Am „Tag X“ unsere Solidarität auf die Straße tragen !

Sechs Wochen Mobili­sie­rung, Infor­ma­tion, Film und Diskus­sion zum NSU-Komplex, Solingen 1993 und dem beide Themen verbin­denden rassis­ti­schen Normal­zu­stand liegen hinter uns. Und nach dem Jahrestag zum mörde­ri­schen Brand­an­schlag von Neonazis auf das Solinger Wohnhaus steht jetzt auch der zweite Termin bevor. Es dauert nicht mehr lange bis zur Urteils­ver­kün­dung im Prozess gegen einen Teil des „Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds“ in München. Dem Aufruf der Kampagne „Kein Schluss­strich!“ folgend, organi­sieren wir für den Tag der Urteils­ver­kün­dung eine Fahrt nach München um an der geplanten Demo teilzu­nehmen.

Was schon vorher klar war, wurde durch Schil­de­rungen von Opfer­an­ge­hö­rigen, Prozessbeobachter*innen und Rechts­an­wälten mit jeder Veran­stal­tung unserer Koope­ra­ti­ons­reihe „Kein Schluss­strich für Opfer und Zivil­ge­sell­schaft“ klarer : Am Tag des Urteils gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger und die beiden anderen Angeklagten ist es unsere Aufgabe, unsere Solida­rität mit den „Überle­benden des NSU“ (Neben­kla­ge­an­walt Mehmet Daima­güler), den Angehö­rigen der Opfer und all denen zu zeigen, die von Rassismus und rassis­ti­scher Gewalt in Deutsch­land betroffen sind. Das durch den Prozess als falsch entlarvte Verspre­chen einer lücken­losen Aufklä­rung, die Ermitt­lungen, bei der die Opfer zu Tätern gemacht werden sollten und das Desin­ter­esse der Öffent­lich­keit für die Betrof­fenen machen die Demons­tra­tion unserer Solida­rität zum Geringsten was wir tun können.

Wann wird das Urteil gespro­chen ?

In dieser Woche begannen die Plädoyers der ursprüng­li­chen Vertei­diger von Beate Zschäpe. Die drei Anwält*innen mit den „sprechenden Namen“, Herr, Stahl und Sturm, haben angekün­digt, dafür eine ganze Prozess­woche zu benötigen. Im Anschluss haben die Angeklagten das Recht auf eine letzte Bemer­kung. Danach stehen dem Straf­senat am OLG München unter dem Vorsit­zenden Richter Manfred Götzl theore­tisch sechs Wochen Zeit zur Verfü­gung, zu einem Urteil zu kommen. Niemand erwartet aber, dass das Gericht diese Zeit in Anspruch nimmt. Abhängig von der Frage, ob der Senat möglichst allen Nebenklagevertreter*innen die Gelegen­heit geben möchte, an der Urteils­ver­kün­dung teilzu­nehmen, ist der Beginn der Urteils­ver­kün­dung wahrschein­lich für einen Dienstag Mitte oder Ende Juni bzw. Anfang oder Mitte Juli zu erwarten. Frühest­mög­li­cher Termin wäre Dienstag, der 19.06. Ab diesem Zeitpunkt kann es jedoch auch jeder der folgenden Diens­tage sein, also der 26.06., der 03.07. oder auch der 10.07.

Wie fahren wir nach München ?

Der Bus aus dem Tal wird am Voraband der Urteils­ver­kün­dung so gegen 21 Uhr losfahren, um etwa neun Stunden später in den frühen Morgen­stunden recht­zeitig zur Demoteil­nahme in München anzukommen. Die Rückfahrt nach Wuppertal soll am gleichen Tag statt­finden, sodass alle Diens­tag­nacht wieder zurück sind. Es fallen Reise­kosten von ca. 30 Euro pro Person an. Wenn das für irgendwen ein Hindernis darstellt, kann darüber natür­lich geredet werden.

Wer mitfahren möchte, sollte sich verbind­lich per E-Mail an so_ko_wuppertal [at] subver​ti​sing​.org bis Mittwoch den 13.06 anmelden (bis Montag, 18.06. verlän­gert!). Bitte teilt uns mit, ob ihr an allen genannten Terminen oder nur an einem oder zwei Terminen könnt. Denkt daran, dass es sehr schnell gehen wird, sobald feststeht, wann der „Tag X“ tatsäch­lich ist. Verschie­bungen sind jeder­zeit möglich. Wir benötigen deshalb unbedingt eine funktio­nie­rende Antwort­adresse von euch. (Mehr zu unserer „Tag X“-Kampagne)

Und in Wuppertal ?

