20 Jahre Rostock – nichts ist vergessen, nichts ist vergeben !

Zur Veran­stal­tung am 15.08.: « 20 Jahre Rostock – nichts ist vergessen, nichts ist vergeben ! »

Blutspuren

Im August 1992 griff ein losge­löster Mob unter dem Beifall der Einwoh­ne­rInnen des Rosto­cker Stadt­teils Lichten­hagen über mehrere Tage und Nächte gemeinsam mit organi­sierten Nazis die im Stadt­teil befind­liche « Zentrale Aufnah­me­stelle für Asylbe­werber » (ZASt) an. Am Montag­mittag, den 24.August konnte die Polizei die Sicher­heit der Flücht­linge nicht länger garan­tieren, nachdem über das Wochen­ende bis zu 2.000 Menschen immer wieder zu Angriffen angesetzt hatten. Die ZASt wurde evaku­iert. Nach dem Pogrom von Hoyers­werda ein knappes Jahr zuvor reagierte die Staats­macht ein zweites Mal durch Kapitu­la­tion auf rassis­ti­sche Ausschrei­tungen der Bevöl­ke­rung, indem erneut die « Ausländer » wegge­bracht wurden.

« Vergessen » wurden bei der Evaku­ie­rung jedoch 115 ehema­lige vietna­me­si­sche Vertrags­ar­bei­te­rInnen im Haus nebenan. Unter ihnen waren auch Kinder. Am Abend des 24.08. richtete sich der Mob gegen deren Unter­kunft. Es wurden Steine und Mollis gegen das Haus geworfen. Schließ­lich standen drei Wohnungen in Flammen. Unter dem Jubel eines Großteils der Lichten­ha­gener Bevöl­ke­rung, die schon an den Tagen zuvor jeden auf das Haus geschleu­derten Stein bei Würst­chen und Bier in der nahege­le­genen Imbiss-Bude « Happi Happi bei Appi » gefeiert hatte, gerieten die Menschen im Haus – neben den vietna­me­si­schen Bewoh­ne­rInnen auch einige Journa­listen, einige Antifas, der Rosto­cker Auslän­der­be­auf­tragte Wolfgang Richter, dessen Mitar­bei­terin Astrid Behlich und einige Wachleute, in akute Lebens­ge­fahr.

Ohne jede Hilfe von außen mussten sie sich einen Weg in die oberen Stock­werke und durch verschlos­sene Verbin­dungs­türen zum Nachbar­haus bahnen – auf der Flucht vor einer Horde sieges­trun­kener Täter, die unter lauten „Wir kriegen euch alle!”-Rufen ins Haus einge­drungen waren, um die einge­schlos­senen Menschen zu jagen. Endlich im Nachbar­haus angekommen, standen die verängs­tigten und verzwei­felten Geflo­henen dann  oft genug vor Wohnungs­türen, die sich ihnen nicht öffneten – nur wenige Nachbarn waren bereit, sie in ihre Wohnung zu lassen und in Sicher­heit zu bringen. Die später auch im Fernsehen zu hörenden Anrufe aus der Unter­kunft, mit denen Wolfgang Richter bei Feuer­wehr und Polizei Hilfe erfleht, lassen die Todes­angst der Verfolgten nur erahnen.

Die völlig unter­be­setzte Polizei, (nur ein einziger Zug Bereit­schafts­po­lizei war ab dem 22.08. vor Ort, erst später kamen noch zwei Hundert­schaften aus Hamburg hinzu), hatte sich im Laufe des Montag komplett zurück­ge­zogen und dem rassis­ti­schen Mob das Feld überlassen. Nur gegen einige Hundert Antifas, die nach Lichten­hagen gekommen waren, um den Angegrif­fenen zu helfen – und die im Gegen­satz zur Staats­macht die Angreifer tatsäch­lich für eine Zeit zurück­schlagen konnten – gingen die Einsatz­kräfte mit aller Härte vor. So wie auch eine Woche später, anläss­lich einer großen antifa­schis­ti­schen Demo in Lichten­hagen. Den 15-20.000 Demons­tra­ti­ons­teil­neh­me­rInnen standen auf einmal Wasser­werfer, SEK Gruppen, Hubschrauber und 27 Hundert­schaften gegen­über.

