Ein Beitrag von w2wtal (welcome2wuppertal)
Jagd auf MigrantInnen
Seit letzten Montag läuft unter dem Namen „Mos Maiorum” (zu deutsch : Die Sitte der Ahnen) eine zweiwöchige, europaweite Schleierfahndung nach so genannten Schleusern und papierlosen MigrantInnen. Bei dieser Operation tauschen die Grenzpolizeidienststellen der EU-Mitgliedstaaten Daten und Informationen aus, um neue Erkenntnisse über „Schleusungsrouten”, Transportmittel und Bewegungsdaten zu bekommen und dabei gleichzeitig möglichst viele Illegalisierte festzunehmen. Besonders im Visier sind grenzüberschreitende Fernstraßen, internationale Bahnlinien sowie Flug- und Seehäfen. Dabei wird die EU-Binnenfreizügigkeit im Rahmen des Schengen-Abkommens zeitlich beschränkt anlasslos außer Kraft gesetzt. Doch auch normale Polizeidienststellen verstärken während der Operation die Suche nach Illegalisierten. „Mos Maiorum” kann einem also überall begegnen – auch vor der eigenen Haustür.
Zunächst einmal ist „Mos Maiorum”, woran sich diesmal 18.000 Polizisten beteiligen, nichts Besonderes. Ähnliche EU-weite „Joint Police Operations” finden im Halbjahresturnus statt. Während der letzten vergleichbaren Operation wurden allein in Deutschland über 1.600 papierlose Menschen verhaftet. Allerdings läuft die Aktion diesmal für einen außergewöhnlich langen Zeitraum : über zwei Wochen bis zum 26.Oktober. Und zum ersten Mal sind auch die EU-Außengrenzen in den Operationsplan einbezogen. Koordiniert wird die Hatz von Italien, einem der Haupt-Transitländer von Asylsuchenden und damit einem Haupt-Leidtragenden der so genannten Dublin-Verordnung. Italien hat aktuell die EU-Ratspräsidentschaft inne.
Kampagne gegen Racial Profiling
Dauer und Umfang der Operation „Mos Maiorum” führen in diesem Jahr dazu, dass antirassistische Gruppen die Schleierfahndung zum Anlass für eine breite Kampagne gegen die Kontrollen nehmen – durch den zynischen Namen, der einmal mehr im orwell’schen FRONTEX-Sprachlabor entstanden scheint, sicher zusätzlich motiviert. Die Kontrollen der europaweiten Fahndung werden sich in erster Linie wieder gegen afrikanisch oder arabisch aussehende Menschen richten : Auf Straßen und Bahnhöfen wird deshalb – mehr noch als sonst – klassisches Racial Profiling den Alltag vieler MigrantInnen prägen. Haut- und Haarfarbe werden erneut die ersten Indizien für die BeamtInnen sein, jemanden auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause anzuhalten und « einmal nachzugucken ». Die ohnehin alltägliche – gleichwohl ständig geleugnete – Praxis rassistischer Personenkontrollen erhält in den zwei Wochen von „Mos Maiorum” eine amtliche Legitimität.
AktivistInnen in mehreren europäischen Ländern veröffentlichten als Reaktion mehrsprachige Reisewarnungen für Menschen ohne Papiere, die zahlreiche Verbreitung in den sozialen Netzwerken und in der linken Öffentlichkeit fanden. Auch ein Online-Portal wurde eingerichtet, in dem Beobachtungen von rassistischen Kontrollen europaweit gesammelt und dokumentiert werden können. Es wird bei nadir.org gehostet und die InitiatorInnen haben sich viel Mühe gegeben, dass es für Einträge sichere und anonyme Kontaktwege gibt. Die Karte, die sich nach den ersten Tagen von „Mos Maiorum“ langsam immer mehr füllt, findet sich hier. Eine Anleitung zur Nutzung kann hier eingesehen werden – inklusive der Links zu geeigneten Apps für Smartphones, damit Beobachtungen auch von unterwegs gemeldet werden können.
