Sechs Wochen Mobilisierung, Information, Film und Diskussion zum NSU-Komplex, Solingen 1993 und dem beide Themen verbindenden rassistischen Normalzustand liegen hinter uns. Und nach dem Jahrestag zum mörderischen Brandanschlag von Neonazis auf das Solinger Wohnhaus steht jetzt auch der zweite Termin bevor. Es dauert nicht mehr lange bis zur Urteilsverkündung im Prozess gegen einen Teil des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ in München. Dem Aufruf der Kampagne „Kein Schlussstrich!“ folgend, organisieren wir für den Tag der Urteilsverkündung eine Fahrt nach München um an der geplanten Demo teilzunehmen.
Was schon vorher klar war, wurde durch Schilderungen von Opferangehörigen, Prozessbeobachter*innen und Rechtsanwälten mit jeder Veranstaltung unserer Kooperationsreihe „Kein Schlussstrich für Opfer und Zivilgesellschaft“ klarer : Am Tag des Urteils gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger und die beiden anderen Angeklagten ist es unsere Aufgabe, unsere Solidarität mit den „Überlebenden des NSU“ (Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler), den Angehörigen der Opfer und all denen zu zeigen, die von Rassismus und rassistischer Gewalt in Deutschland betroffen sind. Das durch den Prozess als falsch entlarvte Versprechen einer lückenlosen Aufklärung, die Ermittlungen, bei der die Opfer zu Tätern gemacht werden sollten und das Desinteresse der Öffentlichkeit für die Betroffenen machen die Demonstration unserer Solidarität zum Geringsten was wir tun können.
Wann wird das Urteil gesprochen ?
In dieser Woche begannen die Plädoyers der ursprünglichen Verteidiger von Beate Zschäpe. Die drei Anwält*innen mit den „sprechenden Namen“, Herr, Stahl und Sturm, haben angekündigt, dafür eine ganze Prozesswoche zu benötigen. Im Anschluss haben die Angeklagten das Recht auf eine letzte Bemerkung. Danach stehen dem Strafsenat am OLG München unter dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl theoretisch sechs Wochen Zeit zur Verfügung, zu einem Urteil zu kommen. Niemand erwartet aber, dass das Gericht diese Zeit in Anspruch nimmt. Abhängig von der Frage, ob der Senat möglichst allen Nebenklagevertreter*innen die Gelegenheit geben möchte, an der Urteilsverkündung teilzunehmen, ist der Beginn der Urteilsverkündung wahrscheinlich für einen Dienstag Mitte oder Ende Juni bzw. Anfang oder Mitte Juli zu erwarten. Frühestmöglicher Termin wäre Dienstag, der 19.06. Ab diesem Zeitpunkt kann es jedoch auch jeder der folgenden Dienstage sein, also der 26.06., der 03.07. oder auch der 10.07.
Wie fahren wir nach München ?
Der Bus aus dem Tal wird am Voraband der Urteilsverkündung so gegen 21 Uhr losfahren, um etwa neun Stunden später in den frühen Morgenstunden rechtzeitig zur Demoteilnahme in München anzukommen. Die Rückfahrt nach Wuppertal soll am gleichen Tag stattfinden, sodass alle Dienstagnacht wieder zurück sind. Es fallen Reisekosten von ca. 30 Euro pro Person an. Wenn das für irgendwen ein Hindernis darstellt, kann darüber natürlich geredet werden.
Wer mitfahren möchte, sollte sich verbindlich per E-Mail an so_ko_wuppertal [at] subvertising.org bis Mittwoch den 13.06 anmelden (bis Montag, 18.06. verlängert!). Bitte teilt uns mit, ob ihr an allen genannten Terminen oder nur an einem oder zwei Terminen könnt. Denkt daran, dass es sehr schnell gehen wird, sobald feststeht, wann der „Tag X“ tatsächlich ist. Verschiebungen sind jederzeit möglich. Wir benötigen deshalb unbedingt eine funktionierende Antwortadresse von euch. (Mehr zu unserer „Tag X“-Kampagne)
Und in Wuppertal ?
Für alle, die nicht mit nach München zur Demo fahren können, regen wir an, den vielen dezentralen Aktivitäten die bundesweit stattfinden, eine eigene lokale Aktion hinzuzufügen. Für Berlin, Dortmund, Kiel, Leipzig oder Rostock sind jeweils Demonstrationen am „Tag X“ angekündigt, in anderen Städten z.B. in Göttingen, Freiburg oder Hamburg, wird zu Kundgebungen oder Demos für den Samstag nach der Urteilsverkündung aufgerufen. (Übersicht der bisher geplanten Aktivitäten). Auch für Wuppertal können wir uns eine Aktion am Samstag nach der Urteilsverkündung stattfinden. Das würde auch jenen die nach München fahren, die Möglichkeit geben, teilzunehmen. Gründe für unseren Zorn auf den rassistischen Normalzustand in Behörden und Gesellschaft gibt es auch hier genug.