Rostock-Lichten­hagen im Sommer 2012 - Mobili­sie­rung zur Demo

In der Folge des ungebremsten Pogroms von Rostock-Lichten­hagen ereig­neten sich eine Reihe von Nachah­mungs­taten. In der Woche danach bedrohten neona­zis­ti­sche Gewalt­täter 40 Wohnheime mit Brand­sätzen und Steinen und lieferten sich Straßen­schlachten mit der Polizei. In Mecklen­burg-Vorpom­mern wurden die Asylbe­wer­ber­heime in Wismar, Rostock-Hinrichs­hagen, Lübz und Neubran­den­burg und dreimal in Greifs­wald angegriffen. In Wismar kam es zwischen dem 15. und dem 20. September zu sechs­tä­gigen Ausschrei­tungen vor dem Asylbe­wer­ber­heim, die wie in Lichten­hagen den Beifall der Anwohner fanden. Auch danach kam es beinahe täglich zu Überfällen. Allein am Wochen­ende zwischen Freitag, dem 18. September, und Sonntag, dem 20. September, wurden Asylbe­wer­ber­heime in Güstrow, Uecker­münde, Kröpelin, Schwar­zen­dorf (Kreis Malchin), Schwerin, Wismar und Retschow teilweise mehrfach und mit Molotow-Cocktails angegriffen. (Quelle : Wikipedia)

Umstände und Zustände des katastro­phalen Polizei­ein­satzes von Rostock waren im Anschluss Anlass für parla­men­ta­ri­sche Unter­su­chungen – lückenlos geklärt wurden sie nie. Dabei waren die Ereig­nisse von Rostock-Lichten­hagen eine durchaus vorher­seh­bare Eskala­tion deutschen Rassismus. Es hatte zuvor sogar konkrete Hinweise an die Behörden wie auch an Struk­turen der Antifa gegeben.

Offen­sicht­lich war jedoch staat­li­cher­seits eine Eindäm­mung der rassis­ti­schen Gewalt nicht gewollt – schließ­lich arbei­tete der damalige Bundes­in­nen­mi­nister Seiters (CDU) an der fakti­schen Abschaf­fung des Asylrechts. Am jenem Tag, der der schlimmsten Nacht in Lichten­hagen voraus­ging – am 24.August, forderte er bei einer Presse­kon­fe­renz in Rostock, der Staat müsse nun handeln. Doch meinte er damit nicht die zu diesem Zeitpunkt statt­fin­denden Gewalt­ex­zesse an der ZASt in Rostock, sondern die Beschrän­kung der Zahl der Asylbe­werber : „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkon­trol­lierten Zustrom in unser Land bekommen haben, ich hoffe, dass die letzten Beschlüsse der SPD, sich an einer Grund­ge­setz­än­de­rung zu betei­ligen, endlich den Weg frei machen. » (Quelle : Wikipedia) Die SPD machte dann den Weg tatsäch­lich frei – das nach den Erfah­rungen des « Dritten Reichs » im Grund­ge­setz veran­kerte Recht auf Asyl wurde schließ­lich am 26.Mai 1993 bis zur Unkennt­lich­keit gestutzt.

Nur drei Tage nach der Abschaf­fung des Asylrechtes im Mai ’93 brannte das Haus der Familie Genç in der Unteren Werner­straße in Solingen – die von der Regie­rung tolerierte rassis­ti­sche Gewalt in Deutsch­land hatte sich in der Zwischen­zeit von offenen Pogromen zu Terror­an­schlägen gewan­delt. Mit den Todes­op­fern von Mölln – hier brannten von türki­schen Familien bewohnte Häuser bereits im November 1992, in Solingen und mit dem nie aufge­klärten Anschlag auf das Asylbe­wer­ber­heim in Lübeck im Januar 1996 fielen dem « Brand­terror » der Nazis insge­samt 18 Menschen zum Opfer und es gab Dutzende Schwer­ver­letzte.

Heute, zwanzig Jahre nach den Ereig­nissen von Rostock-Lichten­hagen stellt sich alles noch erschre­ckender dar. Die ans Licht getre­tenen Vorgänge um den « NSU » und die offen­sicht­liche Kumpanei von staat­li­chen Behörden und Verfas­sungs­schutz mit den zehnfa­chen Mördern aus Thüringen offen­bart eine bis zuletzt nie unter­bro­chene Kette staat­lich zumin­dest tolerierter, mörde­ri­scher rechter Gewalt. Die dummdreist als « Pannen » bezeich­neten Vorgänge bei Polizei- und Verfas­sungs­schutz­be­hörden im Rahmen der fälsch­li­cher­weise « Aufklä­rung » genannten Vertu­schung der Morde des « NSU », erinnern eklatant an Verstri­ckungen des NRW-Verfas­sungs­schutzes in den damaligen Solinger Anschlag. Die Vorgänge um die von einem NRW-Verfas­sungs­schützer betrie­bene Kampf­sport­schule « Hak Pao » in Gräfrath, in der drei der vier verur­teilten Täter trainiert hatten, und die als Kader­schmiede der damaligen Naziszene des Bergi­schen Landes galt, wurden – ebenso wie später der Lübecker Brand­an­schlag – nie aufge­klärt.

