stadt mit Blockaden von gewissen Achsen) hat sogar die Möglich­keit eines Aufbruchs des Konfron­ta­ti­ons­raums erkennen lassen. Doch die Unfähig­keit der Bewegung, sich andere Perspek­tiven zu geben – welche die Entwick­lung einer Konfron­ta­tion inner­halb der Bewegung selbst voraus­ge­setzt hätten – führte zu ihrer progres­siven Schrump­fung, welches die Macht als heftige Nieder­schla­gung in Szene setzen wollte – aus Gründen, die nur sie kennt.

Die Barri­kaden sind nun wegge­räumt und der Park wird nun von Kohorten von Bullen bewacht. Zivil­bullen geistern in der Zone herum ; sie zeigen sich ; sie kontrol­lieren. Während vor einigen Tagen noch die Hälfte der Leute, welche man im Sektor antraf, offen mit Bauhelmen, Schutz­brillen und Gasmasken herum­spa­zierten, ist es nun nicht mehr vorteil­haft, dass derar­tiges Material während einer unerwar­teten Durch­su­chung entdeckt wird.

Die Pfeif­kon­zerte zu fixen Zeitpunkten in den „laizis­ti­schen“ Quartieren können den Prozess der Norma­li­sie­rung nur schlecht verbergen ; die in Statuen verwan­delten Leute machen das Ende der Bewegung eklatant. Vielleicht schwächt die Bewegung die gegen­wär­tige Macht politisch ; vielleicht wird sie ihr bei den Wahlen einige Stimmen kosten. Dann wird kemalis­ti­sche Bourgeoisie mit Nostalgie an dieses „Aufwa­chen“ zurück­denken, welches ihr Wieder­auf­tau­chen auf der politi­schen Bühne geprägt haben wird.

Vielleicht werden auch viele von dieser Bewegung gelernt haben, dass die Kräfte­li­nien in der türki­schen Gesell­schaft sich verän­dert haben, dass ein Geist des Protests sich in der Jugend verbreitet hat. Es ist zu früh, um all das zu beurteilen – doch das Ende einer Bewegung enthält nur selten die Stärke der nächsten. Im Moment spüren jene, welche die Repres­sion erdulden, – und sich von nun an ihr gegen­über als andere Fraktion der Bewegung organi­sieren müssen – nur allzu gut, was der Sieg des Staates bedeutet.

Übersetzt aus dem Franzö­si­schen von Kommu​ni​sie​rung​.netQuelle

***

Zum besseren Verständnis dokumen­tieren wir nachfol­gend auch den ersten Teil des Artikel-Duos. Es handelt sich um einen Bericht des gleichen Genossen aus Istanbul vom 16.06., also vom Sonntag, nachdem der Gezi-Park zum zweiten Mal geräumt wurde.

Erschienen bei indymedia-links­unten am 18.Juni

Bericht und bruch­stück­hafte Analyse der Situa­tion in Istanbul - 16.06.

Indem sie den harten Weg gewählt hat, bewegt sich die Macht auf dünnem Eis. Die Bewegung schien nachzu­lassen als die Polizei gestern Samstag­abend mit einer grossen Bruta­lität den Gezipark geräumt hat. Der aktuelle Moment ist kritisch. Heute nahm Erdogan an einem langen Treffen mit Zehntau­senden seiner Anhänger teil und wieder­holte, die Demons­tranten seien Terro­risten. Pro-AKP-Demons­tra­tionen beginnen, sich zu formieren, sie treffen auf die anderen, das Konfron­ta­ti­ons­ri­siko ist hoch. Zum Zeitpunkt, wo ich schreibe, gehen die Konfron­ta­tionen in den Quartieren rund um den Taksim­platz weiter. Es ist ausser Zweifel, dass die Gewalt der Repres­sion den Fortbe­stand einer Bewegung nährt, welche selbst als Reaktion auf eine brutale Repres­sion entstanden ist und welche Schwie­rig­keiten zu haben schien, sich Perspek­tiven zu geben, die ihr erlauben, sich zu verbreiten und zu stärken.

