Repressionsverschärfung auf allen Ebenen

Nicht nur neue Polizei­ge­setze verän­dern die Bedin­gungen politi­scher Arbeit

Seit dem 21.6. befindet sich unsere Freundin Latife in der JVA Willich. Sie soll dort eine über dreijäh­rige Haftstrafe absitzen, obwohl der Antifa­schistin keinerlei straf­bare Handlung nachge­wiesen werden konnte – trotz einer alle Bereiche ihres Lebens betref­fenden Überwa­chung und Bespit­ze­lung. Das Urteil bedeutet eine starke Auswei­tung der juris­ti­schen Anwend­bar­keit der „Terrorismus“-Paragraphen 129 a+b und eine bedroh­liche Verän­de­rung der Bedin­gungen politi­schen Engage­ments.

Verschär­fung der Repres­sion, und niemand kriegt es mit :
§ 129-Verfahren finden ohne öffent­li­ches Inter­esse statt.

In ganz Europa findet zur Zeit eine starke Verschär­fung repres­siver Politik statt. Rechte Politiker*innen und Vertreter*innen der Staats­ge­walt nutzen syste­ma­tisch geschürte Ängste und rechte Diskurs­ver­schie­bungen zur Auswei­tung von polizei­li­chen Befug­nissen, repres­siven Gesetzen und ausufernden Überwa­chungs­maß­nahmen. Dass zuletzt die Innen­mi­nis­te­rien in Öster­reich, Italien und Deutsch­land jeweils mit ausge­spro­chenen Vertre­tern neo-rechter Politik besetzt wurden, ist logische Voraus­set­zung. Der Rechts­ruck soll abgesi­chert werden, bevor sich Wider­stand überhaupt formieren kann.

Doch während Geset­zes­vor­haben wie das neue Polizei­auf­ga­ben­ge­setz in Bayern oder das neue Polizei­ge­setz in NRW zumin­dest breite Aufmerk­sam­keit und Proteste hervor­rufen, finden andere, nicht weniger bedroh­liche Repres­si­ons­ver­schär­fungen auf juris­ti­scher Ebene nahezu unbemerkt von der Öffent­lich­keit statt. In mehreren Verfahren, in denen Menschen wegen der Paragra­phen 129 a und 129 b angeklagt sind (Mitglied­schaft in einer terro­ris­ti­schen Verei­ni­gung) werden aktuell Bedin­gungen dafür geschaffen, Personen ohne konkrete Tatvor­würfe wegen legaler politi­scher Betäti­gung zu jahre­langen Haftstrafen zu verur­teilen. Zukünftig sind für Ermitt­lungen und Anklagen nach Paragraph 129 a oder 129 b weder die Einstu­fung einer Organi­sa­tion als „terro­ris­tisch“ (siehe z.B. den monströsen „TKP/ML-Prozess“ in München) noch der konkrete Nachweis einer „Mitglied­schaft“ Voraus­set­zung – wie im Verfahren gegen unsere Freundin Latife.

Eine unter­stellte „innere Überein­stim­mung“ reicht künftig aus,
jemanden zur Terro­ristin zu machen und zu inhaf­tieren.

Im Verfahren gegen Latife reichte es dem Staats­schutz­senat am OLG Düssel­dorf aus, ihr eine Mitglied­schaft aus „innerer Überein­stim­mung“ mit der türki­schen DHKP-C zu unter­stellen, um legale antifa­schis­ti­sche und antiras­sis­ti­sche Arbeit zu krimi­na­li­sieren. Das Gericht verur­teilte die seit über 30 Jahren in Deutsch­land lebende Alten­pfle­gerin und Mutter aus Wuppertal nach andert­halb Jahren Prozess zu drei Jahren und drei Monaten Haft ; trotz des eigenen Einge­ständ­nisses, „keine unmit­tel­baren Beweise für konkrete Vorgaben (…) durch Führungs­kader der DHKP-C gefunden [zu haben]“ Der Staats­schutz­senat zeigte sich schlicht „davon überzeugt, dass sich die Angeklagte in die DHKP-C einge­bunden hat.“ (Zitat aus dem Urteil) Begründet wurde diese Überzeu­gung mit bei der Durch­su­chung von Latifes Wohnung gefun­denen legalen Büchern, Filmen und Zeitschriften.

Durch die Konstruk­tion der „Mitglied­schaft in einer auslän­di­schen terro­ris­ti­schen Verei­ni­gung“ aus „innerer Überein­stim­mung“ wurden Teilnahmen an angemel­deten Demons­tra­tionen (z.B. während der „Gezi“-Solidarität und der Gedenk­demo zum 20. Jahrestag des Brand­an­schlages in Solingen), migran­ti­sche Arbeit mit Familien und Jugend­li­chen oder der Verkauf von Obst und Finger­food bei Festi­vals oder Konzerten zum Bestand­teil der Ankla­ge­schrift der General­staats­an­walt­schaft Düssel­dorf.

Sich der Legalität eigenen Handelns nie sicher sein zu können
zielt auf die Einschüch­te­rung jeder Opposi­tion ab.

So absurd das klingt, so ernst sind die Folgen für Latife und ihre Familie. Die durch die Ableh­nung des Revisi­ons­an­trages durch den BGH jetzt legiti­mierte Willkür­lich­keit bei der Konstruk­tion einer nachträg­li­chen „Mitglied­schaft“ in einer „terro­ris­ti­schen Verei­ni­gung“ stellt für politisch Aktive eine existen­zi­elle Bedro­hung dar. Wenn legales Handeln künftig willkür­lich und nachträg­lich durch eine ledig­lich unter­stellte „innere Überein­stim­mung“ mit den Zielen einer Organi­sa­tion illega­li­siert werden kann, wird es unmög­lich, in Betrach­tung der Geset­zes­lage zu handeln. Politi­sches Engage­ment ist dann immer bedroht, mit dem stetig erwei­terten Spektrum staat­li­cher Überwa­chungs- und Repres­si­ons­maß­nahmen konfron­tiert zu werden. Diese Verun­si­che­rung mögli­cher Opposi­tion ist ein Merkmal autori­tärer Regimes.

