Moralischer Bankrott- w2wtal-Rede zum Befreiungsfest

Am 15.April 2016 fand in Wuppertal anläss­lich des 71.Jahrestages der Befreiung der Stadt vom Natio­nal­so­zia­lismus das Befrei­ungs­fest im Deweerth­schen Garten statt. w2wtal war einge­laden worden, bei der Feier ein paar Worte zur aktuellen Situa­tion Geflüch­teter in Europa beizu­steuern. In der Rede wurde an die Konfe­renz von Évian im Jahr 1938 erinnert und dazu aufge­for­dert, sich gegen den erneuten morali­schen Bankrott Europas zur Wehr zu setzen. Wir dokumen­tieren den Beitrag im Wortlaut.

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Ich spreche für welcome2wuppertal, einer politi­schen Initia­tive von neu in Wuppertal Angekom­menen und Menschen, die schon eine Weile hier leben. Wir unter­stützen Menschen bei der Selbst­or­ga­ni­sa­tion und dabei, echte Akteure auf allen politi­schen, kultu­rellen und alltäg­li­chen Feldern zu werden. Wir versu­chen, Migran­tInnen als « Newcomer » und nicht als « Flücht­linge » zu sehen, so wie es Hannah Arendt, die wegen der Nazis Deutsch­land verlassen musste, gefor­dert hat. So sah sie sich selber.

Wir gedenken heute den Opfern des Natio­nal­so­zia­lismus, den Wider­ständ­lern und Wider­ständ­le­rinnen und natür­lich den Befreiern – im Falle Wupper­tals der US-Army, die vor 71 Jahren die Stadt befreite. Doch wenn die Entschlos­sen­heit der Allierten gewür­digt wird, mit der sie nach Kriegs­be­ginn Nazi-Deutsch­land bekämpften, dürfen wir nicht vergessen, dass es zuvor Situa­tionen gab, die rückbli­ckend als « morali­scher Bankrott » der Welt beschrieben werden müssen.

Niemand der sich mit der Lage der heute vor Krieg und Terror fliehenden Menschen beschäf­tigt, kommt darum herum, sich anzusehen, wie die Welt in früheren Zeiten mit Menschen umgegangen ist, die emigrieren mussten. Früher oder später wird dann die Èvian-Konfe­renz in den Blick geraten, die im Juli 1938 im Hotel Royal am franzö­si­schen Ufer des Genfer Sees statt­fand.

Dort trafen sich in der Woche vom 6. bis zum 15. Juli Vertre­te­rInnen von 32 Nationen und diverse private Organi­sa­tionen. Sie wollten darüber beraten, wie mit der zuneh­menden Zahl jüdischer Menschen umgegangen werden sollte, die nach dem Inkraft­treten der Rassen­ge­setze in Deutsch­land und nach dem Anschluss Öster­reichs ihre Herkunfts­länder verlassen mussten. Und zu diesem Zeitpunkt hätten sie Deutsch­land auch noch verlassen dürfen. US-Präsi­dent Franklin D. Roose­velt hatte die Initia­tive zur Konfe­renz ergriffen. Ihr Ergebnis war erschüt­ternd.

Der humani­täre Aspekt der Konfe­renz geriet in ihrem Verlauf immer weiter in den Hinter­grund. Schließ­lich war das Problem nicht mehr, dass Menschen in  großer Zahl ihre Heimat verlassen mussten. Die « Juden » wurden weitge­hend selber als « Problem » betrachtet und bei der Konfe­renz verhan­delt. Wo es zuvor noch einige ungere­gelte Möglich­keiten gab, Nazi-Deutsch­land zu verlassen, führte die Konfe­renz von Èvian letzt­lich dazu, dass eigent­lich alle Länder ihre Grenzen für jüdische Flücht­linge schlossen.

Mehrere Konfe­renz­teil­nehmer begrün­deten ihre Haltung in Èvian damit, dass eine weitere Zuwan­de­rung nur dem Antise­mi­tismus weiteren Auftrieb geben würde. Auf Antrag der Schweiz wurde die deutsche Regie­rung gar aufge­for­dert, Pässe jüdischer Menschen mit einem großen « J » zu versehen, damit das Land besser in der Lage sei, die jüdische Zuwan­de­rung zu stoppen.

Es ist natür­lich falsch, zwang­haft nach histo­ri­schen Paral­lelen zu suchen – jede Zeit hat ihre eigenen Charak­te­ris­tika. Dennoch sind Ähnlich­keiten im Umgang mit Menschen in großer Not damals und heute frappie­rend. So wie damals werden auch heute Flüch­tende, die alles zurück­lassen um am Leben zu bleiben, zum Problem gemacht. Für Politi­ke­rInnen und Medien sind sie nicht länger « Flücht­linge ». Sie sind « illegale Einwan­derer ». Und in den letzten Monaten mussten wir erneut einen « morali­schen Bankrott » europäi­scher Staaten erleben.