Gestern Abend, nach einer Räumung, während welcher die Polizei weniger als je behutsam vorging (Dutzende Verletzte, obwohl die Besetzer sich eher fried­lich verhielten), haben sich die Demons­tranten im Quartier zerstreut und den pausenlos gasenden Bullen die Stirn geboten. Parallel dazu formierten sich überall in der Stadt Demozüge, sie blockierten die Achsen, schrien Parolen, schlugen auf Kochtöpfe bis spät in die Nacht. Heute bildeten die Gruppen, welche sich der Polizei gegen­über­stellten, Dutzende von Gruppen in einem sehr grossen Perimeter rund um den Taksim­platz.

Indem sie sich dafür entschied, die Platz­be­set­zung am Montag und die Parkbe­set­zung (gleich neben dem Platz) am Samstag zu stoppen, hofft die Macht, einer Bewegung mit unscharfen Umrissen ein Ende zu setzen, indem sie ihr ihren Ort der Gruppie­rung raubt. Doch parallel dazu geht sie das Risiko ein, dass sich die Demons­tra­tionen geogra­phisch in der Stadt ausbreiten - sie geht das Risiko einer Sätti­gung und einer Verall­ge­mei­ne­rung der Blockaden ein.

Es ist nicht sicher, dass dieser Sprung geschehen wird. Der Beginn der Woche wird wohl entschei­dend sein : Entweder wird die Konfron­ta­tion breiter und gestärkt durch die Repres­sion, oder die Bewegung verschwindet langsam aber sicher. Von nun an kann sie nicht mehr im Park stagnieren, wie sie das die Tage vor dem Angriff am Samstag getan hat.

Die Anmer­kungen, welche folgen, versu­chen also, eine Zwischen­bi­lanz zu erstellen zu einem Zeitpunkt, wo die Bewegung an einem Wende­punkt ist ; sie ergeben sich aus der Beobach­tung der Bewegung rund um den Park in Istanbul letzte Woche, dies ohne die Sprache zu sprechen und ohne mit dem Land vertraut zu sein. Sie sind also notwen­di­ger­weise sehr bruch­stück­haft.

1. Von Anfang an vermi­schen sich im Protest zwei Kompo­nenten, die eine organi­siert, die andere nicht : Einer­seits die politi­schen Organi­sa­tionen, ein Mosaik von Parteien und Mikro­par­teien, vor allem linke, aber auch natio­na­lis­ti­sche oder gar faschis­toide ; anderer­seits ein Teil der Bevöl­ke­rung Istan­buls, welcher grosso modo einer laizis­ti­schen und westlich orien­tierten Mittel­klas­sen­ju­gend ohne politi­sche Erfah­rung zugeordnet werden kann (obwohl eine solche gesell­schaft­liche Katego­ri­sie­rung notwen­di­ger­weise sehr grob ist und sich verän­dernde Wirklich­keiten abdeckt). Die Organi­sa­tionen haben ihre eigene Agenda, um zu versu­chen, aus der Bewegung politi­sches Kapital zu schlagen, doch diese Agenda ist sehr vage und die Kontrolle, welche sie über die Bewegung haben, begrenzt – auch bezüg­lich ihrer eigenen Truppen : Man muss die Apparate von den Aktivisten an der Basis unter­scheiden, letztere sind häufig mitten­drin trotz den Anord­nungen der Führungs­spitze.

Seit der ersten Räumung letzten Dienstag marschieren die Organi­sa­tionen zerstreut, einige versu­chen, sich als respek­table Gesprächs­partner der Bewegung zu präsen­tieren, verhan­deln hier und da, kündigen das Ende ihrer Präsenz an der Parkbe­set­zung an ; doch es scheint, dass die Macht sich parallel dazu stark genug fühlt, um weiterhin die Bullen zu schicken, um die Situa­tion zu verwalten, ohne den Willen zur Vermitt­lung zu beachten. Sie weiss faktisch, dass die AKP nach wie vor eine starke gesell­schaft­liche Basis hat und die Zeit scheint gekommen, um diese zu mobili­sieren.

Die Bewegung ist wesent­lich auf der Grund­lage dieser Polari­sie­rung und der von der Macht zur Schau getra­genen Verach­tung für die Demons­tranten aufge­baut (trotz begrenzten Konzes­sionen, die von Erdogan mit einer nicht versteckten Herab­las­sung einge­räumt wurden : er hat die Organi­sa­tion eines Referen­dums in Istanbul über die Trans­for­ma­tion des Parks zugestanden). Diese Polari­sie­rung läuft Gefahr, in Anbetracht der martia­li­schen Reden des Premier­mi­nis­ters und des klar unver­hält­nis­mäs­sigen und wenig demokra­ti­schen Einsatzes der Polizei­ge­walt, sich zu verstärken.