Für alle, die nicht mit nach München zur Demo fahren können, regen wir an, den vielen dezen­tralen Aktivi­täten die bundes­weit statt­finden, eine eigene lokale Aktion hinzu­zu­fügen. Für Berlin, Dortmund, Kiel, Leipzig oder Rostock sind jeweils Demons­tra­tionen am „Tag X“ angekün­digt, in anderen Städten z.B. in Göttingen, Freiburg oder Hamburg, wird zu Kundge­bungen oder Demos für den Samstag nach der Urteils­ver­kün­dung aufge­rufen. (Übersicht der bisher geplanten Aktivi­täten). Auch für Wuppertal können wir uns eine Aktion am Samstag nach der Urteils­ver­kün­dung statt­finden. Das würde auch jenen die nach München fahren, die Möglich­keit geben, teilzu­nehmen. Gründe für unseren Zorn auf den rassis­ti­schen Normal­zu­stand in Behörden und Gesell­schaft gibt es auch hier genug.

Auch in Wuppertal häufen sich die Berichte zu gezielt rassis­ti­schen Polizei­kon­trollen in migran­tisch bewohnten Vierteln, und „neue Rechte“ und Nazis versu­chen auch in Wuppertal Stimmung gegen Migran­tinnen und Migranten zu machen – z.B. am 16. Juni, wenn die militanten Nazis der Minipartei „Die Rechte“ ausge­rechnet am Tag des Ölberg­festes einen Marsch von Barmen nach Elber­feld planen. Und schließ­lich ist es auch in Wuppertal nicht bei rassis­ti­scher Hetze geblieben.

Rassis­ti­scher Mordver­such durch Nazis in Wuppertal

Wir erinnern an den rassis­ti­schen Mordver­such an einem 53-jährigen Besucher des Autonomen Zentrums mit türki­schen Migra­ti­ons­hin­ter­gund in der Nacht vom 11. auf den 12.4.2015 durch Nazis. Wir erinnern daran, dass die katastro­phalen Mecha­nismen der Ermitt­lungs- und Öffent­lich­keits­ar­beit der Behörden, die während des NSU-Verfah­rens zu Tage traten, im Umgang mit dem Mordver­such am AZ Wuppertal eine nahtlose Fortset­zung fanden. So wurden Ersthelfer und Freund*innen des Opfers von der Polizei zunächst beschul­digt, die Rettungs­sa­ni­täter an der Arbeit behin­dert und die Polizei am Tatort angegriffen zu haben. Die Vorwürfe, die von der Lokal­presse zunächst ungeprüft übernommen wurden, erwiesen sich während des Verfah­rens gegen die drei Täter später als haltlos. Auch in Wuppertal war die Ermitt­lungs­ar­beit zu den Tätern zunächst von vielen Ungereimt­heiten und Zufällen geprägt und ein politi­sches Motiv des Mordver­suchs wurde so lange es ging relati­viert. Die Verstri­ckungen der Täter in aktive und militante Nazistruk­turen aufzu­klären, blieb – wieder einmal - der Antifa überlassen. (Zum Nachlesen : Antifa­schis­ti­sche Kampagne Wuppertal 2015)

Auch der Umgang mit dem Opfer reiht sich bis heute in die mehrheits­ge­sell­schaft­liche Ignoranz gegen­über von rassis­ti­scher Gewalt Betrof­fenen ein. Der am AZ schwer verletzte Mann, der nach der Tat für Wochen im künst­li­chen Koma lag, leidet bis jetzt unter seinen erlit­tenen Verlet­zungen und kann seinen Beruf nicht weiter ausüben. Für die lokale Monopol­zei­tung „Westdeut­sche Zeitung“ und auch für die Stadt­spitze ist sein Fall jedoch keine Erwäh­nung wert. Auch dann nicht, wenn es um die Beschäf­ti­gung mit Nazige­walt und deren gesell­schaft­li­cher Aufar­bei­tung geht.