Vor diesem Hinter­grund erhalten die bereits einge­führten oder geplanten neuen Polizei­ge­setze einen zusätz­li­chen repres­siven Charakter. In Kombi­na­tion mit dem „Gefähr­dungs­be­griff“, der weitrei­chende polizei­liche Maßnahmen bereits erlaubt, ohne dass eine Ermitt­lung wegen straf­barer Handlungen vorliegt, ist die durch das Urteil gegen Latife erfolgte Auswei­tung der Paragra­phen 129 a+b ein Schritt in die vollstän­dige Kontrolle und Einschüch­te­rung. Erste, bereits erheb­liche Maßnahmen der Überwa­chung von „Gefähr­dern“ können dadurch zukünftig zunächst durch die Polizei angeordnet und danach von Staats­an­walt­schaften in konkrete „Terro­ris­mus­er­mitt­lungen“ überführt werden, in deren Wucht auch das gesamte soziale Umfeld von Betrof­fenen einbe­zogen ist : Telefo­ni­sche und elektro­ni­sche Überwa­chung und Bespit­ze­lung inklu­sive.

Infor­miert euch über laufende Verfahren !
Durch­brecht die Stigma­ti­sie­rung der Angeklagten in „Terro­ris­mus­pro­zessen“!

Das auf der Konstruk­tion eines real nicht existie­renden Vereins beruhende Verbot von „linksunten.indymedia“, oder auch die immer mal wieder zu hörenden Forde­rungen, die „Antifa“ zur terro­ris­ti­schen Verei­ni­gung zu machen, zeigen, dass der Wille, radikale linke Struk­turen zu krimi­na­li­sieren, mit der Verfol­gung migran­ti­scher Organi­sa­tionen nicht endet. Die in den Verfahren gegen angeb­liche „PKK“-Mitglieder, gegen die „TKP/ML“-Aktivist*innen oder gegen in migran­ti­schen Vereinen aktive Menschen jetzt geschaf­fenen neuen juris­ti­schen Voraus­set­zungen zur Verfol­gung bedrohen jeden Protest und Wider­stand. Verur­teilt wurde Latife – gemeint sind wir alle !

Den Weg ins Freie organi­sieren ! Alle müssen raus !
Solida­rität mit Latife ! Wir lassen sie nicht alleine !

Kommt am Donnerstag, den 5.7. um 19:30 Uhr ins ADA zur Soli- und Info-Veran­stal­tung !
Fahrt mit uns am Samstag, den 7.7. zur Demo gegen das Polizei­ge­setz nach Düssel­dorf !

Gefan­gene brauchen den Kontakt nach draußen. Sie haben kein Telefon oder Internet und sind deshalb auf die gute alte Post angewiesen. Schreibt Latife !

Latife Cenan-Adigüzel c/o JVA Willich
Garten­straße 1, 47877 Willich

Ausführ­liche Infos zum Verfahren gegen Latife gibts auf der Website zum Prozess : prozess​be​richt​.noblogs​.org

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AntiRep 2 - Unberührbare Polizei, der neue §114

Das so_ko_wpt hat mit einem Infor­ma­ti­ons­abend am 28.3.in Wuppertal versucht, einige der für Deutsch­land derzeit wichtigsten repres­siven Entwick­lungen zusam­men­zu­fassen und zu einem Gesamt­bild zusammen zu fügen. Mit zwei Artikeln versu­chen wir eine thema­ti­sche Reflek­tion des Infoabends. (Teil 1 : Repres­sion hält sich nicht an Filter-Bubbles)

Wann wird es für den Staat opportun, seine repres­siven Werkzeuge anzuwenden, und warum bestimmt Sicher­heits­po­litik eigent­lich die politi­sche Tages­ord­nung ? Und wie müsste unsere Reaktion angesichts dessen ausfallen ? Am Beispiel des neuen §114, der so genannte „tätliche Angriffe gegen Vollstre­ckungs­be­amte und ihnen gleich­ge­stellte Personen” in Zukunft mit mindes­tens drei Monaten Knast sanktio­nieren soll, lassen sich einige grund­sätz­liche Überle­gungen anstellen ; und eine Betrach­tung erfol­gender Reaktionen von linker Seite auf das Geset­zes­vor­haben verweist auf einige eigene Irrtümer und einer damit einher­ge­henden Unfähig­keit angemessen zu reagieren. Diese Reaktionen reduzieren die Auswir­kungen des neuen Gesetzes meist auf ein Demons­tra­ti­ons­ge­schehen. Wer jedoch das staat­liche Motiv für dieses mit dem alten Wider­stands­pa­ra­gra­phen 113 symbio­tisch verknüpfte neue Gesetz verstehen will (das auch in der Rechts­wis­sen­schaft höchst umstritten ist), muss sich mit der Insti­tu­tion der Polizei und der ihr in der Gesell­schaft zugedachten Aufgabe beschäf­tigen (das Argument des Schutzes von Rettungs­diensten kann getrost beiseite gelassen werden ; gemeint ist die Polizei.)