Rostock-Lichten­hagen im Sommer 2012 – Mobili­sie­rung zur Demo

Von Hoyers­werda und Rostock-Lichten­hagen zieht sich über die Mordan­schläge von Mölln und Solingen bis zu den Morden des « NSU » eine Blutspur in staat­liche Stellen, die – wie bei der Asylge­setz­ge­bung zu Beginn der Neunziger– nie zögerten, aus dem Nazi-Terror Kapital zu schlagen. Und dass sich die deutsche Gesin­nung zwei Jahrzehnte nach dem « Austoben » in Rostock um keinen Deut verän­dert hat, zeigen nicht nur die unlängst bekannt­ge­wor­denen Proteste gegen eine dezen­trale Unter­brin­gung von Asylber­wer­be­rInnen in Leipzig und anderswo, sondern beispiels­weise auch die ekeler­re­genden Kommen­tare bei « BILD », nachdem das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt Flücht­lingen unlängst endlich mehr Geld zugespro­chen hat. Wer den rassis­ti­schen Hass der « Normal­bürger » als eine Angele­gen­heit von gestern betrachtet, sollte die « BILD»-Leserkommentare unten in kleinen Dosen durch­lesen…

In Rostock findet am 25.08.2012 eine bundes­weite Demo statt. Aus Köln fährt ein Bus dorthin.
(Mehr Infos zur Demo)

Veran­stal­tung « 20 Jahre Rostock – nichts ist vergessen, nichts ist vergeben ! »
Mittwoch, den 15.August 2012 – Ort : Autonomes Zentrum Wuppertal, Marko­man­nenstr. Beginn : 19:30 Uhr

Mit der Veran­stal­tung am Mittwoch, den 15.08. wollen wir, eine Woche vor dem Jahrestag des Beginns des Rosto­cker Pogroms, deshalb nicht nur die damaligen Gescheh­nisse in Erinne­rung rufen, sondern bereits jetzt auch auf den Jahrestag des mörde­rischsten Anschlags in unserer Region hinweisen. Wenn sich am 29.Mai des nächsten Jahres der Solinger Brand­an­schlag ebenfalls zum zwanzigsten Mal jährt, werden sich antifa­schis­ti­sche Gruppen des Bergi­schen Landes dieser Heraus­for­de­rung offensiv stellen. Mit der Veran­stal­tung am Mittwoch möchten wir einen Impuls geben, sich frühzeitig mit dem traurigen Jahrestag zu beschäf­tigen.

Einen weiteren Input wird es am Mittwoch zur Mobili­sie­rung und Infor­ma­tion bezüg­lich des am 24.08. startenden Antifa-Camps in Dortmund geben, das direkt in die Vorbe­rei­tungen der Naziszene zu ihrem Aufmarsch am 01.September in Dortmund-Hörde eingreifen soll, zur Zeit aber von der Stadt Dortmund und der Polizei massiv behin­dert wird. Im Anschluss an die Filmvor­füh­rung wird es Auskunft zum letzten Stand der Planungen geben.

Der gezeigte Film :

The Truth lies in Rostock - Die Wahrheit liegt (lügt) in Rostock - BRD/GB 1993

Der fast 90-minütige Film von 1993 ist eine Montage von Video­ma­te­rial, gedreht aus den angegrif­fenen Häusern heraus, Inter­views mit Anti-Faschis­tInnen, den vietna­me­si­schen Vertrags­ar­bei­te­rInnen, der Polizei, mit Bürokraten, Neonazis und Anwoh­nern. Er rekapi­tu­liert in erschre­ckender Weise die Gescheh­nisse am sogenannten « Sonnen­blu­men­haus » vom 22. bis 25.08.1992 und beschreibt die Stimmung in einer Stadt, in der auch noch nach dem Pogrom viele Laden­be­sitzer ihr Geschäft mit in die Schau­fenster gestellten Reisig­besen vor « Zigeu­nern » schützen wollten.

Einige weiter­füh­rende Links zum Thema :
antifa​.de über das Versagen auch der Antifa im Sommer 1992

Deutscher Hass auf Flücht­linge anno 2012 - Leser­kom­men­tare bei « BILD »

Die Seite zum Thema und zur bundes­weiten Demons­tra­tion in Rostock
Die Seite des Antifa-Camps in Dortmund (24.08. bis 02.09.2012)

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