Das Opfer ist der Mehrheits­ge­sell­schaft keine Erwäh­nung wert

So wurde bespiels­weise für das Grußwort des Oberbür­ger­meis­ters Andreas Mucke bei der Eröff­nung der Ausstel­lung „Die Opfer des NSU und die Aufar­bei­tung der Verbre­chen“ nach einem Wupper­taler Bezug zur NSU-Mordserie gesucht ; der vor dem Autonomen Zentrums fast ermor­dete 53-Jährige fand trotz entspre­chender Erinne­rung an die Tat jedoch keine Erwäh­nung in Muckes Ansprache. Auch die „Westdeut­sche Zeitung“ schwieg über den Beinahe-Mord durch Nazi-Hooli­gans, als sie am 8. Mai über die Ausstel­lung im Barmer Rathaus berich­tete, obwohl sich der Artikel lobend über die Ausstel­lung äußert, weil „Die Opfer (…) im Mittel­punkt der Ausstel­lung [stehen].“ Dass der Wider­spruch, den Fokus der Ausstel­lung auf die Opfer des NSU zu loben und gleich­zeitig das Wupper­taler Opfer eines rassis­ti­schen Mordver­suchs zu „vergessen“, in der WZ-Redak­tion anschei­nend niemanden auffiel, zeigt vielleicht deutli­cher als alles andere, dass auch für Wuppertal festge­stellt werden muss, was im Münchener Aufruf der Kampagne „Kein Schluss­strich!“ formu­liert wird :

Rassismus ist ein gesell­schaft­li­ches Problem. Und das gilt wortwört­lich : Diese Gesell­schaft hat ein Rassis­mus­pro­blem, und zwar ein gewal­tiges. Rassismus wird dabei fälsch­li­cher­weise oft nur bei klassi­schen Neonazis verortet. Ebenso findet sich Rassismus auch jenseits der sogenannten neuen Rechten, die sich hinter den Bannern von AfD, Pegida und Konsorten versam­meln. Rassismus findet sich in Ämter- und Behör­den­praxis, Polizei­ar­beit, der Art wie gesell­schaft­liche Ressourcen und Teilhabe verteilt werden. Rassismus findet sich in markt­schreie­ri­schen Wahlkampf­auf­tritten wie auch in subtil und vornehm formu­lierten Leitar­ti­keln. Rassismus zieht sich durch die ganze Gesell­schaft. Lasst uns in den Wochen bis zur Urteils­ver­kün­dung in München gemeinsam darüber beraten, wie ein Wupper­taler Beitrag zu den dezen­tralen Aktionen zum „Tag X“ aussehen kann, mit dem wir auch in unserer Stadt von rassis­ti­scher Gewalt Bedrohten zeigen, dass sie sich nicht alleine wehren müssen.

Was immer dabei heraus­kommt : Wir sehen uns auf der Straße – in München oder Wuppertal !


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In der Rechtskurve verunfallt

Zum (vorläu­figen) Abschluss der Reihe „Politik in der Rechts­kurve“

Zwei Wochen vor der Bundes­tags­wahl konnten wir Regina Wamper vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozial­for­schung für unsere fünfte und vorerst letzte Veran­stal­tung der Reihe „Politik in der Rechts­kurve“ gewinnen. Im Rahmen der lokalen Aktions­tage zur „We‘ll come United“-Demonstration in Berlin richteten wir unseren Fokus nach den voran­ge­gangen Diskus­sionen zu rechter Politik auf den Philip­pinen, in der Türkei und Frank­reich auf die Diskurs­ver­schie­bungen in Deutsch­land. Heute ist der Unfall in der Rechts­kurve passiert, die Wahl gelaufen, mit der AfD sind rechts­ex­treme Einstel­lungen in Frakti­ons­stärke parla­men­ta­risch vertreten und alle anderen Parteien versu­chen rechten Diskursen hinterher zu laufen.

Erfreut stellen wir jedoch fest, dass ein Ergebnis dieses Rechts­rucks ein inzwi­schen gestei­gertes Inter­esse ist, seit dem 24. September häufen sich Veran­stal­tungen zum Thema und die meisten sind gut besucht. Für uns ist das ein geeig­neter Zeitpunkt, unsere Reihe vorerst zu beschließen, eine Fortset­zung im nächsten Jahr ist jedoch angedacht. Denn noch immer sind wir davon überzeugt, dass im trans­na­tio­nalen Maßstab „eine monokau­sale Betrach­tung der politi­schen Entwick­lung (…) nicht erfolg­ver­spre­chend [ist].“ Erst das Heraus­ar­beiten des Verbin­denden von autoritär-caesa­ris­ti­schen und libertär-rechten, national-chauvi­nis­ti­schen oder klerikal-faschis­ti­schen Konzepten, die sich zu einem scharfen weltweitem Abbiegen nach Rechts summieren, lassen sich wirksame Gegen­stra­te­gien entwi­ckeln.

