von Judith Welkmann – 6 September 2015
Dublin ist am Ende, das europäische Grenzregime kollabiert. Was ist da eigentlich passiert ? Und was muss nun passieren ?
Wie konnte dieses Grenzregime, dass kontinuierlich ausgebaut wurde, zugleich so unmerklich unterirdisch ausgehöhlt werden ? Während die Grenzzäune – mit EU-Mitteln – erhöht und mit messerscharfen NATO-Draht aufgerüstet werden, ist zeitgleich das Grenzregime in den Herzen und Köpfen kollabiert.
Es hat seine Legitimationsgrundlage verloren, weil es menschlich und emotional nicht mehr zu ertragen war. Das Wissen über und die Bilder von toten Menschen an Stränden und in Booten war schon lange nicht mehr erträglich, und auch das Wissen um die grundfalsche und menschenverachtende Architektur des Grenzregimes ist in den letzten Jahren immer mehr gewachsen. Gleichzeitig wuchs auch die Hilflosigkeit und Verzweiflung angesichts der eigenen Machtlosigkeit. Den Wunsch, etwas gegen unerträgliche Zustände zu tun, überführten viele in öffentlichkeitswirksame Performances – wie das Peng-Kollektiv oder die Political Beauty mit dem Ersten Europäischen Mauerfall. Andere, die es sich leisten konnten, oder die das nötige Know How und die Kontakte hatten, versuchten konkreter zu werden und starteten mit einer eigenen Seenotrettungsaktion.
Jetzt, in diesem Moment, entlädt sich die aufgestaute Verzweiflung gerade in euphorische Willkommensfesten an Bahnhöfen. Die Begeisterung ist auch so groß, weil es tatsächlich so scheint, als wäre ein wesentlicher Baustein des Grenzregimes gerade endgültig weggebrochen : Das Dublin-System.
Vielleicht begann tatsächlich alles im April 2013, als Lampedusa in Hamburg ihren Kampf gegen Dublin aufnahmen. Schon damals war die Unterstützung in der Hamburger Bevölkerung von linksradikal bis bürgerlich enorm. Trotzdem konnten die 300 Leute im Endeffekt das Dublin-System nicht kippen ; der Senat konnte das Problem aussitzen ; die SPD konnte sie von Anfang an ins Gesicht treten, die Grünen verkauften sie etwas später.
Auch die Protestaktionen in Berlin, die Protest-Märsche der Refugees aus Würzburg oder von Straßbourg nach Brüssel, die performativen Aktionen von KünstlerInnen und Refugees in den letzten Jahren konnten nicht erreichen, was „die Macht des Faktischen“, der Bewegung der Migration innerhalb weniger Tage zumindest temporär schaffte. Sie hat einfach die Grenzen verbrannt. Und das Irreste ist : Die meisten hier finden das großartig !
Dabei muss bei aller antirassistischen Kritik und in dem Wissen, wer Investor und zugleich Architekt des europäischen Grenzregimes ist, zu Kenntnis genommen werden, dass von Deutschland ein gewisser „Pull-Faktor“ (wie die Migrationsforscher sagen) ausgeht. Das hat selbstverständlich vor allem mit einer hier bereits lebenden Community zu tun. Und sicherlich auch mit einem ; allem Knarren und Knirschen und oft jahrelanger Antragsbearbeitungsdauer zum Trotz, noch halbwegs funktionieren Asylsystem.
Aber ohne jede Frage war es auch die Entscheidung der Bundesregierung, die Ende August auf den Systemkollaps an einem bestimmten Punkt eben nicht mit Grenzverschärfungen reagierte, sondern mit einem temporären Aussetzen der Dublin-Verordnung zumindest für SyrerInnen, was endgültig den Ausschlag gab. Dieses Eingeständnis, dass die Lage für die syrischen Flüchtlinge so dramatisch ist, dass die Regeln außer Kraft gesetzt werden müssen, die ja sowieso verwaltungspraktisch nicht funktionierten : Das war ein Dammbruch, noch vor der Entscheidung, die Züge aus Ungarn weiterfahren zu lassen, ohne die Menschen darin vorher zu registrieren. Aus Sicht antirassistischer AktivistInnen in Deutschland ist es mehr als befremdlich, wenn Flüchtlinge auf einmal Frau Merkel bejubeln. Aus Sicht der Flüchtlinge ist jedoch, ganz aktuell, die Entscheidung Deutschlands, ihre Asylanträge per sog. „Selbsteintrittsrecht“ zu prüfen, ein Glücksfall. Immerhin gibt es hier ein Aufnahmesystem und keine sofortige Inhaftierung. Immerhin gibt es hier die Chance, wenn auch erst nach einigen Monaten und manchmal Jahren, einen Aufenthalt zu bekommen und vielleicht auch die Familie nachholen zu können.