Wenig erstaun­lich ist, dass es die weitver­brei­tete Meinung gibt, Rolle und Aufgabe der Polizei seien eigent­lich klar. Denn Lobby­ver­treter der Polizei und Medien arbeiten kräftig an einem einfa­chen Bild : Aufgabe der Polizei ist es, Verbre­chen aufzu­klären, zu verfolgen und möglichst zu verhin­dern. Die Polizei sei daher eine Insti­tu­tion für die „Sicher­heit” einzelner in der Gesell­schaft. Dementspre­chend laufen auch die öffent­li­chen Debatten um zu wenig Personal, zu alte Ausrüs­tung und zu wenig Befug­nisse ab. Referenz sind Einzel­fälle, beson­ders empörens­werte Fälle von krimi­nellen Handlungen und indivi­du­elle Bedro­hungs­sze­na­rien. Sugge­riert wird damit, „Polizei“ käme jedem zugute. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Entste­hungs­ge­schichte der Insti­tu­tion „Polizei” zeigt, dass es, als es – beispiels­weise in England oder in einigen Städten der USA – im 19. Jahrhun­dert zur Gründung einer zwischen Militär und selbst­or­ga­ni­siertem Schutz angesie­delten Insti­tu­tion „Polizei“ kam (vgl. dazu hier) gar nicht um eine Bekämp­fung von Verbre­chen ging. Die Notwen­dig­keit zur Gründung einer solchen Insti­tu­tion ergab sich aus einer rasanten Verän­de­rung der Städte zu Beginn der Indus­tria­lie­rung ; anwach­sende Bevöl­ke­rungen, die Umstruk­tu­rie­rung der Arbeit zur Lohnar­beit und das Entstehen einer neuen Klassen­ge­sell­schaft, die ein zuvor bestim­mendes, nachfeu­dales Stände- und Zünfte­system ablöste, führten in den großen Städten zu zuneh­menden Inter­es­sen­kon­flikten einzelner Bevöl­ke­rungs­gruppen mit anderen : Unter­neh­mens­be­sit­zern und Arbei­tern, Arbei­tern und Tagelöh­nern aber auch von Altein­ge­ses­senen mit neu in die Stadt drängenden Einwan­de­rer­gruppen.

Die Polizei wurde erfunden um die Stadtgesellschaft zu kontrollieren

Die zuneh­menden Zusam­men­rot­tungen und Streiks ließen sich mit bis dahin agierenden neben­be­ruf­li­chen, durch Land- oder Firmen­be­sitzer zusam­men­ge­stellte Truppen oder Freiwil­lige, die in einem meist rotie­renden System eine „Wächter­funk­tion” ausübten, nicht länger zuver­lässig unter Kontrolle bringen ; zumal nicht sicher war, ob sie in einem Konflikt nicht selber darüber entschieden, ob sie flüch­teten oder gar die Seite wechselten. Die neu geschaf­fene Insti­tu­tion Polizei sollte die (stadt-) gesell­schaft­li­chen „Neben­be­rufler“ deshalb durch haupt­be­ruf­liche Kräften ersetzen. Denn in Fällen, in denen die Kontrolle zu entgleiten drohte, wurde zur Bekämp­fung von Streiks und Aufständen zuvor im Notfall Militär einge­setzt, was oft zu gewalt­tä­tigen Einsätzen gegen die Menschen­mengen führte. Unter Strei­kenden kam es zu vom Militär getöteten Arbei­tern, was nicht selten eine noch größere Entschlos­sen­heit der Strei­kenden beim nächsten Mal auslöste. Die Kontrolle der neuen Stadt­ge­sell­schaften, die Aufrecht­erhal­tung der „Ordnung” und die Siche­rung der Klassen­ge­gen­sätze war lücken­haft. Die „Polizei” sollte diese Lücke füllen und zu einem effek­tiven, in der Regel aber weniger letalen Mittel werden, gesell­schaft­liche Konflikte einzu­hegen und möglichst schon vor dem Entstehen zu erkennen. Von Anfang an wurde die Polizei, anders als das beim kaser­nierten Militär möglich war, deshalb als eine im Alltag der Menschen veran­kerte Insti­tu­tion konzi­piert. Die Übertra­gung von Verbre­chens­be­kämp­fung von einer allge­meinen „Aware­ness” auf die neue Insti­tu­tion diente dazu als Vehikel. Wo zuvor wortwört­lich ein „Haltet den Dieb” zum kollek­tiven Versuch führte, eine Tat zu verhin­dern und bedrohtes Eigentum zu schützen, wendeten sich von Diebstahl Betrof­fene fortan an die im Viertel präsenten Polizisten. Sie wurden nach und nach zu den umgangs­sprach­lich noch lange präsenten „Schutz­män­nern“, die vor Ort in den Vierteln respek­tiert werden und so durch ihre Kennt­nisse und Kontakte frühzeitig von sich anbah­nenden gesell­schaft­li­chen Konflikten erfahren sollten.

Die Polizei befasst sich “mit Menschen­mengen, Wohnvier­teln, anvisierten Teilen der Bevöl­ke­rung – alles kollek­tive Einheiten. Sie mögen das Gesetz anwenden, um dies zu tun, aber ihre allge­meinen Richt­li­nien erhalten sie in der Form von Vorgaben ihrer Vorge­setzten oder aus ihrer Berufs­er­fah­rung. Die Direk­tiven haben regel­mäßig offen kollek­tiven Charakter – etwa die Kontrolle über ein wider­spens­tiges Viertel zu erlangen.” (aus „Origins of the police”)

Polizei” ist seit ihrer „Erfin­dung” als Ordnungs­faktor zur Einhe­gung von Menschen­mengen im öffent­li­chen Raum inten­diert. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, soll sie dieje­nigen die sich dort aufhalten, kontrol­lieren. Sie wurde dafür mit der Defini­ti­ons­macht ausge­stattet, darüber zu befinden, was die „Ordnung” öffent­li­cher Räume bedroht oder stört und was eben nicht. So aufge­fasst, sind viele Entschei­dungen heutiger Einsatz­lei­tungen oft weniger ideolo­gisch als system­im­ma­nent zu verstehen. Eine angemel­dete Demo ist nach Polizei-Defini­tion beispiels­weise zunächst nicht per se eine Störung der Ordnung des öffent­li­chen Raums, zählt zu ihr doch (leider) auch das Recht, in einem eng von der Polizei bestimmten Rahmen demons­trieren zu dürfen. Da eine Demo jedoch dennoch stets eine Gefähr­dung für die Ordnung darstellt, wird sie mit großem Einsatz beobachtet und begleitet. Der polizei­liche Rahmen wird bei „Class­less Kulla“ treffend so beschrieben : „Die Polizei legt fest, wer wann und wo demons­triert, welche Auflagen vorher laut vorge­lesen werden müssen, wann sich die Demo wie schnell bewegt und wann sie stehen­bleibt, wie die Betei­ligten gekleidet sind, wie groß ihre Trans­pa­rente sind, und in vielen Fällen auch, wann und wo die Demo endet.“ Gegen­de­mons­tra­tionen, zum Beispiel gegen einen angemel­dete Nazi-Aufmarsch, entspre­chen hingegen prinzi­piell nicht der polizei­li­chen Defini­tion eines „geord­neten” Ablaufs. Sie richten sich gegen die Ordnung der Ursprungs­kund­ge­bung und sie stören und bedrohen noch weiter die von der Polizei gesetzten Rahmen­be­din­gungen. Die Polizei betrachtet sie feind­lich und engt ihren Spiel­raum noch weiter ein. Diese, Alltag und Äußerungen eines Jeden (mit-) bestim­mende Rolle der Polizei wurde und wird freilich nicht von vornherein akzep­tiert. Um eine Insti­tu­tion zu imple­men­tieren, die defini­to­risch wie durch das ihr zugedachte „Gewalt­mo­nopol” ganz faktisch jeder­zeit bestimmen kann, wo öffent­li­cher Raum beginnt, wo er aufhört und wie sich belie­bige Situa­tionen in ihm zuzutragen haben, bedarf es neben einer entspre­chenden Gesetz­ge­bung einer weiteren, psycho-sozialen Voraus­set­zung : Sie benötigt beson­deres Ansehen und eine heraus­ge­ho­bene Stellung gegen­über den zu Kontrol­lie­renden. Sie benötigt den Respekt der Kontrol­lierten und im Konflikt­fall auch die Unter­stüt­zung der anderen im öffent­li­chen Raum Anwesenden.

