Türkei beginnt Krieg gegen Kurd*innen

Die Toten von Suruç sind kaum beerdigt, da lässt das AKP-Regime alle Masken fallen und beginnt einen als « Antiter­ror­ein­satz » gegen die « IS»-Milizen nur mühselig kaschierten Krieg gegen die Kurd*innen in- und außer­halb der Türkei.

Milizen beschützen Beerdigung von Suruç-Opfer in Istanbul

Milizen beschützen Beerdi­gung von Suruç-Opfer in Istanbul

Kurd*innen werden ausge­lie­fert

Dass westliche Politiker*innen und Medien trotz der Offen­sicht­lich­keit an der Legende festhalten – (während dieser Artikel geschrieben wird, übernimmt das Radio­pro­gramm des DLF nahezu unhin­ter­fragt die türki­sche Propa­ganda, die Türkei habe « endlich ihre Strategie gegen den IS geändert») – und die Bombar­die­rungen von kurdi­schen Dörfern und PKK-Stellungen im Nordirak ebenso eher beiläufig erwähnen wie der türki­sche Minis­ter­prä­si­dent Ahmet Davutoğlu, zeigt, dass der neue Krieg gegen die kurdi­sche Bewegung mit ihrer Billi­gung begonnen wurde. Dahinter steht wahrschein­lich das Kalkül, dafür tatsäch­lich eine Reduzie­rung der notori­schen türki­schen Unter­stüt­zung für den « IS » errei­chen zu können. Damit passiert das, was die meisten Kurd*innen und viele ihrer Unterstützer*innen prognos­ti­zierten : Der Westen – die USA und Europa – liefern die Kurd*innen den türki­schen Inter­essen aus.

Seit der Wahlnie­der­lage Erdoğans war das Szenario eines neuen Krieges gegen die PKK und wohl auch gegen die YPG-Einheiten in Syrien ein Mentekel, das nur kurzzeitig vom Jubel über den gleich­zei­tigen Einzug der linken und kurdi­schen HDP ins Parla­ment überdeckt werden konnte. Spätes­tens mit dem Schei­tern der Koali­ti­ons­ver­hand­lungen war abzusehen, dass weitere brutale Anschläge folgen würden um kurdi­sche Reaktionen zu provo­zieren, nachdem das Attentat auf die HDP-Wahlver­an­stal­tung in Amed zwei Tage vor der Wahl dazu nicht ausge­reicht hatte. Zumin­dest Teile der AKP erhoffen sich durch einen Krieg offen­sicht­lich eine bessere Ausgangs­po­si­tion bei angekün­digten Neuwahlen und – je nach Lage – vielleicht sogar die Möglich­keit, die HDP verbieten zu können. Außerdem soll dem revolu­tio­nären Experi­ment im kurdi­schen Rojava erklär­ter­maßen der Garaus gemacht werden.

Aktuelle Lage in Rojava. Türkei fürchtet Verbindung der Kantone.

Aktuelle Lage in Rojava. Türkei fürchtet Verbin­dung der Kantone.

« Vier Mann und acht Raketen »

Letzten Montag war es dann soweit : Der Selbst­mord­an­schlag von Suruç auf die Versamm­lung der Kobanê-Helfer*innen lieferte gleich doppelt den Vorwand, mit dem Krieg zu beginnen. Er begrün­dete einer­seits das Vorgehen gegen « IS»-Stellungen in Rojava, das für die Schaf­fung einer türkisch kontrol­lierten « Puffer­zone » Voraus­set­zung ist, und anderer­seits schufen die erwart­baren Reaktionen der Kurd*innen in der Türkei einen Grund für die Beendi­gung des offiziell noch in Kraft befind­li­chen « Waffen­still­stands » mit der PKK. Seither rollt eine offen­kundig von langer Hand geplante eskala­tive Opera­tion zum Beginn eines neuen offenen Kriegs gegen die PKK über das Land und die Region.