Die Entscheidung Deutschlands, von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, ist bisher begrenzt auf syrische Kriegsflüchtlinge und kann – wenn es verwaltungstechnisch wieder machbar ist – auch wieder zurückgenommen werden. Die Frage ist allerdings, ob andere europäische Länder das überhaupt noch mitmachen werden. Und wirklich umgesetzt werden konnte Dublin III ohnehin nicht mehr ; nur jede/r dreizehnte Dublin-Betroffene wurde tatsächlich abgeschoben. Die Abschiebebehörden kommen einfach nicht hinterher.
Andererseits : Die faktische innereuropäische Grenzöffnung wird nicht lange währen, ohne dass das Grenzregime an anderer Stelle wieder verstärkt wird. Abgeschoben wird mehr als je zuvor – Sammelabschiebungen in den Balkan finden inzwischen alle paar Tage statt. Und die erneute Vorverlagerung der Migrationskontrolle an die Außengrenzen deutet sich in den geplanten Auffanglagern an. Doch auch bei diesem Versuch, die Bewegung der Migration in kontrollierte Bahnen zu überführen, muss bezweifelt werden, dass er funktionieren wird.
Daraus ergeben sich nun einige Fragen, mit denen die antirassistische Linke sich in den nächsten Wochen wird befassen müssen. Denn auch wenn es gerade das euphorisierende Gefühl gibt, dass keine Grenze für immer ist und eine große Schlacht gewonnen wurde : Wir stehen nicht kurz vor der Revolution. Wir leben nach wie vor unter Bedingungen, die ein wirklich freies Fluten zu einem Mechanismus globaler Umverteilung machen würde.
Deshalb ist die Frage : Was von dem, was gerade in unserem Sinne läuft, lässt sich retten und auf Dauer stellen ? Wie lassen sich die politischen Hardliner zumindest diskursiv in der Defensive halten ? Und was lässt sich vielleicht noch erreichen ? Lässt sich zum Beispiel die enorme Solidarität, die gerade den Refugees entgegenfließt, auf die Roma aus dem Westbalkan erweitern ? Ist es den Leuten an den Bahnhöfen nicht egal, ob die Leute schon in Syrien oder Irak losgereist sind oder erst in Mazedonien ?
Und lässt sich die Hilfsbereitschaft in der „ganz normalen Bevölkerung“ auf Dauer stellen ? Trägt sie auch dann, wenn die Eliten sie dafür nicht mehr in den höchsten Tönen loben ? Ist die Solidarität der „Ehrenamtlichen“ im Ernstfall auch zur Konfrontation mit dem Staat bereit ? Das Gefühl dazu im Moment : Ja, weil die moralische Legitimation so groß ist und die öffentliche Zustimmung, dass so viele auch vor Abschiebeblockaden nicht zurückschrecken. Und das wäre vielleicht systematisch auszubauen, im Sinne einer Radikalisierung von Solidarität.
Die andere Frage ist : Wie sorgen wir dafür, dass die Stimmung nicht umschlägt, wenn die Flüchtlingsaufnahme tatsächlich spürbare Kosten verursacht : Wenn Schulsporthallen zu Notunterkünften ausgebaut werden und dort kein Sportunterricht mehr stattfindet, oder wenn die Mieten gerade im unteren Segment anziehen und Wohnraum knapp wird ? Wenn aufgrund der angespannten Personallage in den Kommunen die Wartezeiten noch länger werden ? Es wird dazu kommen, dass gerade die Sozialleistungsempfänger und sozial Schwachen mit den neuen NachbarInnen Wohnraum, soziale Infrastruktur und andere knappe Ressourcen teilen müssen. Ohne eine massive Umverteilung – bspw. die beschlagnahme leerstehenden Wohnraums – kommt es tatsächlich zu Konkurrenzsituationen, und die Stimmung kann irgendwann in Ablehnung umschlagen.
Von daher sollte unsere Botschaft sein : Es ist genug für alle da ! Diese Botschaft muss aber auch erlebbar sein und unterfüttert werden. Die Betonung, dass umverteilt werden muss, ist da nur eine Ebene von mehreren. Wenn Solidarität praktisch werden soll, wird sie sich nicht exklusiv auf Refugees richten können. Die Linke sollte die Forderung nach Bewegungsfreiheit, die soziale Frage und die Forderung nach Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums nicht als getrennte Kampfterrains begreifen.