Auch in Wuppertal häufen sich die Berichte zu gezielt rassistischen Polizeikontrollen in migrantisch bewohnten Vierteln, und „neue Rechte“ und Nazis versuchen auch in Wuppertal Stimmung gegen Migrantinnen und Migranten zu machen – z.B. am 16. Juni, wenn die militanten Nazis der Minipartei „Die Rechte“ ausgerechnet am Tag des Ölbergfestes einen Marsch von Barmen nach Elberfeld planen. Und schließlich ist es auch in Wuppertal nicht bei rassistischer Hetze geblieben.
Rassistischer Mordversuch durch Nazis in Wuppertal
Wir erinnern an den rassistischen Mordversuch an einem 53-jährigen Besucher des Autonomen Zentrums mit türkischen Migrationshintergund in der Nacht vom 11. auf den 12.4.2015 durch Nazis. Wir erinnern daran, dass die katastrophalen Mechanismen der Ermittlungs- und Öffentlichkeitsarbeit der Behörden, die während des NSU-Verfahrens zu Tage traten, im Umgang mit dem Mordversuch am AZ Wuppertal eine nahtlose Fortsetzung fanden. So wurden Ersthelfer und Freund*innen des Opfers von der Polizei zunächst beschuldigt, die Rettungssanitäter an der Arbeit behindert und die Polizei am Tatort angegriffen zu haben. Die Vorwürfe, die von der Lokalpresse zunächst ungeprüft übernommen wurden, erwiesen sich während des Verfahrens gegen die drei Täter später als haltlos. Auch in Wuppertal war die Ermittlungsarbeit zu den Tätern zunächst von vielen Ungereimtheiten und Zufällen geprägt und ein politisches Motiv des Mordversuchs wurde so lange es ging relativiert. Die Verstrickungen der Täter in aktive und militante Nazistrukturen aufzuklären, blieb – wieder einmal - der Antifa überlassen. (Zum Nachlesen : Antifaschistische Kampagne Wuppertal 2015)
Auch der Umgang mit dem Opfer reiht sich bis heute in die mehrheitsgesellschaftliche Ignoranz gegenüber von rassistischer Gewalt Betroffenen ein. Der am AZ schwer verletzte Mann, der nach der Tat für Wochen im künstlichen Koma lag, leidet bis jetzt unter seinen erlittenen Verletzungen und kann seinen Beruf nicht weiter ausüben. Für die lokale Monopolzeitung „Westdeutsche Zeitung“ und auch für die Stadtspitze ist sein Fall jedoch keine Erwähnung wert. Auch dann nicht, wenn es um die Beschäftigung mit Nazigewalt und deren gesellschaftlicher Aufarbeitung geht.
Das Opfer ist der Mehrheitsgesellschaft keine Erwähnung wert
So wurde bespielsweise für das Grußwort des Oberbürgermeisters Andreas Mucke bei der Eröffnung der Ausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“ nach einem Wuppertaler Bezug zur NSU-Mordserie gesucht ; der vor dem Autonomen Zentrums fast ermordete 53-Jährige fand trotz entsprechender Erinnerung an die Tat jedoch keine Erwähnung in Muckes Ansprache. Auch die „Westdeutsche Zeitung“ schwieg über den Beinahe-Mord durch Nazi-Hooligans, als sie am 8. Mai über die Ausstellung im Barmer Rathaus berichtete, obwohl sich der Artikel lobend über die Ausstellung äußert, weil „Die Opfer (…) im Mittelpunkt der Ausstellung [stehen].“ Dass der Widerspruch, den Fokus der Ausstellung auf die Opfer des NSU zu loben und gleichzeitig das Wuppertaler Opfer eines rassistischen Mordversuchs zu „vergessen“, in der WZ-Redaktion anscheinend niemanden auffiel, zeigt vielleicht deutlicher als alles andere, dass auch für Wuppertal festgestellt werden muss, was im Münchener Aufruf der Kampagne „Kein Schlussstrich!“ formuliert wird :
Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem. Und das gilt wortwörtlich : Diese Gesellschaft hat ein Rassismusproblem, und zwar ein gewaltiges. Rassismus wird dabei fälschlicherweise oft nur bei klassischen Neonazis verortet. Ebenso findet sich Rassismus auch jenseits der sogenannten neuen Rechten, die sich hinter den Bannern von AfD, Pegida und Konsorten versammeln. Rassismus findet sich in Ämter- und Behördenpraxis, Polizeiarbeit, der Art wie gesellschaftliche Ressourcen und Teilhabe verteilt werden. Rassismus findet sich in marktschreierischen Wahlkampfauftritten wie auch in subtil und vornehm formulierten Leitartikeln. Rassismus zieht sich durch die ganze Gesellschaft. Lasst uns in den Wochen bis zur Urteilsverkündung in München gemeinsam darüber beraten, wie ein Wuppertaler Beitrag zu den dezentralen Aktionen zum „Tag X“ aussehen kann, mit dem wir auch in unserer Stadt von rassistischer Gewalt Bedrohten zeigen, dass sie sich nicht alleine wehren müssen.
Was immer dabei herauskommt : Wir sehen uns auf der Straße – in München oder Wuppertal !