Der Vandalismus war notwendig”

 

Wupper Nachrichten vom 05.06.1993
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Der Vanda­lismus war notwendig”
In Solingen entladen sich die Wider­sprüche zwischen Natio­na­lismus und multi­kul­tu­reller Gesell­schaft

Die Bilder aus der Solinger Innen­stadt erinnern an die Unruhen von Los Angeles, wo der Freispruch von gewalt­tä­tigen, rassis­ti­schen Polizisten Auslöser für Szenen war, die vom Bürger­krieg nicht weit entfernt waren. Nach der Trauer um die fünf toten Türkinnen am Samstag wurde In Solingen deutlich, wie tief der Hass auf Neofa­schisten und die Erbit­te­rung über AusIän­der­feind­lich­keit sitzt. In zwei aufein­an­der­fol­genden Nächten haben in Solingen Jugend­liche und junge Erwach­sene beinahe jede Schau­fens­ter­scheibe zerstört. Autos wurden umgeworfen oder „entglast”. Gerhard Hausmann sprach mit Jugend­li­chen und Erwach­senen.

Giacomo G., ein italie­ni­scher Jugend­li­cher aus Solingen, war in beiden Nächten in der Innen­stadt unter­wegs. Er hatte unmit­telbar nach dem Brand­an­schlag das ausge­brannte Haus besucht, was ihn tief erschüt­terte. Die Zerstö­rungen in der Innen­stadt hält er für weniger schlimm als Ausein­an­der­set­zungen, wo Menschen drauf­gehen können. Dennoch hält er die Auschrei­tungen im Nachhinein nicht für die richtige Lösung. Franco R., ein Bekannter von Giacomo, findet den Vanda­lismus richtig. Auch er war in den Nächten in der Stadt. Plünde­rungen und das Einschlagen von Scheiben seien notwendig, weil nur so die „Jungs in Bonn” aufwa­chen würden. Der Tod der Frauen aus Solingen zeige, daß die bishe­rigen Verschär­fungen der Gesetze gegen neofa­schis­ti­sche Aktivi­täten nicht ausge­reicht haben. Franco bringt so das Gespräch auf politi­sche Themen. Das Wahlrecht für die sogenannten Auslän­de­rinnen sei notwendig, weil sie so dem Rechts­ruck in der Bundes­re­pu­blik besser entge­gen­treten könnten. Als Ausländer fühlt er sich nicht. „Meine Heimat habe ich dort, wo ich lebe” pflichtet ihm Giacomo bei. Er wurde in Paris geboren, lebte dann in Italien und seit 1982 in Solingen. Trotz seines italie­ni­schen Passes fühlt er sich eher als Europäer denn als Franzose, Italiener oder Deutscher. Nicht alle, die nachts durch die Straßen zogen, stellen unmit­telbar politi­sche Forde­rungen. Mustafa, ebenfalls seit etlichen Jahren Solinger, von seiner Kultur her ein Türke, kann nachts nicht schlafen und zieht trotz der Verbote seines Vaters los. Auch er hat an dem abgebrannten Haus mit den Angehö­rigen der toten Frauen und Mädchen getrauert, in den Nächten danach zog er durch die Innen­stadt.

Bei den Krawallen regis­trierte er genau, welche seiner Bekannten in der ersten Reihe standen und welche sich zurück­hielten. Die Gewalt ist ein Geschäft der jungen Männer, bei dem es auch um den Beweis von vermeint­li­cher Stärke geht. Frauen sind nachts in der Minder­heit. Mustafa störte das Auftreten der türki­schen Rechten, der Grauen Wölfe, die von weither anreisten und mitmischten. Die meisten von seinen Freunden sind Kurden. Mustafa erlebte Ausein­an­der­set­zungen zwischen türki­schen Rechten und Kurdlnnen. Auch das Verhalten kurdi­scher Kommu­nis­tinnen stört ihn.

Zurück zu Giacomo und Franco. Beide geben zu, daß sie sich nicht beson­ders für Politik inter­es­sieren, aber ihre Forde­rungen sind eindeutig politisch. Eine recht­liche Gleich­stel­lung mit deutschen Staats­an­ge­hö­rigen durch eine doppelte Staats­bür­ger­schaft wollen sie, aber sie sehen auch Nachteile. Als Soldaten wollen beide nicht für Deutsch­land eintreten, aller­dings auch nicht für Italien oder einen anderen Staat. Am Beispiel des Krieges im ehema­ligen Jugosla­wien erläu­tern sie ihre Abnei­gung gegen militä­ri­sche Ausein­an­der­set­zungen. Als Bürger der Europäi­schen Gemein­schaft haben beide wenig Schwie­rig­keiten mit dem Auslän­deramt. Franco, dessen Mutter Deutsche ist und der in Solingen geboren wurde, entschied sich erst mit 18 Jahren für die italie­ni­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit. Danach galt er als Ausländer.

