Es ist jetzt 23 Jahre her, dass im nahen Solingen einer der mörderischsten Nazi-Angriffe in Deutschland nach 1945 stattfand. Beim Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç in der Unteren Wernerstraße starben fünf Frauen und Mädchen. Die jüngste der fünf Getöteten, Saime Genç, würde diesen August gerade einmal 28 Jahre alt. 17 weitere Menschen aus ihrer Familie wurden bei dem Anschlag teilweise schwerstverletzt.
Heute, 23 Jahre später, ist es nicht so gekommen, wie viele von uns damals hofften. Die gesellschaftliche Empörung über den fünffachen Mord und die auf den Anschlag folgende Mobilisierung führten nicht dazu, dass heute ein dem traurigen Anlass entsprechendes stilles Gedenken reichen würde, weil menschenfeindlichem Hass auf Andere der Boden entzogen worden wäre. Im Gegenteil : Die Erinnerung an die Geschehnisse des späten Mai 1993 ist zunehmend verblasst, während Nazi-Morde und ausgelebte rassistische Gewaltphantasien ständig weitergingen. Aktuell findet rechte Gewalt gegen als « anders » definierte Gruppen wieder in Dimensionen statt, die sich durch nichts von den massenhaften Angriffen auf Menschen und Unterkünfte in den neunziger Jahren unterscheiden.
Im Rückblick auf die Ereignisse von Solingen lassen sich Ursachen für das Scheitern finden. Es handelt sich um mörderische Kontinuitäten des Umgangs der Mehrheitsgesellschaft mit Minderheiten und um Kontinuitäten einer niemals beendeten Komplizenschaft des deutschen Sicherheitsapparats mit Strukturen der Nazis. Es handelt sich manchmal auch um ein « nicht-wahrhaben-wollen » unsererseits, weil das « wahrhaben-wollen » bedeutete, antifaschistische Arbeit und antifaschistische Intervention einer Neudefinition unterziehen zu müssen. Die Konsequenzen zeigen sich jetzt bei der Suche nach der richtigen Strategie im Umgang mit die Straße erobernden rassistischen Mobs und in die Parlamente einziehenden Nazis. Gerade deshalb ist es uns wichtig, die Kontinuitäten nochmals zu benennen und zum Ausgangspunkt künftigen Handelns zu machen.
Die Mehrheitsgesellschaft schottet sich ab
Die Opfer wurden vor 23 Jahren bereits ebenso ausgegrenzt wie es später den Mordopfern des NSU passierte. Zwar wurde die Familie Genç nicht zum Hauptziel der polizeilichen Ermittlungen gemacht, wie es später etwa den Çimçeks oder Kubasiks widerfuhr, doch zu wenige nahmen die Ermordeten und ihre Angehörigen als gleichberechtigten Teil der Gesellschaft wahr. Ihr Schicksal erhielt zum Teil weniger Aufmerksamkeit als das der verurteilten Täter. Exemplarisch dafür war die Weigerung des damaligen Kanzlers Helmut Kohl, an der Beerdigung der fünf Ermordeten teilzunehmen, weil er nicht « in Beileidstourismus ausbrechen » wolle.
Bis heute sind rassistische Angriffe und Gewalttaten gegen Migrantinnen zu oft kein Angriff « auf uns alle ». Sich vor Nazigewalt fürchtende migrantische Nachbarn bleiben mit ihren Ängsten oft alleine. Die Kontinuität völkischer Identität der hiesigen Gesellschaft, die selbst in der dritten Generation im Land Geborene ausgrenzt, ist ungebrochen. Die Abschottung eines großen Teils der deutschen Gesellschaft ist offensichtlich – nach innen durch die Abgrenzung einer « Leitkultur » von « Ausländern », nach außen durch die im europäischen Kontext von Deutschland maßgeblich durchgesetzte abgesicherte « Festung Europa » manifestiert.
Migrantische Selbstorganisation bleibt isoliert und wird kriminalisiert
Unsere Aufgabe wäre es, dagegenzuhalten und gemeinsam mit selbstorganisierten migrantischen Strukturen der deutschen Mehrheitsgesellschaft in den Rücken zu fallen. Doch Versuche dazu werden oft gar nicht erst unternommen oder nach zu kurzer Zeit abgebrochen. Auch hier lohnt der Blick zurück auf Solingen vor 23 Jahren. Immerhin stand Solingen ’93 auch für eine erste massenhafte Gegenwehr migrantischer, in diesem Fall türkischstämmiger Menschen. In der Solinger Innenstadt kam es tagelang zu selbstorganisierten Demonstrationen und Riots. Diese Ereignisse sind für Nazis und Rassisten in den migrantisch geprägten Vierteln (west-)deutscher Städte bis heute eine Warnung – ebenso wie einige frühe Versuche des Aufbaus gemeinsamer antifaschistischer Strukturen, zu denen es nach dem Anschlag ’93 etwa auf dem Wuppertaler Ölberg und anderenorts kam.