Wir werden deshalb nicht nur einen Beitrag zu unserer Veran­stal­tung mit Bernard Schmid zu Frank­reich noch nachrei­chen (er ist übrigens am 2. Dezember wieder Gast in Wuppertal), sondern auch noch ein Zwischen­fazit der bishe­rigen Reihe insge­samt erarbeiten. Denn das haben die Diskus­sionen schon gezeigt : So unter­schied­lich die Ausprä­gungen rechter Politik sind, es ist jeweils die Kraft durch­ge­setzter Narra­tive, die ihren Erfolg ausma­chen. Dass wir uns mit Regina Wamper abschlie­ßend um Diskurs­ver­schie­bungen in Folge des „Sommers der Migra­tion“ in Deutsch­land geküm­mert haben, war deshalb folge­richtig.

Zur Veran­stal­tung „Flucht und Asyl : Diskurs kaputt?“ am 8.9.2017

Das Sprechen und Schreiben über Flucht und Geflüch­tete hat sich seit dem „Sommer der Migra­tion“ deutlich verän­dert. Sagbar­keits­räume sind verschoben, Tabus sind gebro­chen, Problem­set­zungen verdreht worden ; was vor drei Jahren noch als politisch und moralisch verwerf­lich galt, wird mittler­weile mit „Sachzwängen“ begründet und als normal gesetzt. Diese Verschie­bung ist nicht allein von AfD, Pegida und deren Kampf­me­dien durch­ge­setzt worden - sie spiegelt sich ebenso in der Bericht­erstat­tung und den Kommen­tar­spalten deutscher Leitme­dien. Regina Wamper hat zusammen mit Marga­rete Jäger die Tages­zei­tungen taz, FAZ und Süddeut­sche Zeitung ein Jahr lang (von August 2015 bis Juni 2016) in Hinblick auf ihre Bericht­erstat­tung in Leitar­ti­keln und Kommen­taren zum Themen­feld Flucht, Asyl und Migra­tion ausge­wertet. (Die Studie steht als pdf-Download zur Verfü­gung).

Ausgangs­punkt und Prämisse ihrer Diskurs­ana­lyse ist die Annahme, dass Medien nicht (nur) Vermitt­lungs­in­stanz von Wirklich­keit sind, diese also nicht (nur) abbilden, sondern dass sie Wirklich­keit selbst mitpro­du­zieren : Diskurse, die Art wie über gesell­schaft­liche Probleme und politi­sche Entwick­lungen berichtet wird, wirken selbst wiederum auf gesell­schaft­liche Realität ein. Die unter­suchten Leitme­dien bilden dabei ein relativ breites Spektrum von öffent­li­chem Diskurs ab und beein­flussen ihrer­seits Diskurse im Alltag und auch die Wahrneh­mung gesell­schaft­li­cher Probleme in der deutschen Mehrheits­be­völ­ke­rung. Die Analyse von Regina Wamper und Marga­rete Jäger bezieht sich zunächst auf den Flucht­dis­kurs in deutschen Medien, die Verschie­bungen in der gesell­schaft­li­chen Problem­wahr­neh­mung werden Unter­su­chungs­ge­gen­stand einer Folge­studie des DISS sein.

De-Legiti­mie­rung von Flucht : Wer ist noch „legitim Geflüch­teter“?!

Die Auftei­lung bzw. Unter­tei­lung von Geflüch­teten in „gute“ und „schlechte“ begann bereits unmit­telbar nach der Entschei­dung gegen eine Schlie­ßung der Grenzen im Spätsommer 2015 und bezog sich zunächst auf Flücht­linge mit „guter“ versus „schlechter Bleibe­per­spek­tive“ – wobei eine „schlechte Bleibe­per­spek­tive“ vor allem dieje­nigen hatten, die aus den Westbal­kan­staaten kamen und vorwie­gend Roma und arm waren. zu dem Zeitpunkt wurde eine schnelle Ableh­nung und Auswei­sung der „schlechten“ noch mit der nun notwen­digen schnellen Integra­tion der „guten“ Flücht­linge begründet, wobei das Narrativ impli­zierte, dass die notwen­digen Integra­ti­ons­res­sourcen nicht für alle zur Verfü­gung stünden. Dabei wurde selbst die ehren­amt­li­chen Flücht­lings­hilfe als begrenzte Ressource aufge­fasst. Die Forcie­rung von Abschie­bungen wurde dadurch gleichsam zum humani­tären Akt und zur Unter­stüt­zung der freiwil­ligen Flücht­lings­un­ter­stüt­zung durch die Bevöl­ke­rung.