Himmlers Freunde und Helfer

In frühen Zeiten, etwa zum Ende des vorletzten, noch von feudalen Staats­struk­turen geprägten Jahrhun­derts, gab es den erfor­der­li­chen Respekt qua Verfü­gung und mittels autori­tären Auftre­tens. Polizisten waren die Vertreter des gottge­ge­benen Herrschers und als solche selbst­ver­ständ­lich mit dem Defini­ti­ons­mo­nopol ausge­stattet. (In den USA sah es anders aus. Hier erfolgte u.a. ein langes Ringen um das Gewalt­mo­nopol, das bis heute andauert.) Die Lage der Polizei in Europa änderte sich mit der voran­schrei­tenden Demokra­ti­sie­rung und Politi­sie­rung der Gesell­schaft. Der „natür­liche Respekt“ vor den die Monar­chie reprä­sen­tie­renden Polizisten schwand. Die Polizei war zuneh­mend auf eine andere ideelle Absiche­rung angewiesen, wollte sie ihre Rolle in den Vierteln und bei der Kontrolle von Menschen­mengen weiter erfüllen ohne dabei zu sehr bedrängt zu werden. Zumal es bis zum Ende des letzten Jahrhun­derts zwischen Demons­trie­renden und Polizisten einen viel gerin­geren Unter­schied in der Ausrüs­tung gab als heute. An die Stelle des die Monar­chie reprä­sen­tie­renden „Schutz­mannes“ trat das Bild des „Freund und Helfers“, das u.a. durch Heinrich Himmler als Innen­mi­nister des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land geprägt wurde und bei Polizis­tInnen ein bis heute beliebter Euphe­mismus ist. Der „einfache“, aus der Bevöl­ke­rung kommende Polizist, der aufop­fe­rungs­voll den Schutz vor den Gefähr­dungen des Zusam­men­le­bens gewähr­leistet, rückte in den Fokus der (Selbst-) Darstel­lung. Die Stili­sie­rung der bei der Entfüh­rung Hanns Martin Schleyers und anderer Gefechte mit der RAF getöteten Polizisten als „unschul­dige Opfer der Zivil­ge­sell­schaft“ stellt einen Höhepunkt dieser gewünschten Sicht­weise auf Polizisten dar. Mehr als Schleyers Entfüh­rung sollte ihr Tod für einen Angriff RAF auf die Gesamt­ge­sell­schaft stehen – sie hatten schließ­lich nur „ihre Arbeit gemacht”. Diese Darstel­lung der Polizei sollte sie als „aus dem Volk kommend” und als Teil der Gesell­schaft im Bewusst­sein veran­kern ; wer Polizisten angriff, griff die Gesamt­ge­sell­schaft an. Angriffe auf Polizisten sollen deshalb auch heute noch doppelt zählen : „Es wird ja nicht nur der Polizist als Mensch angegriffen ; es wird ja der Staat angegriffen.” (CDU-Innen­po­li­tiker Armin Schuster im DLF, Februar 2017)

Anschlie­ßend wurden die Unter­schiede in Bewaff­nung und Ausrüs­tung dann deutlich vergrö­ßert ; inzwi­schen müssen Menschen­mengen auf jede Art so genannter „passiver Bewaff­nung“ wie Helme oder Gesichts­tü­cher verzichten, während aus den Polizisten anonyme, gepan­zerte „Riot-Cops“ wurden. Damit kehrten jedoch auch die bereits von den Militär­ein­sätzen früherer Zeiten bekannten Akzep­tanz­pro­bleme zurück. Eine offen­sicht­liche Unter­le­gen­heit führt bei Beherrschten zwangs­läufig zu einem Mangel an Respekt ; er wird durch die alte Angst ersetzt. Auch wenn das bei der Kontrolle von Menschen­mengen hinge­nommen wird, bei der im Alltag veran­kerten Polizei stellt das ein Problem dar. Angst führt zu einer Distan­zie­rung von der Polizei, es besteht die Gefahr, dass sich die Menschen zuneh­mend der Kontrolle durch die Polizis­tInnen entziehen. Für die eigene Überhö­hung ist die in den Vierteln agierende Polizei daher heute vermehrt auf die Unter­stüt­zung durch die Medien angewiesen. Das erledigen unter anderem Presse­ar­tikel, vor allem die tägli­chen kleinen Meldungen der Lokal­presse, die ständig die Rolle der Polizei als Korrek­tur­faktor bei bedroh­li­chen Vorfällen heraus­strei­chen. Fast immer wörtlich aus Polizei­be­richten abgeschrieben, stellen sie grund­sätz­lich die Sicht der Polizei auf belie­bige „Vorfälle” dar. Eigene Recherche zum Thema­ti­sierten wird zumeist nicht geleistet. In Wuppertal ragt hier die Übernahme der Polizei­sicht beim versuchten Mord an einem Antifa­schisten 2015 am AZ durch Nazis als negatives Beispiel heraus, aber auch die Empfeh­lung des WDR-Senders „1Live“ anläss­lich der Proteste gegen den AfD-Parteitag in Köln, sich der Einfach­heit halber über den Twitter-Kanal der Kölner Polizei über das Geschehen zu infor­mieren, zeigt, wer die Medien­ar­beit macht, wenn es um Konflikt­si­tua­tionen geht. Doch selbst wenn einmal nachre­cher­chiert wird, wird die Sicht­weise der Polizei oft im Umkehr­schluss bestä­tigt. Wenn in einem Artikel von “unver­hält­nis­mä­ßiger Polizei­ge­walt” die Rede ist, bedeutet das, dass es auch eine verhält­nis­smä­ßi­gere gibt. Der Polizei wird damit neben dem staat­li­chen Gewalt- auch das diskur­sive Monopol dazu überlassen, warum etwas, wann, wo und durch wen geschah – oder was eben nicht (wenn es in ihren Berichten gar nicht vorkommt). Sprache und Einschät­zungen der Polizei erhalten so einen als Journa­lismus getarnten Kanal zur lokalen Bevöl­ke­rung.