Leider wurden diese nicht dauerhaft verfestigt. Als migrantische Vereine 2006 nach dem Mord an Mehmet Kubasik in Dortmund gegen die damals noch als « Döner-Morde » bezeichneten NSU-Morde auf der Straße demonstrierten, blieben Migrantinnen weitgehend unter sich. Die Chance wurde vertan, durch gemeinsames Handeln auch zu einer gemeinsamen antifaschistischen, nicht-völkischen Identität zu gelangen. Darüberhinaus wurden und werden aber auch jene Migranten und Migrantinnen alleine gelassen, die sich in ihren Communities gegen die eigenen Nationalisten und Faschisten durchzusetzen versuchen, die ihrerseits alles unternehmen, um Proteste und Initiativen zu instrumentalisieren. Auch das war bereits in Solingen 1993 zu beobachten.
Staat und Nazis Hand in Hand
Das Ausbleiben gemeinsamer Organisation spielt jedoch vor allem einem in die Hand : Dem deutschen Staat. Dessen Furcht vor emanzipatorischer migrantischer Selbstorganisation – vor allem, wenn sie auch noch mit linken deutschen Strukturen kooperiert – ist ebenso kontinuierlich wie seine eigene Zusammenarbeit mit Nazis. Auch hier hätte es nicht des NSU-Komplexes bedurft, um zu bemerken, wie eng und symbiotisch die Verflechtungen deutscher Sicherheitsbehörden mit militant agierenden Nazis in Wirklichkeit sind. Wie später beim NSU war der Verfassungsschutz auch 1993 in die Morde nicht nur verwickelt, er trieb die Entwicklung des Naziterrors durch seinen Solinger V-Mann Schmitt maßgeblich mit voran.
In dessen Kampfsportschule « Hak Pao » ging seinerzeit die militante rechte Szene ein und aus, dort ausgebildete Kämpfer stellten den Saalschutz für Nazi-Veranstaltungen. Drei der vier für den Solinger Anschlag Verurteilten waren Mitglied in Schmitts « Deutschem Hochleistungs-Kampfkunstverband ». Dort trafen sie u.a. auf spätere Kreisvorsitzende der FAP oder auf Meinolf Schönborn, damals « Generalsekretär » der 1992 verbotenen « Nationalistischen Front » und bis heute in Nazi-Netzwerken aktiver Funktionär. Der damalige NRW-Innenminister Schnoor (SPD) setzte alle Hebel in Bewegung, um die Verstrickung seines V-Mannes in die Solinger Morde zu vertuschen. AntifaschistInnen, die dazu recherchierten, wurden massiv unter Druck gesetzt, nicht weiter zu dem Thema zu arbeiten.
Personelle Kontinuitäten
Die schnelle und bis heute nicht unumstrittene Festlegung auf die später verurteilten Täter durch Sonderkommission und Staatsanwaltschaft verhinderte, dass zu den Hintergründen der Morde um das Gym « Hak Pao » weiter ermittelt wurde. Obwohl selbst dem damaligen BKA-Chef Zachert die Beweislage « sehr schwach » vorgekommen war, wurden die Ermittlungen auf die offizielle Version des Brandanschlages am 29.5.1993 beschränkt. Der im BKA zuständige Einsatzleiter der « Sonderkommission Solingen », Paul Kröschel, widersprach seinerzeit seinem Dienstvorgesetzten und stützte die These von vier jungen und isoliert agierenden Tätern entscheidend. Zu den inhaltlichen gesellen sich an dieser Stelle personelle Kontinuitäten.
Denn Paul Kröschel, der 1993 jene BKA-Sonderkommission leitete, ist bis heute an entscheidender Stelle im Bundeskriminalamt tätig. Als Chef für « politisch motivierten ausländischen Terror », agiert der Beamte an der Schnittstelle zwischen Polizei und Geheimdiensten. Kröschel tritt immer dann in Aktion, wenn « übergeordnete Interessen » der Bundesrepublik Deutschland vor polizeilichem Ermittlungseifer geschützt werden müssen. Seine speziellen Fähigkeiten waren bei der Auslieferung des syrischstämmigen Deutschen Mohammed Sammar in syrische Folterkeller durch die CIA ebenso gefragt, wie bei der umfangreichen Vertuschung der BND-Tätigkeit des verurteilten DHKP-C Funktionärs Alaattin Ates.