Zunächst wurden u.a. die Trauer­mär­sche für die in Suruç Getöteten von der Polizei angegriffen und damit gezeigt, wie sich der türki­sche Staat gegen­über jungen linken Türk*innen positio­niert, die sich mit der kurdi­schen Revolu­tion in Rojava solida­ri­sieren. Im Anschluss begann am gestrigen Tag eine syste­ma­ti­sche Verfol­gung linker und kurdi­scher Aktivist*innen, die bis heute Mittag zur Verhaf­tung mehrerer hundert Menschen führte ; heute wurden dann linke und kurdi­sche Medien, die darüber hätten berichten können, zum Schweigen gebracht, schließ­lich folgten die ersten militä­ri­schen Opera­tionen gegen kurdi­sche Gebiete und Stellungen der kurdi­schen Guerilla seit dem Beginn des « Friedens­pro­zesses » 2013.

Behaup­tungen, türki­sche Stellen wie bspw. der Geheim­dienst MIT, seien in den auslö­senden Anschlag von Suruç invol­viert, erscheinen nur auf den ersten Blick speku­lativ. « Wenn man sich an die Anfang 2014 bekannt gewor­denen Planspiele des damaligen Geheim­dienst­chefs Hakan Fidan und des damaligen Außen­mi­nis­ters [und heutigen Minis­ter­prä­si­denten] Ahmet Davutoğlu erinnert, mit „vier Mann und acht Raketen” einen Kriegs­grund in Syrien zu insze­nieren » erscheint eine staat­liche Verstri­ckung gar nicht unwahr­schein­lich, findet auch Deniz Yüksel in seinem Artikel für die « Welt » vom heutigen Tag.

Eigene infor­ma­ti­ons­ka­näle öffnen !

Die weitere Entwick­lung scheint vorge­zeichnet : Die Repres­sion in der Türkei wird unter den Bedin­gungen eines medialen « Black­outs » linker und kurdi­scher Presse ebenso fortge­setzt wie die Luftschläge gegen kurdi­sche Stellungen und Gebiete. Und in Rojava wird die türki­sche Armee versu­chen, den schon lange gefor­derten « Sicher­heits­streifen » zu besetzen, in dem dann auch Kobanê läge.

Und was jetzt ? Zorn und Wut über die Abseh­bar­keit der offenbar geplanten Eskala­tion und die Willfäh­rig­keit von Politik und Medien laufen wie so oft erstmal ins Leere : Wir können wieder einmal zunächst wenig tun. Dennoch ist es wichtig, jetzt unseren Kontakt zu den kurdi­schen Freund*innen zu inten­si­vieren. Wenigs­tens können wir ihnen dabei helfen, der türki­schen Propa­ganda eigene Infor­ma­tionen entge­gen­zu­setzen. Dafür sollten wir ihnen jetzt unsere Kanäle zur Verfü­gung stellen – erst Recht, wenn der türki­sche Staat versucht, ihre Medien in der Türkei zum Schweigen zu bringen.

Biji Berxwedan !

Weitere Infor­ma­tionen zur Situa­tion :

YXK-Liveti­cker (Verband kurdi­scher Studie­render)
YXK bei Facebook
Analyse von Civaka Azad
Artikel von Deniz Yüksel in der „Welt”
Firat­news / ANF-News (english)
DIHA Newsa­gency (english)
Hawar News Agency (english)

Anadolu Newsblog zur Verhaf­tungs­welle und zum Tod einer Genossin :
Zur Verhaf­tungs­welle in der Türkei
Engl. Erklä­rung der Anwälte der getöteten Gunay Özarslan

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Solidarität mit den Opfern von Suruç !

Etwa 250 Menschen bekun­deten am frühen Montag­abend in Wuppertal-Elber­feld bei einer spontanen Demons­tra­tion ihre Solida­rität mit den Opfern des Massa­kers von Suruç an der türkisch-syrischen Grenze, nur wenige Kilometer von Kobanê in Rojava entfernt. Der Bomben­an­schlag galt einer großen Gruppe von meist sehr jungen Aktivist*innen aus der gesamten Türkei, die sich am Neuaufbau des weitge­hend zerstörten Kobanê betei­ligen wollten und im « Amara-Kultur­zen­trum » der türki­schen Grenz­stadt zu Beratungen zusam­men­ge­kommen waren.