In den Folge­mo­naten war aller­dings zu beobachten, dass immer weniger Personen unter den Begriff „legitim Geflüch­tete“ subsum­miert wurden : Zunächst fielen die Afgha­nInnen heraus, und nachdem der Innen­mi­nister äußerte, es sei unver­ständ­lich, dass Menschen ein Land verließen, in welches die Bundes­re­pu­blik Deutsch­land Soldaten schicke, gingen die zuvor relativ hohen Schutz­quoten für Afgha­nInnen tatsäch­lich zurück. Später wurden allge­mein die zuvor noch als „Schutz­su­chende“ Bezeich­neten zu „illegalen Einwan­de­rern“: Angela Merkel nutzte diesen Ausdruck im Kontext des EU-Türkei-Deals ab November/Dezember 2015 auch für dieje­nigen, die immer noch die griechi­schen Inseln erreichten. Die Trennung zwischen „guten“ und „schlechten“ Flücht­lingen erfolgte jetzt nicht mehr unter Bezug auf Herkunfts­länder und (unter­stellte) Flucht­gründe, sondern auch in Hinsicht auf den aktuellen Ort des Aufent­halts und den Zeitpunkt der Flucht. Alle, die sich ohne Visum entlang der Flucht­routen aufhielten und alle, die noch nicht in Deutsch­land angekommen waren, waren nun zu „illegi­timen Einwan­de­rern“ geworden.

Auch die Benen­nung von Problemen verschob sich zuneh­mend : Die Bericht­erstat­tung wendete sich von Problemen ab, die Flücht­linge aufgrund der Notwen­dig­keit und der Bedin­gungen ihrer Flucht haben. Statt­dessen richtete sich die Aufmerk­sam­keit immer mehr auf die angeb­li­chen oder tatsäch­li­chen Probleme, die die meistens übertrieben darge­stellte hohe Zahl der Geflüch­teten für das Land mit sich bringt : Angefangen von Manage­ment-Problemen bei der Aufnahme und Unter­brin­gung, knappen Ressourcen an Wohnraum oder Deutsch­kursen, bis hin zu einem diffusen Bedro­hungs­sze­nario durch eine „unkon­trol­lierte Zuwan­de­rung“. Als Bedro­hungs­sze­nario entwarfen manche Journa­lis­tInnen zu Recht die zuneh­menden rassis­ti­schen Mobili­sie­rungen, die sie jedoch als angeb­lich unaus­weich­liche Folge der Migra­ti­ons­be­we­gung oft wieder den gestie­genen Flücht­lings­zahlen zuschrieben.

Aus „Schutz für Schutz­su­chende“ wird „Schutz vor Schutz­su­chenden“

Die Phrase von der „kippenden Stimmung“, womit das baldige Ende der zuvor noch ausge­ru­fenen „Willkom­mens­kultur“ gemeint war, wurde in allen unter­suchten Medien spätes­tens ab Oktober 2015 wie ein Mantra wieder­holt und die Prognose durch die ständige Wieder­ho­lung zuneh­mend unhin­ter­fragbar. Unter­stellt wurde dabei häufig, dass Migra­tion zu Rassismus und mehr Migra­tion zu mehr Rassismus führt – eine Behaup­tung, die empirisch nicht belegbar ist. Zugleich wurde die Hilfs­be­reit­schaft vieler Menschen schon ab Ende September 2015 zunächst verein­zelt, dann immer häufiger als naiv abgewertet. In einer grotesken Ursache-Wirkungs-Verdre­hung wurde die zuvor gefei­erte „Willkom­mens­kultur“ von einem FAZ-Autoren sogar verdäch­tigt, als „Pull-Faktor“ zu wirken, die Menschen mit Teddy­bären und selbst­ge­ba­ckenem Kuchen also erst nach Europa zu locken.