Bei den jetzt in Griechen­land festsit­zenden « illegalen Einwan­de­rern » handelt es sich häufig um Brüder, Schwes­tern, Ehemänner und -frauen, um Eltern oder die Kinder von Menschen, die noch im letzten Spätsommer enthu­si­as­tisch als Zuflucht­su­chende begrüßt wurden. Während sie inzwi­schen mit uns leben, müssen ihre Angehö­rigen und Partne­rInnen an der mazedo­nisch-griechi­schen Grenze bei Idomeni seit Wochen in einem Not-Camp ausharren – auf einem verschlammten Gelände und ohne offizi­elle Hilfs­struk­turen. Freunde und Freun­dinnen der Wupper­taler Gruppe « Cars of Hope », die in Idomeni waren, können davon persön­lich berichten.

Andere Menschen sind in griechi­schen Haftla­gern gefangen, die Gefäng­nissen ähneln. Ihnen droht die Rückschie­bung in die Türkei, von wo aus manche in ihre Herkunfts­länder zurück­ge­bracht werden sollen. Und inzwi­schen gibt es auch immer wieder Berichte von brutaler Gewalt gegen Flüch­tende. Erst letzten Sonntag kam es zu einem kriegs­ähn­li­chen Einsatz gegen Menschen, die versuchten, die Grenze nach Mazedo­nien zu überwinden. Hunderte wurden durch Tränen­gas­be­schuss, Schock­gra­naten und Gummi­ge­schosse verletzt, darunter viele Frauen und Kinder. Seit einigen Tagen werden nun auch die freiwil­ligen Helfer und Helfe­rinnen von den Behörden krimi­na­li­siert. Die Geflüch­teten sollen offenbar von jeder Unter­stüt­zung abgeschnitten werden.

Auf diese Zustände angespro­chen, verweisen deutsche Politi­ke­rInnen gerne zur eigenen Entlas­tung auf andere, die für das Ende der Zufluchts­mög­lich­keiten verant­wort­lich sein sollen : auf die Visegrad-Staaten, Öster­reich oder Mazedo­nien. Verschwiegen wird, dass auch Deutsch­land alles tut, niemandem mehr Zutritt zu gewähren. Selbst noch existie­rende Rechts­an­sprüche werden missachtet : So wissen wir, dass es zur Zeit keine Termine in deutschen Botschaften mehr gibt, wo für die Einreise nach Deutsch­land ein Visum beantragt werden muss – selbst bei Famili­en­zu­sam­men­füh­rungen. Nach außen hält die Bundes­re­pu­blik am Recht auf Asyl fest, Obergrenzen werden nicht einge­führt, in der Praxis wurde das Asylrecht aber abgeschafft.

Da ist etwas passiert in den letzten Wochen : Wo im Januar selbst Hardliner wie der bayri­sche Minis­ter­prä­si­dent Seehofer noch von der mögli­chen Aufnahme von bis zu 250.000 Menschen jährlich redeten, wird heute zufrieden verkündet, dass so gut wie niemand mehr durch­kommt – etwas oder jemand hat still­schwei­gend eine Null-Grenze durch­ge­setzt. Doch solange zumin­dest formal noch ein Recht auf Schutz und Zuflucht besteht, sollten wir nicht müde werden, es auch einzu­for­dern. Die Staaten Europas mögen moralisch bankrott sein, die Mehrheit der Menschen ist es nach unserer Überzeu­gung nicht. Das erleben wir als welcome2wuppertal fast täglich.

Am ehesten kann es uns auf lokaler Ebene gelingen, Einfluss auf den Diskurs zu nehmen. Dort sehen wir auch, dass viele der im letzten Jahr geschaf­fenen Struk­turen und Einrich­tungen zur Aufnahme flüch­tender Menschen inzwi­schen ungenutzt sind weil einfach niemand mehr ankommt. Gerade Wuppertal hatte sich vorbild­lich um ein schnelles Ende der Notauf­nahmen bemüht und in Cronen­berg und Elber­feld Aufnah­me­ein­rich­tungen geschaffen. Diese stehen nun leer, während Menschen anderen­orts unmensch­li­chen Bedin­gungen ausge­setzt sind.

Wir fragen uns : Was wäre wohl, wenn die Menschen in den Städten und ihre Vertre­te­rInnen in den Räten und Rathäu­sern einfor­dern würden, dass diese Struk­turen nicht länger leerstünden ? Was wäre, wenn viele Kommunen von den Ländern und vom Bund die Aufnahme eines Kontin­gents der 13.000 Menschen in Idomeni fordeten, einfach, weil die Städte sie aufnehmen können ? Könnten sich die rot-grüne NRW-Landes­re­gie­rung und die Bundes­re­gie­rung einer solchen Forde­rung der Menschen, die an der alltäg­li­chen Basis mitein­ander leben, entziehen ?

Diesmal wäre noch Zeit, die Katastrophe nach dem politi­schen Bankrott noch abzuwenden. Wir möchten deshalb die Vertre­te­rInnen der Stadt Wuppertal mit einem Offenen Brief dazu auffor­dern, zu beschließen, dass Wuppertal sich bereit erklärt, ein angemes­senes Kontin­gent von Flücht­lingen aus Griechen­land aufzu­nehmen. Dafür brauchen wir auch ihre Unter­stüt­zung. Werden Sie Mitzeich­nerIn unseres Appells !

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