Dennoch offenbaren die Aktivitäten auch Hilflosigkeit. Denn durch das Teilen der Reisewarnungen mit Menschen, die Ausweiskontrollen normalerweise nicht zu fürchten haben, ist keinem Illegalisierten geholfen. Es ist auch nicht anzunehmen, dass die Betroffenen ohne die Information nichts von der EU-Operation wüssten. Vielmehr zeigt die große Beteiligung an einer an sich gut gemeinten, aber eher wirkungslosen Kampagne deutlich auf, wo die Defizite in der Unterstützung der Geflüchtetenkämpfe zu suchen sind. Viel zu wenige haben wirklichen Kontakt zu den illegal mit uns Lebenden, und viel zu viele Unterstützungswillige finden kaum Anknüpfungspunkte für wirksames solidarisches Handeln.
Worum es eigentlich gehen müsste
Was es in solchen Situationen bräuchte, wären Strukturen, die Illegalisierten beispielsweise sichere Mobilität zur Verfügung stellen. Wenn Bahnen und Busse während der Fahndungsaktionen für sie zunehmend zu « No Go»-Zonen werden, müssten wir dafür sorgen können, dass sie sicher – also unkontrolliert – von A nach B gelangen. Auch die Beobachtung von rassistischen Kontrollen alleine hilft – über die bessere Kenntnis der Fahndungsabläufe hinaus – nicht weiter. Während der Dauer von „Mos Maiorum” – aber auch im stinknormalen rassistischen Alltag – müssten stattdessen mehr Menschen bereit sein, schnell zu gemeldeten Kontrollpunkten zu gehen um diese zu stören – riskieren sie doch erheblich weniger als die von Abschiebung und Haft Bedrohten. Eine empörte Meldung über Twitter oder bei Facebook hilft bei der Alarmierung von Störungsbereiten übrigens oft weniger als die gute alte SMS oder ein schneller Anruf. Auch direkte Aktionen und spontane Demonstrationen sind ein Mittel, Sand ins Getriebe der Menschenhatz zu streuen. Jede/r beschäftigte PolizistIn steht den Kontrollen schließlich aktuell nicht zur Verfügung.
Das ist gar nicht böse gemeint. Es zeigt aber auf, wie wenig wir derzeit der rassistischen Praxis der EU-Behörden und -Institutionen real entgegenzusetzen haben, und woran wir für die Zukunft arbeiten müssen. Ohne Netzwerke von Menschen, die bereit sind, (überschaubare) Risiken einzugehen und konkret handlungsfähig zu werden, werden Proteste und Aktionen nicht über den appellativen und wirkungslosen Versuch hinausgehen, rassistische Praxis und gleichgültige Mehrheitseinstellungen « irgendwie » zu verändern. Unsere Aufgabe muss deshalb zukünftig darin bestehen, informelle Strukturen zu stärken und diese mit bestehenden informellen Strukturen der Geflüchteten wirksam und alltäglich zu vernetzen. Das ist (zugegeben) keine leichte Aufgabe. Angesichts des immer repressiveren Ausbaus der « Festung Europa » kommt ihr aber eine entscheidende Bedeutung zu : Wollen wir weiter mit ins Leere laufenden Aktionen an unserem eigenen Karma arbeiten, oder wollen wir konkret in die Maschinerie des Sterbens und Abschiebens eingreifen ?
Neuerlicher Paradigmenwechsel
„Mos Maiorum” offenbart nämlich nicht nur die übliche Menschenverachtung europäischer Politik. Es ist ein Statement der Abschottung. Es markiert einen abermaligen Paradigmenwechsel des europäischen Grenzregimes, nachdem eine andere, eigentlich auch der Migrationskontrolle dienende Operation namens „Mare Nostrum” auf dem Mittelmeer zur Seenotrettungs-Operation wurde. „Mare Nostrum” war schon vor dem Flüchtlingsdrama vor Lampedusa im Oktober 2013 als Operation zur Migrationsabwehr geplant, wurde dann aber auch wegen des medialen Aufschreis und der tatsächlichen Erschütterung in Italien zur « Brücke nach Europa » : Durch « Mare Nostrum » wurden mittlerweile über 100.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. „Mos Maiorum” versucht nun, nachdem die von der italienischen Marine getragene Seenotrettung am 1.November auslaufen wird, einen Teil dieser Geretteten wieder « einzusammeln » und möglichst geräuschlos ins Herkunftsland (oder einen so genannten « sicheren Drittstaat») zurückzubefördern.