Die Polizei hat dies verhin­dert, jenes aufge­deckt, sie vermeldet, beklagt, warnt. (…) Meldungen bestehen aus dem, was die Polizei sagt – ihre Sprache, ihre Einschät­zung, ihr Selbst­ver­ständnis und vor allem ihre Feind­be­stim­mung prägen die öffent­liche Bericht­erstat­tung (…)”. Die Polizei definiert, „was ‚militant’ heißt, wann etwas ‚verein­zelt’ geschah, wer überhaupt Agierende und Reagie­rende sind, wer zum Handeln gezwungen war und (…) was sich ‚notwendig machte’ (…)”.
(aus „All Cops are Staats­ge­walt”)

Den Rest besorgt eine Unter­hal­tungs­ma­schine, in der jeden Abend wohlwol­lende, nachdenk­liche, höchst mensch­liche und idealis­ti­sche Kommis­sare an der Seite der Bedrohten, Bedrängten und Ernied­rigten die eigene Ehe und Gesund­heit riskie­rend über die Bildschirme in die Wohnzim­mern flimmern. Das alles führt zu unvor­stellbar grandiosen Werten, wenn die Bevöl­ke­rung nach ihrem Vertrauen in Insti­tu­tionen gefragt wird. Die Polizei rangiert bis heute unange­fochten auf dem ersten Platz, vor der Justiz (was auch ein schlechter Witz ist…). 80% schenken der Polizei ihr Vertrauen. Und obwohl das ein Indiz dafür ist, dass die Veran­ke­rung der Ordnungs­macht in der Gesell­schaft kaum geringer scheint als zu Kaisers Zeiten, spricht trotzdem viel dafür, dass der Polizei zuneh­mend unwohl in ihrer Haut geworden ist. Die bei der Einfüh­rung des neuen Paragra­phen 114 viel zitierten Statis­tiken, die einen Anstieg angeb­li­cher Gewalt­de­likte gegen Polizis­tInnen belegen sollen, sagen nämlich zweierlei aus. Neben einer in Polizei­kreisen virulenten Tendenz zur Krimi­na­li­sie­rung des Gegen­über gibt es wohl tatsäch­lich eine subjektiv empfun­dene Bedro­hungs­lage, die sich in den auf Aussagen von Polizis­tInnen basie­renden Einsatz­pro­to­kollen abbildet (es gibt keine objek­tive Erfas­sung ausge­übter Gewalt gegen Polizis­tInnen, es gibt nur die von ihnen selbst zu Proto­koll gegebenen „Vorfälle“). Mit Recht wird kriti­siert, deren subjek­tiven Empfin­dungen zur statis­ti­schen Grund­lage eines Gesetzes gemacht zu haben, dass sich jedoch in der Statistik eine offenbar zuneh­mende Opfer­per­spek­tive wider­spie­gelt, ist eindeutig. Wie falsch die so erstellten Statis­tiken sein müssen, lässt sich an anderen, vorhan­denen objek­tiven Zahlen ablesen : Beispiels­weise an der Diskre­panz zwischen „vollendeter“ und „versuchter schwerer Körper­ver­let­zung“. Weist die Krimi­na­li­täts­sta­tistik auf einhun­dert Fälle von „schwerer Körper­ver­let­zung“ 16 Taten aus, bei denen es ledig­lich bei einem Versuch dazu blieb, verschiebt sich das Verhältnis der „versuchten schweren Körper­ver­let­zungen“ zu den „vollendeten“ bei Polizis­tInnen zu schier unglaub­li­chen 125 zu 100. Von Polizis­tInnen wird demnach ein Vielfa­ches an „versuchten schweren Körper­ver­let­zungen“ angezeigt als im Leben allge­mein vorkommen. (Quelle : beck-commu­nity)