Mehmet Yildiz ist Vorsit­zender des türki­schen Volks­ver­eins am Solinger Schlag­baum, wo allabend­lich die Kreuzung blockiert wurde. Der Verein hat dort einen großen Raum im Erdge­schoß eines Gebäudes. Von hier aus hat er die Ereig­nisse aus nächster Nähe beobachtet. Hier bekomme ich eine Chrono­logie neofa­schis­ti­scher Aktivi­täten in Solingen inner­halb des letzten Jahres. Auch der türki­sche Volks­verein wird telefo­nisch bedroht, eine Scheibe wurde einge­worfen, vermut­lich von Neofa­schisten. Mit Toten hat jedoch auch Mehmet Yildiz nicht gerechnet. Der Verein hat von Skinhead-Aktivi­täten in Solingen gewußt und auch versucht, die Aufmerk­sam­keit hierauf zu lenken, damit etwas dagegen geschieht. Kaum jemand wollte davon wissen.

Mehmet Yildiz kann nicht verstehen, daß Menschen angesichts der Ereig­nise in Solingen nicht wütend werden. Aber er weiß auch, daß die Wut allein nicht weiter hilft. Insbe­son­dere die Steue­rung der Ausschrei­tungen durch bestimmte Organi­sa­tionen akzep­tiert er nicht, beispiels­weise durch religiöse oder faschis­ti­sche Organi­sa­tionen. Er sah Graue Wölfe in den Straßen, eine faschis­ti­sche Organi­sa­tion.

Die Mitglieder des türki­schen Volks­ver­eins wollen die Ereig­nisse verstehen. Viele von ihnen sind Kurdlnnen, die nicht nur das Wahlrecht fordern, sondern die recht­liche Gleich­stel­lung mit den deutschen Staats­an­ge­hö­rigen. Die  Auslän­der­ge­setze hätten die natio­na­lis­ti­sche Gewalt angeheizt. Politiker hätten mit auslän­der­feind­li­chen Parolen von Überfrem­dung Deutsch­lands den Neofa­schisten Signale gegeben.Ausländergesetze hätten die natio­na­lis­ti­sche Gewalt angeheizt. Politiker hätten mit auslän­der­feind­li­chen Parolen von Überfrem­dung Deutsch­lands den Neofa­schisten Signale gegeben. Die doppelte Staats­an­ge­hö­rig­keit habe nichts mit natio­naler Identität zu tun. Es gehe nicht darum, sich mit einer Nation zu identif­zieren, es gehe um die recht­liche Gleich­stel­lung. Das unein­ge­schränkte Wahlrecht sei notwendig, damit für alle Menschen in der Bundes­re­pu­blik Politik gemacht wird. Ein schwe­di­scher Journa­list, der mit uns am Tisch sitzt, sagt uns, daß es in Schweden ein einge­schränktes, kommu­nales Wahlrecht für Auslän­de­rinnen längst gibt. Mehmet Yildiz ist Kurde, hat einen türki­schen Pass und lebt schon lange in der Bundes­re­pu­blik. Auch wenn die Verhält­nisse hier nicht gut sind, er will endlich als Staats­bürger dazuge­hören. Auch in der Türkei sei es für ihn gefähr­lich, irgendwo müsse er bleiben können, nicht nur als Mensch zweiter Klasse.

(Namen redak­tio­nell geändert)

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Mutmaßlicher Täter enttarnt ?

 

Wupper Nachrichten vom 05.06.1993
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Mutmaß­li­cher Täter enttarnt ?
Amsterdam : weitrei­chende Nazikon­takte

Der in Amsterdam erschei­nende Nachrich­ten­dienst „Germany Alert” („The free flow of uncen­sored facts”) will genau wissen, wie der mutmaß­liche Täter von Solingen, (Chris­tian R., 16) heißt und über welche Verbin­dungen zur Nazi-Szene er verfügt. Damit soll die Einzel­tä­ter­le­gende” ausge­räumt werden.

Nach Recher­chen von „Germany Alert” soll R. Schüler in einem bekannten Solinger Kampf­sport­verein sein. Der Leiter dieses Vereines soll Gründungs­mit­glied der FAP sein und über Kontakte zur Natio­na­lis­ti­schen Front und andere Nazi-Organi­sa­tionen verfügen. Der „Deutsche Hochleis­tungs­kampt­kunst­ver­band (DHKKV)”, in dem dieser Leiter Mitglied ist, wird von „Germany Alert” als „Terror-FIügel” der „Natio­na­lis­ti­schen Front” (NF) bezeichnet. Allge­mein bekannt ist, daß der DHKKV verschie­dent­lich den Sicher­heits­dienst bei Veran­stal­tungen der Rechten übernahm. Nach „Germany Alert” soll bei einem Treffen der NF im August 1992 der DHKKV mit Kampf­auf­gaben beauf­tragt worden sein. Heute sei der DHKKV als Tarnor­ga­ni­sa­tion der verbo­tenen NF anzusehen, womit ein Aufruf des NF-Führers Meinholf Schön­born nach dem NF-Verbot befolgt werde.

Die Mutter der verhaf­teten Solin­gers R. und ihr Freund sollen ebenfalls über Kontakte zu Rechten verfügen, so zum Umfeld der Düssel­dorfer Gruppe „Störkraft” und der rechten „Freien Wähler­ge­mein­schaft” im Düssel­dorfer Rathaus. Daß diese Kreise über gute Kontakte zur Solinger rechten Jugend­szene verfügen, ist allge­mein bekannt.

 

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