2. Jenseits des Fixpunkts, welcher der Gezipark und der Taksim­platz darstellen (darstellten?), fühlt man in einem Teil der Stadt eine beson­dere Atmosphäre. Die Mauern sind ziemlich überall mit Parolen bedeckt, die Kochtopf­kon­zerte zu fixen Zeitpunkten gehen weiter, am Samstag­abend ging man zu Fuss auf weit vom Stadt­zen­trum entfernten Schnell­strassen.

Die Forde­rungen sind divers, unscharf und unwesent­lich. Wie in jeder Bewegung eines gewissen Ausmasses ist die Freude über das Auftau­chen einer kollek­tiven Kraft jenseits der Gewalt der Repres­sion spürbar und stellt die zentrale Dynamik des Kampfes dar. „Schulter an Schulter gegen den Faschismus”, skandieren die Demons­tranten. Sie sind auf den Geschmack des Gases, des Katz-und-Maus-Spiels mit der Polizei gekommen und zeigen eine grosse Einheit in den Momenten der Konfron­ta­tion : Sie helfen sich gegen­seitig ; es gibt keine Konfron­ta­tionen zwischen jenen, welche sich direkt der Polizei entge­gen­stellen und den anderen ; die Masken und die Schutz­brillen sind ein Erken­nungs­zei­chen, das von Tausenden geteilt wird ; und schliess­lich haben die Leute in den zwei Wochen gelernt, sich zu wider­setzen : Man sieht eine gewisse Intel­li­genz in der Art und Weise, wie auf die Gasan­griffe und die Angriffe allge­mein reagiert wird. Letzten Dienstag sah man Omas, welche Steine verteilten, damit sie auf Bullen geworfen werden können und andere, welche zeigten, wie die Tränen­gas­gra­naten in die Wasser­kübel geworfen werden müssen, um sie zu neutra­li­sieren ; man sah Alte mit Gasmasken, wie sie halfen, beein­dru­ckende Barri­kaden zu bauen. Man sah Junge auf Bauma­schinen von der Menge bejubelt. Man sah auch alle Arten von Leuten, wie sie ohne die geringste Panik zwischen Gas und Barri­kaden herum­spa­zierten und gestern Abend, während das Quartier rund um den Taksim­platz vom Gas überflutet war, ging das Leben in einer beson­deren Atmosphäre weiter : Die Bars und die Buden blieben offen, man hörte ziemlich überall Musik und das Gas schien Teil eines Quartier­fests zu sein.

Der Riss, welcher sich im Alltag geöffnet hat, die Freuden der Menge, wo jeder zu einem Genossen wird, die Worte, welche zwischen den Leuten zirku­lieren usw.: Es gibt nicht den geringsten Zweifel, dass wir es mit einem grossen Moment der Volks­kom­mu­nion zu tun haben – jedoch ziemlich klar begrenzt. Denn sie enthält auch die Selbst­be­schrän­kung einer Bewegung, welche bis anhin kaum über die Ufer getreten ist – wir werden in den nächsten Tagen erfahren, ob ein solcher Prozess schliess­lich eintritt.

3. Das scheint wesent­lich mit ihrer beson­deren Klassen­zu­sam­men­set­zung zu tun zu haben. Der Türkei ist die Krise weitge­hend erspart geblieben. Die Jugend der Mittel­klasse, welche den Kern der Bewegung darstellt, demons­triert nicht, weil sie sich in ihrer wirtschaft­li­chen Zukunft, sondern weil sie sich in ihrer Lebens­weise durch die aggres­siven Projekte der „islamo-konser­va­tiven” Regie­rung bedroht fühlt : Beschrän­kungen des Alkohol­kon­sums, Wille der Wieder­an­eig­nung des Stadt­zen­trums von Istanbul, um ihm seinen „osmani­schen” Charakter zurück­zu­geben, begleitet von einer aggres­siven Vermark­tung des öffent­li­chen Raums. Dies alles in einem Kontext, der seit zwei Jahren von einer Art islamis­ti­schen Verschär­fung geprägt ist, beispiels­weise Drohungen gegen das Recht auf Abtrei­bung und auch eine starke Perso­na­li­sie­rung Erdogans, der die Tendenz hat, sich als „Diktator” aufzu­führen (was nicht ohne Folgen auf seine eigene Partei ist, Spannungen zeigen sich mittler­weile unter­schwellig in der Verwal­tung der Krise – ein Kräfte­messen, das sich momentan inner­halb der Macht abspielt). Es geht um einen Kampf auf dem Terrain um die Hegemonie, in welchem sich zwei Klassen gegen­über­stehen : jene, welche mit dem kemalis­ti­schen Staat verbunden und auf Europa ausge­richtet ist und jene, welche mit der AKP verbunden, konser­vativ und fromm ist und einen beträcht­li­chen Teil der bis anhin margi­na­li­sierten Volks­schichten hinter sich hat. Es ist nicht unbedeu­tend, wenn die Demons­tranten und die Gegen­de­mons­tranten beide das gleiche Symbol zur Schau tragen, nämlich die türki­sche Flagge. Es existiert eine starke Polari­sie­rung rund um die natio­nale Identität.