Während einer­seits bis zum Ende des Jahres 2015 die Integra­tion der Angekom­menen proble­ma­ti­siert wurde, wobei noch immer auch die Bedürf­nisse und Probleme der Geflüch­teten argumen­tativ einbe­zogen wurden, richtete sich die mediale Kritik somit zunächst gegen die „naiven“ Helfer und Unter­stüt­ze­rinnen. Wenn Geflüch­tete nicht durch die von ihnen produ­zierte Hilfs­be­reit­schaft nach Europa „gelockt“ würden, ergäbe sich gar kein Anlass für „die Sorgen der Bürger“ und damit kein Anlass für Rassismus. Die damals sprung­haft zuneh­menden Angriffe auf geplante und bewohnte Unter­brin­gungen und die damit verbun­denen Bedro­hung der Geflüch­teten wurden so unaus­ge­spro­chen dem hilfs­be­reiten Teil der Gesell­schaft in die Schuhe geschoben. Das von der AfD und „Pegida“ bis heute verwen­dete Narrativ der „Volks­ver­räter“ findet in dieser perfiden Argumen­ta­tion in den Diskursen zum Ende des Jahres 2015 einen seiner medialen Vorläufer.

Spätes­tens nach den sexis­ti­schen Übergriffen in der Silves­ter­nacht 2015/2016 in Köln wurden Flücht­linge dann selbst nicht mehr als Bedrohte, sondern ihrer­seits als die Bedro­henden darge­stellt. Aus „Schutz für Geflüch­tete“ wurde „Schutz für Deutsche“, womit sich der Mainstream-Diskurs endgültig den Argumen­ta­ti­ons­mus­tern der AfD annäherte. Diese neuer­liche Verschie­bung fiel zeitlich mit hekti­schen politi­schen Maßnahmen zum Fernhalten, zur Entrech­tung und schnellen Auswei­sung der (nicht erwünschten) Flücht­linge zusammen. Der EU-Türkei-Deal, die Asylpa­kete 1 und 2, die Beschleu­ni­gung von Abschie­bungen wurden dementspre­chend auch in der Presse angesichts „zu vieler Geflüch­teter“ immer mehr zu notwen­digen Sachzwängen erklärt.

Die absurde Propa­ganda von der „Lügen­presse“

Im Zuge dessen rückte zuvor auch für konser­vativ bürger­liche Kommen­ta­toren noch Unfor­mu­lier­bares immer mehr in den Bereich von akzep­ta­blen Forde­rungen : zeitlich unbegrenzter Sonder-Lager­zwang, keine Einschu­lung von Flücht­lings­kin­dern, das Ertrinken-Lassen vor den Grenzen Europas oder das völker­rechts­wid­rige Refou­le­ment (Zurück­schieben) von Flüch­tenden in Länder, in denen sie recht- und schutzlos sind. Heute ist all dies skanda­löse aber kaum noch hinter­fragte Realität. Boots­un­glücke im Mittel­meer sind inzwi­schen europäi­scher Alltag, Rettungs­or­ga­ni­sa­tionen werden als krimi­nelle Organi­sa­tion behan­delt und Sklaven­handel und Verge­wal­ti­gungen oder Folter in libyschen „Auffang­zen­tren“ führen nicht zum Ende der Koope­ra­tion mit der selbst­er­nannten libyschen Küsten­wache.

Als De Maiziére den EU-Türkei-Deal im April 2016 mit dem Satz „Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig.“ kommen­tierte, hatte er Recht - nicht mit dem „Ansatz“, aber mit dem Gewöh­nungs­ef­fekt. Die heute jetzt auch parla­men­ta­risch vertre­tenen rassis­ti­schen und menschen­ver­ach­tenden Aussagen und Forde­rungen der AfD und ihrer Anhän­ge­rInnen wurden durch die „Leitme­dien“ bereits früh norma­li­siert und vorbe­reitet. Es ist ein absurder Vorgang, dass diese mediale Diskurs­ver­schie­bung nach rechts hinter der Propa­ganda der AfD von einer angeb­li­chen „Lügen­presse“ beinahe verschwindet. Der Zeitraum einer „flücht­lings­freund­li­chen“ Bericht­erstat­tung, auf den sich diese Propa­ganda beruft, war kurz – schon im September 2015 sind viele „Leitme­dien“ nach rechts abgebogen.

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