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Trotz sehr kurzer Mobili­sie­rung : 250 Menschen kamen zur Demo

Das von einem « IS»-Sympathisanten ausge­führte Selbst­mord­at­tentat kostete über dreissig jungen Menschen das Leben, dutzende andere wurden zum Teil lebens­ge­fähr­lich verletzt. Europa­weit löste der Anschlag einen Schock bei allen aus, die den kurdi­schen Kampf um Kobanê verfolgt und nach der Befreiung die Bemühungen um einen Aufbau der Stadt auf irgend­eine Art unter­stützt hatten. Viele Menschen konnten und können sich eine tatkräf­tige Mithilfe bei der Unter­stüt­zung der Revolu­tion und der Reorga­ni­sa­tion der Stadt vorstellen. Auch aus Deutsch­land befindet sich gerade eine von der « MLPD » organi­sierte Brigade in Kobanê, um dort ein Kranken­haus neu zu errichten.

In der Türkei kam es infolge des Atten­tats in den letzten beiden Nächten in Teilen Istan­buls, im kurdi­schen Amed und anderen Städten zu heftigen Riots, es gab militante Angriffe auf Polizei­sta­tionen und zwei Mitglieder einer türki­schen Antiter­ror­ein­heit wurden wegen einer angeb­li­chen Zusam­men­ar­beit mit den « IS»-Terroristen in ihren Häusern nahe Urfa getötet. Eine Unter­stüt­zung der türki­schen Regie­rung für den « IS»-Terror ist mehrfach nachge­wiesen und ein Anschlag wie der von Suruç kann ohne Kenntnis der Sicher­heits­be­hörden, die sonst jede Bewegung in die Grenz­re­gion zu Syrien beobachten, kaum vorbe­reitet und ausge­führt worden sein. Zur « Straf­ak­tion » gegen die Terror­ein­heit bei Urfa hat sich inzwi­schen die « HPG », der militä­ri­sche Arm der PKK bekannt. Der ohnehin stets fragwür­dige « Friedens­pro­zess » zwischen PKK und der türki­schen AKP-Regie­rung steht nun unmit­telbar vor dem Schei­tern, eine Rückkehr zum offenen Krieg erscheint wieder denkbar.

Bei der Demons­tra­tion in Wuppertal, an der erfeu­li­cher­weise viele radikale « deutsche » Linke teilnahmen, schwankte die Stimmung zwischen tiefer Trauer über den Verlust vieler solida­ri­scher Menschen und großem Zorn. Der richtete sich gegen den Terror der « IS»-Milizen und gegen die türki­sche Politik, die zwischen der Erwägung eines Einmarschs in die syrische Grenz­re­gion und einer teils offenen Unter­stüt­zung der mörde­ri­schen Milizen pendelt, dabei aber zur gleichen Zeit das Embargo gegen Rojava aufrecht­erhält. Zornig machte viele aber auch die eher unbetei­ligte Reaktion der deutschen Öffent­lich­keit zum brutalen Angriff auf das Jugend­camp, nachdem viele Politiker*innen und auch Bürger*innen noch zu Beginn des Jahres nicht müde wurden, sich mit den Opfern des Atten­tats auf die Redak­tion der Zeitschrift « Charly Hebdo » in Paris geradezu hyste­risch zu identi­fi­zieren.

Doch war eine solche Identi­fi­ka­tion vor allem im Hinblick auf die deutsche Regie­rungs­po­litik auch wesent­lich einfa­cher als eine gleich starke Bezug­nahme auf die Opfer des jetztigen Massa­kers von Suruç. Denn das ginge schließ­lich nicht ohne eine Aufgabe der engen Zusam­men­ar­beit mit dem Erdogan-Regime und nicht ohne eine Beendi­gung aller Waffen­lie­fe­rungen in die Golfstaaten. Bei der Abschluss­kund­ge­bung am Montag wurde darauf explizit hinge­wiesen : Wenn das Morden und Verge­wal­tigen durch die « IS»-Banden aufhören soll, muss die kolla­bo­ra­tive Politik Deutsch­lands und der EU sofort ein Ende finden. Ohne eine solche Verän­de­rung der Politik bleiben alle Beileids­be­kun­dungen für die Freund*innen und Angehö­renden der am Montag Getöteten nichts als schmerz­hafte hohle Phrasen.

Wir werden unseren Kontakt zu unseren kurdi­schen Freund*innen in den nächsten Wochen weiter inten­si­vieren. Die Ereig­nisse von Suruç werden sich in unserer Zusam­men­ar­beit nieder­schlagen, gemeinsam geplante Veran­stal­tungen und Vorhaben können davon und von der weiteren Entwick­lung in der Türkei und in Kurdi­stan nicht unberührt bleiben.

Biji Berxwe­dana Kobanê !

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