Es gibt zu viele Mitbürger, die den Menschen in Uniform provozieren.“

Wenn Fälle von durch Dienst­mü­dig­keit oder Corps­geist bedingten Krank­schrei­bungen und Schmerzen in Abzug gebracht werden, ist die verblei­bende Diskre­panz nicht allein durch Gegen­an­zeigen oder Krimi­na­li­sie­rungs­ver­suche durch die Polizei erklärbar. Ein nicht unwesent­li­cher Teil muss auf dem subjek­tiven Gefühl basieren, tatsäch­lich bedroht oder angegriffen zu werden. Doch woher kommt das Gefühl der Polizei, sich auf so unsicherem Terrain zu bewegen ? Es gibt dafür auch objek­tive Umstände. Beispiels­weise ist die Polizei zwar auf ihrem ureigenen Terrain, der Kontrolle von Menschen­mengen und Aufstands­be­kämp­fung so gut ausge­rüstet wie nie zuvor, im für das subjek­tive Gefühl entschei­denden Polizei-Alltag ist sie jedoch materiell oft im Hinter­treffen. Wo Berichte noch auf einem Uralt-Rechner verfasst werden müssen, agiert das Gegen­über mittler­weile mit schnellen und mobilen Devices und Verschlüs­se­lungs­tech­no­lo­gien. Meldungen zu vom schmalem Gehalt selbst gekauften Schutz­westen und wegen versa­gender Funkkom­mu­ni­ka­tion bei Einsätzen bevor­zugten Mobil­te­le­fonen tragen sicher auch zum Gefühl der Unter­le­gen­heit und Verun­si­che­rung bei. Und dort, wo Polizis­tInnen den für die Kontrolle eines Viertels benötigten Respekt auch der Kontrol­lierten erfahren müssten, erleben sie teilweise das Gegen­teil. Das nach Anerken­nung heischende Bild vom in der Mitte der Gesell­schaft befind­li­chen Polizisten, funktio­niert nicht, wenn es auf Menschen trifft, die sich ihrer­seits gar nicht als Teil der Gesell­schaft erfahren. Die immer weiter manifes­tierte soziale Spaltung der Gesamt­ge­sell­schaft führt bei jenen 20%, für die die Polizei nicht (mehr) eine Insti­tu­tion ist, der Vertrauen geschenkt wird, zu einem verän­dertem Verhalten. Menschen, die sich nicht mehr sorgen, bei „Aufmüp­fig­keit“ exklu­diert zu werden, weil sie auf Inklu­sion ohnehin keine Aussicht haben, kündigen den seit der „Erfin­dung“ der „Schutz­männer“ geschlos­senen Pakt. Feind­liche Blicke begleiten den „Kontakt­be­reichs­be­amten” oder den Strei­fen­wagen, als „Frech­heit“ empfun­dene Reaktionen im Alltag nehmen zu, Wider­sprüche häufen sich und Anord­nungen der Polizei wird nicht immer umgehend und wider­spruchslos Folge geleistet. „Es gibt zu viele Mitbürger, die den Menschen in Uniform provo­zieren und ständig heraus­finden wollen, wer der Stärkere ist.” (Gewerk­schaft der Polizei im März 2017) Solch „aufsäs­siges“ Verhalten eines Gegen­über ist für das Verun­si­che­rungs­ge­fühl von Polizis­tInnen entschei­dender als die – ohnehin zurück­ge­hende – reale Gefahr, auf die Fresse zu kriegen. Wie groß der Frust über den Verlust ihrer „unberühr­baren” Stellung im Polizei­alltag ist, ist dann bei jeder linken Demo zu erleben ; also sobald die Polizei auf jenes Spiel­feld gelangt, auf dem sie den Vorteil einer weit überle­gener Ausrüs­tung hat.

Der Druck, den Lobby­ver­treter der Polizei gemacht haben, ein Gesetz wie den neuen §114 einzu­führen, ist vor allem auch als Handrei­chung für eine im Dienst zuneh­mend frustrierte Polizei zu verstehen. Die durch den neuen §114 von der Justiz auf das Feld der Polizei verla­gerte indivi­du­elle Macht, ein „aufsäs­siges“ Gegen­über zukünftig qua Anzeige eines vermeint­li­chen „tätli­chen Angriffs“ quasi selber mit drei Monaten Haft zu „bestrafen“, wird ihre Wirkung vor allem im Alltags­ge­schäft entfalten. Sie soll die Kräfte­ver­hält­nisse zwischen Kontrol­lie­renden und Kontrol­lierten und das subjek­tive Überle­gen­heits­ge­fühl von Polizis­tInnen wieder herstellen. Dass die Politik dem, aller juris­ti­schen Vorbe­halte gegen das Gesetz zum Trotz, nachkommt, spricht auch für politi­sche Verun­si­che­rung. Die Tatsache zuneh­mend revol­tie­render reaktio­närer Bevöl­ke­rungs­schichten in der Kombi­na­tion mit einer im Alltag frustrierten Polizei, die oft ohnehin eine berufs­be­dingte Nähe zu reaktio­nären Protesten aufweist, ist für Herrschende gefähr­lich. Können sie sich nicht mehr auf die unbedingte Loyalität der haupt­be­ruf­li­chen „Wächter“ verlassen, gerät die Grund­lage ihrer Herrschaft in Gefahr – heute nicht anders als zu Zeiten, in denen die Polizei als Insti­tu­tion „erfunden“ wurde. Wie soetwas in der Praxis aussehen kann, konnte nicht nur in Sachsen inzwi­schen mehrfach beobachtet werden : Die Polizei kommt ihrem Auftrag zum Schutz von Politi­kern einfach nicht nach oder lässt rechte Mobs schlicht gewähren. Zumeist bleibt so ein Verhalten ohne Konse­quenzen. Hierin findet sich die eigent­liche Bedeu­tung des Wortes „Polizei­staat“, das zumeist auf die Bedeu­tung ausge­übter Polizei­ge­walt reduziert wird. „Polizei­staat“ bedeutet über versprühtes Pfeffer­spray hinaus vor allem jedoch, gegen­über den „Auftrag­ge­bern“ in einer effek­tiven Macht­po­si­tion zu sein. Denn während die „Auftrag­geber“ – also die Innen­mi­nister als Dienst­herren – bei Wahlen regel­mäßig um ihre Position fürchten und dabei u.a. von der durch die Polizei zu gewähr­leis­tenden „Aufrecht­erhal­tung der Ordnung“ abhängig sind, sind die örtli­chen Polizei­prä­si­den­tInnen und Polizis­tInnen beamtet und werden auch noch den nächsten Innen­mi­nister im Job überleben. Die Politik ist vom „Gehorsam” der Polizei gewis­ser­maßen abhängig und kann sich Forde­rungen aus deren Reihen nur schwer entziehen.

