In Cannes – Le Pen-Kernland in Frankreich – findet in diesen Tagen die große immobilienmesse „MIPIM” statt, bei der sich Großvermieter, fette Investoren, Betreiber von Shoppingmalls, Gated Communities und immer neuen Yachthäfen mit kommunalen VertreterInnen treffen, um ungestört die „Big Deals” des nächsten Jahres einzuleiten und abzuschließen. Wenn urbane Kämpfe in Istanbul, Rio, London, Paris, Berlin, Hamburg oder auch der Rhein-Ruhr-Region eines wirklich eint, dann ist es die Anwesenheit ihrer gemeinsamen Feinde in Cannes. Dieses Jahr versucht ein internationales Bündnis erstmals die traute Ruhe der urbanen Ausplünderer zu stören : Ab Mittwoch findet in Cannes ein „Tribunal” statt, bei dem die schlimmsten Akteure gegen ein Recht auf Wohnen und ein Recht auf Stadt öffentlich angeklagt werden.
Die Proteste gegen die „MIPIM” haben bereits im Vorfeld für viel Aufregung gesorgt : Bis gestern sah es so aus, als würde der Bürgermeister der Stadt, in der zu 80% rechts gewählt wird, Bernard Brochand, alle Proteste gegen das Get-Together der Heuschrecken und Plattmacher als „undemokratisch” verbieten. Erst im letzten Moment ist es durch Verhandlungen gelungen, das Ganze an einer anderen als der ursprünglich geplanten Stelle in Cannes stattfinden zu lassen. Zusätzlich zum Tribunal wird es in vielen europäischen Städten aber auch unterstützende Aktionen für die Proteste geben. So sollte ursprünglich Londons Bürgermeister Boris Johnson, der „heimliche Star” der Messe – bei der ansonsten Investitionsvorhaben für Istanbul und Rio de Janeiro im Fokus stehen – bereits in London an der Abreise zur Côte d’Azur gehindert werden.
In jedem Fall erscheinen die Akteure des internationalen immobilienmarktes durch die Störung überrascht, waren sie es doch gewohnt, dass die urbanen Bewegungen bislang nicht so gut vernetzt agieren wie sie und ihre Interessenvertreter in den Stadtverwaltungen.
Zu den Protesten gegen die „MIPIM” ist heute im „Neuen Deutschland” ein interview mit dem so-Ko-Mitstreiter Knut Unger (MieterInnenverein Witten, Reclaiming Spaces) erschienen, der an der internationalen Vernetzung der Proteste beteiligt war. Wir dokumentieren unten das Interview.
Weitere Informationen :
Aufruf auf deutsch zu den Protesten
Info zum neuen Veranstaltungsort (engl.)
Marktplatz der Immobilienspekulanten – „Neues Deutschland”
Fünf Großvermieter aus NRW bei der MIPIM (engl.)
Der Ausverkauf sozialer Wohnungen in NRW (engl.)
Dokumentiert : Interview mit Knut Unger (»Europäisches Aktionsbündnis für das Recht auf Wohnen und die Stadt«) im „Neuen Deutschland” vom 11.März 2014 :
Ein Tribunal gegen die Spekulation
nd : Sie beteiligen sich an den Protesten gegen die Immobilienmesse in Cannes. Welche Bedeutung hat die MIPIM für die Branche und besonders für die Verdrängung ärmerer Bevölkerungsteile aus vielen europäischen Innenstädten ?
Unger : Bei der MIPIM kommen alle großen Akteure des Immobiliengeschäftes zusammen : Investoren, Architekten, Stadtplaner, Banken, Politiker sowie die Verkäufer und Vermarkter der Grundstücke und Wohnquartiere. Hier werden auf höchster Ebene nicht nur konkrete Geschäfte gemacht, sondern auch Kontakte geknüpft, um Großprojekte auf den Weg zu bringen.
Sie selber sind im Mieterverein Witten aktiv. Gibt es Auswirkungen der internationalen Immobilienspekulation auch auf Ihre Stadt und das Ruhrgebiet insgesamt ?
Seit ungefähr einem Jahrzehnt ist eine Internationalisierung der Großvermieter auf dem deutschen Wohnimmobilienmarkt zu verzeichnen. Nach dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und in Teilen Europas haben sich viele Akteure auf Deutschland kapriziert. Auch in Witten sind mittlerweile mindestens zehn Prozent aller Mietwohnungen im Besitz von Konzernen wie Annington oder Gagfah. In Dortmund sind es sogar rund 20 Prozent.Träger der Proteste ist unter anderem das »Europäische Aktionsbündnis für das Recht auf Wohnen und die Stadt«. Wie ist dieses entstanden, und wie arbeitet es ?
Anfang 2013 haben sich Vertreter verschiedener Initiativen getroffen, um darüber zu beraten, wie man auf die Krise in Europa und ihre schlimmen sozialen Folgen für viele Menschen auch europaweit vernetzt reagieren kann. Die erste gemeinsame Aktion war dann ein Europäischer Aktionstag mit Demonstrationen und Kundgebungen in vielen Städten am 19. Oktober. Besondere Bedeutung hatte auch die Entwicklung in Ungarn, nachdem die dortige Regierung begann, Obdachlose zu kriminalisieren. In Budapest und anderen Städten organisierten wir einen Aktionstag, an dem auch viele Unterstützer aus anderen Ländern teilnahmen. In diesem Sinne wollen wir weiter arbeiten, und deswegen kommen wir jetzt auch nach Cannes.Was ist bei den Protesten in Cannes konkret geplant ?
Wir wollen eine Art Anti-MIPIM in Form eines Tribunals durchführen. Dort sollen Vertreter aus verschiedenen Ländern und Städten schildern, welche Folgen die grassierende Immobilienspekulation konkret hat. Besonders dramatisch ist die Lage derzeit in Spanien und Italien, wo viele Menschen von Zwangsräumungen bedroht sind.Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag Schritte gegen unzumutbare Mietpreissprünge vereinbart. So sollen Mieten bei Neuverträgen künftig nur noch maximal zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen dürfen. Wie bewerten Sie dies ?
Gerade in den ärmeren Stadtteilen im Ruhrgebiet hätte das keinerlei Effekt. Beim Auslaufen der Sozialbindung von Wohnungen - und das ist eines unserer größten Probleme - greift diese Maßnahme überhaupt nicht. Außerdem sollen derartige Kappungsgrenzen nicht überall eingeführt werden, sondern nur in Städten mit besonders angespannter Wohnsituation und starkem Zuzug, wie zum Beispiel Berlin.Was wären die wichtigsten Schritte, um das Recht auf Wohnen durchsetzen zu können ?
Das Recht auf angemessenes Wohnen muss in allen EU-Ländern durchgesetzt werden. Derzeit führen jedoch die Spardiktate der Troika in Südeuropa dazu, dass immer mehr Menschen ihre Wohnungen verlieren. Länder wie Portugal werden gezwungen, soziale Schutzbestimmungen für Mieter außer Kraft zu setzen. Wir brauchen eine koordinierte Politik für die gesamte EU, um ein Recht auf Wohnen zu schaffen. Kernelemente wären ein Verbot von Zwangsräumungen, möglichst umfassende Mieterschutzgesetze und öffentlicher Wohnungsbau mit dauerhafter Sozialbindung.Fragen : Rainer Balcerowiak