4. Doch jenseits der Frage der „Bewegung für die Bewegung”, der Frage danach, was bezüg­lich Bruchs der Alltäg­lich­keit und Wieder­an­eig­nung der Stadt auf dem Spiel steht, waren die Spannungen inner­halb der Bewegung in den letzten zwei Wochen divers und latent – und ihr Nicht-Ausbre­chen ist gleich­zeitig die Stärke (die „spontan­eis­ti­sche” Einheit) und die Schwäche der Bewegung (Selbst­be­schrän­kung).

Zum Beispiel bezüg­lich der Frage der Gewalt. Obwohl allge­mein einge­räumt wird, dass es normal ist, gegen­über der Polizei Wider­stand zu leisten, ist der Ablauf der Opera­tionen manchmal überra­schend. Letzten Dienstag standen sich die Bullen und die Demons­tranten auf stati­sche Art und Weise hinter den Barri­kaden gegen­über und überall darum herum waren Bullen in kleinen Gruppen statio­niert, einige machten sogar ein Mittags­schläf­chen, während um sie herum andere Demons­tranten mit Gasmasken zirku­lierten. Im allge­meinen sind die offen­siven Praktiken gegen­über der Polizei im Moment begrenzt. Die Konfron­ta­tion bleibt defensiv : Es geht darum, weiterhin den Raum zu besetzen.

Es gibt auch nicht wirklich Akte des Vanda­lismus. Die Demons­tranten haben somit die Unter­stüt­zung der Händler des Quartiers rund um den Taksim­platz, welche selber vom Prozess der Osmani­sie­rung des Quartiers betroffen sind (z.B. die Terrassen der Bars). Zu wissen, dass, wenn man dem Gas ausge­setzt ist, man sich in die Buden und die Hotels zurück­ziehen kann, gibt den Demons­tranten eine reale Kraft. Doch es handelt sich schliess­lich um ein eher reiches Quartier, welches in vielen Aspekten dem Quartier latin in Paris gleicht. Und nur wenige Demons­tranten auf dem Platz kommen aus dem angren­zenden Quartier Tarla­basi, ein armes Kurden- und Zigeu­ner­quar­tier, welches von Gentri­fi­zie­rung bedroht ist, obwohl das Gas sich in dessen Strassen ausbreitet. Es ist nicht ihr Kampf.

5. Man kann dennoch die Bewegung nicht auf die Kompo­nente der verwest­lichten Mittel­klas­sen­ju­gend reduzieren ; faktisch gibt es auch einen Teil, den man als aufstän­disch bezeichnen könnte und der parado­xer­weise zum organi­sierten Teil der Bewegung gehört. Organi­siert, oder zumin­dest erfahren, was die Konfron­ta­tion mit der Polizei betrifft. Sie vertei­digten die Barri­kaden, welche bis zum letzten Dienstag den Zugang zum Platz beschützten ; sie waren am konse­quen­testen in den Konfron­ta­tionen mit der Polizei ; sie sind auch das Ziel der Repres­sion.

Dieser nebulöse Zusam­men­schluss besteht aus Aktivisten von türki­schen und kurdi­schen links­ra­di­kalen Organi­sa­tionen und Ultras (vor allem die çarsi von Besiktas, „links” geprägt und offiziell anarchis­tisch). Die radikale Linke hat in der Türkei eine lange Geschichte, welche aus häufig heftigen Konfron­ta­tionen mit der Polizei und gezielter Repres­sion besteht. Sie hat auch eine gewisse gesell­schaft­liche Basis und Verbin­dungen mit den Gewerk­schaften und den kurdi­schen Organi­sa­tionen, welche stark vom Marxismus-Leninismus geprägt sind. Der Taksim­platz war schon immer ein symbo­li­scher Ort für die Demons­tra­tionen der „Linken” im allge­meinen und der Umbau des Platzes hat auch zum Ziel, diese Demons­tra­tionen zu verhin­dern (er war am ersten Mai dieses Jahres gesperrt).