Wenn die in Wuppertal tätige Polizei­prä­si­dentin Birgitta Rader­ma­cher in der Anhörung des Rechts­aus­schuss des Bundes­tages zur Einfüh­rung des §114 fordert, in Zukunft das Fotogra­fieren und Filmen von Polizei­ein­sätzen zu verbieten (womit Betrof­fenen auch die letzte Beweis­mög­lich­keit für nicht statt­ge­fun­dene „tätliche Angriffe“ genommen würde, während die Polizei in Wuppertal gleich­zeitig nach Belieben ihre eigene Sicht filmisch mit „Bodycams“ dokumen­tieren kann), dann muss davon ausge­gangen werden, dass diese Forde­rung über kurz oder lang von der Politik auch umsetzen wird, weil sie im Grunde durch die Polizei erpressbar und verun­si­chert ist. Diese, auf den real existie­renden „Polizei­staat“ verwei­sende politi­sche Verun­si­che­rung steht in krassem Gegen­satz zum beständig vorge­tra­genen Mantra eines „Rechts­staats“, das aus unerfind­li­chen Gründen auch in der Linken tief veran­kert ist. Empörte Verweise auf das Grund­ge­setz bei der nächsten Umset­zung polizei­li­cher Forde­rungen und hilflose Presse­er­klä­rungen nach der nächsten gewalt­samen Auflö­sung eines Protestes zeugen von einer linken Unklar­heit bezüg­lich der konkreten Lage und der Verfasst­heit der Gesell­schaft allge­mein. Ähnli­ches gilt, wenn unter Verweis auf „islamis­ti­schen Terror“ und auf rechte Propa­ganda von der Politik ständig neue Gesetze disku­tiert und umgesetzt werden, die funda­mental in jenen imagi­nierten „Rechts­staat“ eingreifen. „Zensur­be­hörden“ für soziale Medien oder Fußfes­seln für an keiner Stelle definierte „Gefährder“-Gruppen sind nur zwei Beispiele. Vor allem die Fußfes­seln für „Gefährder“ sind ein gutes Beispiel für die weiter ausgrei­fende Verla­ge­rung polizei­li­cher Defini­ti­ons­macht in einen „präven­tiven“ Bereich. In diesem wird es der Polizei und anderen Sicher­heits­be­hörden künftig möglich sein, ihre Funktion unter vollstän­digem Verzicht auf bestehende Gesetze auszu­üben, denn ein „Gefährder“ hat ja noch gegen gar kein Gesetz verstoßen. Je nach „Lage“, wie die Polizei es nennt, könnte er oder sie es jedoch in Zukunft vielleicht tun. Überrum­pelt von einer, den inzwi­schen sechzehn­jäh­rigen „Krieg gegen den Terror“ mit ständigen Bedro­hungs­sze­na­rien beglei­tenden Gehirn­wä­sche, bleibt linkes Inter­esse an solchen Geset­zes­vo­erän­de­rungen eher bescheiden. Oft wird nur wahrge­nommen, was für uns selbst bedroh­lich ist. Dass uns das meiste des Disku­tierten nicht sofort trifft, liegt trauri­ger­weise jedoch nur daran, dass wir zur Zeit nicht ernst­haft als „Gefährder“ wahrge­nommen werden. Auch für den §114 trifft das zu, trotz seiner Verab­schie­dung im Bundestag am 27. April, also noch „recht­zeitig“ vor den Protesten zum G20-Gipfel in Hamburg.

Neue Strategien entwickeln : Der neue §114 trifft hauptsächlich andere anderswo.

Die Stoßrich­tung des neuen Gesetzes zielt nicht auf die Verhin­de­rung einer unmit­telbar bevor­ste­henden Revolu­tion von links, sondern eben auf die Wieder­erlan­gung polizei­li­cher Autorität in den Kiezen und Vierteln, obwohl sie selbst­ver­ständ­lich auch gegen antifa­schis­ti­sche Demons­tran­tionen und linke Proteste zur Anwen­dung gebracht werden wenn es notwendig erscheint. Die dabei wichtigste Folge des neuen Paragra­phen eigenes Handeln im Handge­menge : Wie künftig mit von Polizei­ge­walt Betrof­fenen solida­risch sein, wenn unser bishe­riges Handeln ; das Hinlaufen, Festhalten, das versuchte Rausziehen und genaue Beobachten nicht etwa hilft, sondern die Konse­quenzen für Betrof­fene sogar verschlim­mert ? Immerhin sieht der neue §114 vor, die Mindest­strafe von drei Monaten zu verdop­peln, wenn ein „tätli­chen Angriff“ von zwei oder mehr Personen „begangen“ wird. Kurz : Gelingt die „Gefan­ge­nen­be­freiung“ nicht, droht allen Betei­ligten ein halbes Jahr Knast wenn die Polizei es so will. Trotz dieser Konse­quenzen werden die Folgen des neuen Gesetzes haupt­säch­lich für andere anderswo zu spüren sein : Bei „verdachts­ab­hän­gigen“ wie bei „-unabhän­gigen“ Perso­nen­kon­trollen, beim „Racial Profiling“, bei nicht umgehend und still befolgten „Platz­ver­weisen“ etwa für Wohnungs­lose, bei berech­tigten Ausras­tern im Jobcenter, bei Pfändungs­maß­nahmen der Behörden oder bei Zwangs­räu­mungen von Wohnungen. Nicht zu vergessen bei von der Polizei erkannten „Gefähr­dungs­lagen“ durch an Straßen­ecken Herum­ste­hende, durch Drogen­dealer, Biertrinker und ganz allge­mein durch Menschen, die allein durch ihre Anwesen­heit die Odnung eines öffent­li­chen Raums „gefährden“ könnten – schlicht immer, wenn Einzelne mit der Defini­ti­ons­macht der Polizei konfron­tiert sind. Ihnen gegen­über werden Polizis­tInnen die neue Macht ausspielen. Und das meist unbemerkt von der Öffent­lich­keit oder wenn doch, dann mit zustim­mender Billi­gung durch die Mehrheits­ge­sell­schaft. Das zeigen Reaktionen auf die immer wieder medien­wirksam durch­ge­führten polizei­li­chen Großkon­trollen in „Gefah­ren­ge­bieten“ oder an „sozialen Brenn­punkten“. Der neue Paragraph ist eine Reaktion auf die Verun­si­che­rung der Politik auf die fortschrei­tende soziale Spaltung. Er bereitet den Rahmen für eine rücksichts­lose Kontrolle des öffent­li­chen Raums. Die Fixie­rung linker Kritik auf eine verstärkte Repres­sion gegen mögliche Proteste verkennt das eigent­liche Poten­tial des Gesetzes und macht Chancen für sinnvolle Inter­ven­tion gleich­zeitig unsichtbar. Viele in der Zukunft Betrof­fene werden die Entwick­lungen nicht aufmerksam verfolgen. Es müsste deshalb mit ihnen Kontakt aufge­nommen werden, wir müssten sie über das neue Gesetz infor­mieren und Kanäle öffnen, auf denen drohende Falsch­an­zeigen und Übergriffe durch die Polizei mit uns kommu­ni­ziert werden können.