Die Verantwortlichen für diesen neuerlichen Paradigmenwechsel sitzen vor allem in Berlin. Italien hätte „Mare Nostrum” – und damit die Rettung der Menschen – durchaus fortgesetzt, forderte dafür aber eine finanzielle Beteiligung der anderen EU-Staaten : Die Rettung der Hunderttausend kostete das von der Austeritätspolitik erschütterte Italien etwa 9 bis 10 Millionen Euro jeden Monat. Eine Beteiligung an den Kosten scheiterte jedoch in erster Linie an der Bundesregierung. Innenminister De Maiziére stellte früh klar, dass die deutsche Politik “Mare Nostrum” lieber durch eine Mission ersetzen will, die der Rückführung von Flüchtlingen dient. Deutschland setzt in einer Situation, in der die europäische Bereitschaft zu einer anderen Migrationspolitik hoch war wie selten, also weiterhin auf Migrationskontrolle durch FRONTEX und Grenzpolizei statt auf Lebensrettung. « Mos Maiorum » ist der deutlichste Ausdruck dieser Grundsatzentscheidung.
Terror, Vertreibung, Deportation
Die Länder an den EU-Grenzen, vor allem Italien, werden von Berlin außerdem zur Zeit massiv unter Druck gesetzt, Fingerabdrücke aller neu ankommenden Flüchtlinge zu nehmen und sie in die EURODAC-Datei einzuspeisen. Dies soll eine „Rücküberstellung” auf Grundlage der Dublin-Verordnung sicherstellen. Zynisch betrachtet macht das die Seenotrettung für Länder wie Italien im Ergebnis äusserst unattraktiv – werden dann doch weiterreisende Geflüchtete, wie es zum Beispiel bei den « Lampedusa»-Geflüchteten in Hamburg oder Berlin geschehen ist, von Deutschland nach Italien zurückgewiesen. Anstelle einer finanziellen Beteiligung an der Menschenrettung bietet der deutsche Innenminister folgerichtig den Ankunftsländern andere Lösungen an : Eine Entsendung von BeamtInnen zur Registrierung der Flüchtlinge oder zur Verfügung gestellte Fingerabdruckgeräte (Quelle : afp am 9.Oktober 2014).
Angesichts der Entschlossenheit, Flüchtlingsabwehr und Migrationskontrolle polizeilich (wie bei „Mos Maiorum”) oder militärisch (wie bei « FRONTEX plus » bzw. « Triton » das « Mare Nostrum » ablösen soll) um jeden Preis durchzusetzen, bleibt nur die Möglichkeit, uns möglichst breit neu über unsere Mittel zu verständigen, und uns der oben genannten Aufgabe zu stellen – zu allererst in Deutschland. Ist es doch die Regierung in Berlin, die die Un-Sitte der (deutschen) Ahnen – Terror, Vertreibung, Deportation - zum europäischen Prinzip erhebt.
w2wtal (Welcome to Wuppertal) lädt für Ende Oktober gleich zu zwei Info- und Verständigungsabenden ein, an denen eine Diskussion über unsere Mittel der Solidarität und Gegenwehr geführt werden soll : Am 28.10. im Rahmen der « politischen Kneipe » im Autonomen Zentrum Wuppertal ab 19:30 Uhr und drei Tage später bei einer Informationsveranstaltung im ADA in der Wiesenstraße, Beginn am 31.10. ist ebenfalls um 19:30 Uhr.