Angeklagt ist Latife, gemeint sind wir alle
Gespenstisch wird diese personelle Kontinuität für uns dadurch, dass das BKA unter seiner Führung andererseits gegen migrantische Selbstorganisationen ermittelt, u.a. gegen unsere Wuppertaler Freundin Latife. Sie ist seit fast einem Jahr vor dem 5. Senat des Oberlandesgericht Düsseldorf angeklagt, einer « ausländischen terroristischen Vereinigung » anzugehören. Im schlimmsten Fall droht ihr eine mehrjährige Haftstrafe. Paul Kröschel trat bei ihrem Prozess von der Öffentlichkeit fast unbemerkt als wichtiger Belastungszeuge auf. Er verwertete Aussagen den BND-Mitarbeiters Ates, weigerte sich aber, etwas dazu zu sagen, dass Latifes Verhaftung auf dem Höhepunkt der Gezi-Proteste unmittelbar nach einer geheimen türkisch-deutschen Konsultation von Sicherheitsbehörden stattfand. In der Person des BKA-Beamten Kröschel fallen die Kontinuitäten der Vertuschung und die Kriminalisierung migrantischer Selbstorganisation zusammen.
An Latifes Verfahren ist auch ablesbar, dass es unverständliche Zurückhaltung unsererseits gibt, wenn es darum ginge, in einem solchen Fall solidarisch zu sein. Zu wenige interessieren sich für ihren Prozess. Immerhin war Latife noch vor drei Jahren auch Mitorganisatorin der Gedenkdemonstration in Solingen zum 20. Jahrestag – die damalige Demo ist übrigens gar Teil der Anklage, die zwar keine strafrechtlich relevanten Vorwürfe enthält, dafür aber alle politischen Tätigkeiten einer aktiven Migrantin aufzählt. Dass der Leiter der damaligen Sonderkommission heute als Belastungszeuge gegen eine Mitorganisatorin des Gedenkens an die Solinger Morde auftritt, verbuchen wir als üblen Treppenwitz der Geschichte.
Auf nach Solingen !
Heute mit politisch aktiven Migrantinnen solidarisch zu sein und damit auch die völkische Basis der deutschen Mehrheitsgesellschaft anzugreifen, sollte uns angesichts der Ereignisse von 1993 ebenso Verpflichtung sein, wie das Zulassen der Erkenntnis, dass Geheimdienste und Sicherheitsbehörden immer Teil des Problemes und niemals Teil der Lösung sind. Gerade in Wuppertal, wo erst im vergangenen Jahr nach einem Mordversuch durch Nazi-Hooligans an einem migrantischen Antifaschisten zunächst Besucherinnen des Autonomen Zentrums kriminalisiert werden sollten und frühzeitige Hinweise auf einen Anschlag auf das AZ ingnoriert wurden, sollten wir das wissen.
Kommt am Samstag zur Demonstration nach Solingen !
Seid solidarisch mit Latife und besucht ihren Prozess !
- Aufruf von Bunt statt Braun in Solingen zur Demonstration
- Online-Dossier Solingen 1993 (digitalisierte Originalartikel)
Einige weitere Links :
- SPIEGEL-TV-Stück von damals zu « Hak Pao »
- « Neofaschistische Gruppen in Solingen » Antifaschistische Nachrichten (Online-Archiv « Solingen 1993»)
- « Heilloses Chaos » Der SPIEGEL v. 29.11.1993 zu Fragen zur offiziellen Version des Tathergangs
- « Politischer GAU » Der SPIEGEL v. 06.06.1994 zur Verwicklung des NRW-Verfassungsschutzes
- « BND unterstützt türkische Terror-Organisation » Deutsch-Türkische Nachrichten v. 27.05.14, u.a. zu Ates
- « BKA ist sicher : Anatolische Föderation = DHKP-C » Annette Hauschild, taz-Blog v. 23.11.2010, u.a. zu Ates
- « Ates erhält Bewährungsstrafe » Annette Hauschild, taz-Blog v. 23.09.2011 zum Urteil gegen Alaattin Ates