Die gegen­wär­tigen Ausein­an­der­set­zungen um „Sicher­heit“ und Gesetze die diese herstellen sollen, sind verschärfte Ausein­an­der­set­zungen um öffent­li­chen Raum, nachdem die Mehrheits­ge­sell­schaft auf Vertrauen und Respekt der Exklu­dierten zuneh­mend verzichtet und die Politik den Anspruch auf Inklu­sion aller mehr und mehr zugunsten offener Repres­sion aufgibt. Nachdem vermehrt Verbote öffent­li­chen Alkohol­kon­sums ausge­spro­chen wurden oder perma­nente Kontrollen einzelner Gruppen zum Normal­fall geworden sind und nachdem ehemals öffent­li­chen Zonen der Innen­städte immer weiter zu priva­ti­sierten Terrains gemacht wurden, wird die nächste Stufe in der Ausein­an­der­set­zung darum gezündet, wer öffent­li­chen Raum zu was nutzen darf. Mit dem Rückzug eines vorgeb­lich „moderie­renden“ Staates und des Anspruchs seiner Polizei, ohne Ausnahme „für alle“ da zu sein, wird in den Kiezen und Vierteln aller­dings auch zuneh­mend eine Leerstelle geschaffen, die im Kampf um diesen öffent­li­chen Raum eigent­lich besetzen werden müsste, was aller­dings notwen­di­ger­weise ein echtes Inter­esse an häufig als peripher empfun­denen Gruppen voraus­setzte. Das weitge­hende Desin­ter­esse in der deutschen Linken an den immer wieder heftig geführten Kämpfen in den franzö­si­schen Banlieues, wo sich eine solche Entwick­lung im fortge­schrit­tenen Stadium besich­tigen lässt, und manchmal ganze Viertel gegen die von der Polizei ausge­übte Gewalt revol­tieren, macht aber skeptisch, ob sich ein solches Inter­esse entwi­ckeln lässt, wenn es „unsere” Viertel betrifft. Das Verharren in der eigenen Wirklich­keits­blase verhin­dert aber nicht nur die Wahrneh­mung von Verschär­fungen der Lage, sondern auch das Entstehen neuer Koali­tionen auf der Straße an denen wir betei­ligt sind (und nicht funda­men­ta­lis­ti­sche oder sogar rechte Struk­turen). Gleich­zeitig behin­dert es auch eine strate­gi­sche Analyse gesell­schaft­li­cher Entwick­lungen und Brüche. Dabei könnte uns die Entwick­lung sogar in die Hände spielen, denn sie eröffnet eben nicht nur neue Inter­ven­ti­ons­felder.

Denn sie müsste auch zu einem Hinter­fragen eigener Aktions­formen und seit Jahren bestehender Routinen führen. Nicht nur, weil die angespro­chenen nötigen Inter­ven­tio­nenen bei Polizei­ge­walt und drohenden Falsch­an­zeigen nicht in Form legali­sierter Proteste ablaufen können, weil den Betrof­fenen appel­lativ in Kameras gehal­tene Protest­schilder weniger helfen als das Herstellen von Überzahl im geeig­neten Moment. Auch das Repres­si­ons­po­ten­tial, das sich tatsäch­lich gegen unsere Struk­turen richten wird, erfor­derte beispiels­weise die Überprü­fung der Gewohn­heit, Demons­tra­tionen seit Jahren in der Regel nur noch angemeldet statt­finden zu lassen. Schon bisher muss die Tatsache, bewusst und ausschließ­lich auf jene Spiel­felder zu mobili­sieren, auf denen die Polizei bestens vorbe­reitet und mit weit überle­gener Ausrüs­tung agiert, mehr als ein Stirn­run­zeln auslösen. Wenn künftig jedoch auch die ausschließ­liche Teilnahme angemel­deten Demos vor einer Haftstrafe nicht mehr mit hinrei­chender Sicher­heit schützt, warum sollte der Nachteil einer Voraba­lar­mie­rung der Polizei dann länger hinge­nommen werden ? Es nicht zu tun, eröff­nete neue strate­gi­sche Möglich­keiten. Bisher ist es noch zu keinem Anlass gelungen, eine durch Großereig­nisse bedingte Perso­nal­schwäche der Polizei zu unseren Gunsten an anderen Orten auszu­nutzen. Aber das muss ja nicht so bleiben. Dezen­tral, kurz, schnell und vor allem unbere­chenbar müssten unsere Reaktionen ausfallen, gerade weil die Polizei im Alltags­ge­schehen ihren Vorteil der Überzahl und überle­gener Ausrüs­tung nicht – oder wenn, nur mit erheb­li­cher Verzö­ge­rung – ausspielen kann. Es ist also falsch, den an vielen Stellen laufenden Geset­zes­ver­schär­fungen und dem Ausbau des repres­siven Apparats nur bekla­gend und mit Furcht zu begegnen. Wir müssen umsichtig und vorbe­reitet damit umgehen ; es sollte uns vor allem aber aufzeigen, wie verun­si­chert Herrschende und auch ihre Polizei sein können, wenn der gesell­schaft­liche Grund­kon­sens zerfällt. Diese wachsende Verun­si­che­rung sollte uns auf jene Handlungs­felder führen, an denen wir sie ausnutzen und verstärken können – gerne auch gemeinsam mit anderen, die sich im Kampf um öffent­li­chen Räume befinden.

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