Zum ersten Mal sind ihre Praktiken Teil einer Bewegung, welche über sie hinaus­geht. Das Zusam­men­treffen ist sonderbar und quasi surrea­lis­tisch. Die (massiv präsenten) Porträts von Atatürk stehen fried­lich neben jenen Öcalans ; die Grauen Wölfe (Faschisten) sind neben dem nebulösen Zusam­men­schluss der Marxisten-Leninisten und es wurde entschieden, sie nicht zu verjagen. Die Einmü­tig­keit wie auch die mysti­sche Seite dieses „Zusam­men­tref­fens” vermit­teln in diesem Sinn ein gewisses Unbehagen, umso mehr, weil die Abwesen­heit von Versamm­lungen den Ausdruck dieser Antago­nismen im Kampf verhin­dern.

Daneben scheint diese Bewegung auch eine gewisse Autono­mi­sie­rung der Jungen in sonst stark hierar­chie­sierten Organi­sa­tionen (was auch für die „organi­sierten” Anarchisten gilt – bei den anderen handelt es sich eher um eine etwas folklo­ris­ti­sche politi­sche Identität) zu vermit­teln. Das ist vor allem bei den Kurden spürbar : Die Führungs­spitze der PKK (und der offizi­elle Arm, die Partei BDP) hielt sich zurück und hat sich der Bewegung nicht angeschlossen, zu einem Zeitpunkt, wo fortge­schrit­tene Verhand­lungen zwischen der Regie­rung und der PKK im Gang sind ; das hinderte etliche junge Aktivisten nicht daran, aktiv an den Konfron­ta­tionen teilzu­nehmen.

6. Hinter der Fassade der türki­schen Flagge, welche von jenen geschwenkt wird, welche erstmals auf die Strasse gehen, um ihre „Lebens­weise“ zu vertei­digen, ist eine gewisse Verdrän­gung am Werk. Indem die Macht die Demons­tranten als „Vandalen“ und als „Terro­risten“ bezeichnet hat, hat die Macht die verwest­lichten Mittel­klassen gegen sich vereint, sie fühlten sich belei­digt und versu­chen, mit den Porträts von Atatürk das Gegen­teil zu beweisen. Doch die Bewegung öffnet auch einige histo­ri­sche Wunden der modernen Türkei, welche von der Nieder­schla­gung von Vandalen und Terro­risten geprägt ist.

Die ganze Sache nimmt sicher­lich nicht die Form einer sozialen Explo­sion an : Viele volks­nahe Quartiere (beson­ders die neuen Quartiere der Stadt) stellen sogar eine wichtige Unter­stüt­zung der aktuellen Macht dar. Faktisch scheint die Manifes­tie­rung der sozialen Frage in der Türkei nur sehr schwer eine andere als politi­sche und identi­täre Form annehmen zu können. Die ausge­schlos­sene kurdi­sche Jugend schwenkt die Fahne der PKK, wenn sie revol­tiert ; die Quartiere, wo sich ein gewisser Wider­stand gegen den Staat zeigt, sind jene, welche von den linken Organi­sa­tionen gehalten werden (wovon eines, Gazi, in der Peripherie der Metro­pole liegt, es gibt dort regel­mäs­sige Konfron­ta­tion mit der Polizei seit zwei Wochen).

Der wesent­lich demokra­ti­sche Charakter des Staates, wo die Bewegung statt­findet, ist nicht zu bezwei­feln – in diesem Sinne ist es kaum möglich die Formen des Kampfes mit den arabi­schen Revolten zu verglei­chen. Doch das muss nuanciert werden, einer­seits durch die konfron­ta­tive Strategie der Macht, anderer­seits durch die beson­dere Konstruk­tion des türki­schen Staates und die massive Absorp­tion der sozialen durch die natio­nale Frage.

Übersetzt aus dem Franzö­si­schen von Kommu​ni​sie​rung​.netQuelle

Artikel teilen