Das Verhältnis zwischen türkischen und deutschen Menschen ist ein besonderes, zuletzt wurde das bewusst, als wir mit den Vorbereitungen zum 20.Jahrestag des Brandanschlags von Solingen begonnen haben. Auch die dem Mord folgenden vielfältigen Gegenreaktionen einer türkisch-deutschen Öffentlichkeit rückten dabei wieder in Erinnerung.
Mehrere Millionen Menschen mit türkischen Roots haben in der deutschen Wirklichkeit mehr als nur Spuren hinterlassen. Kaum jemand, der nicht türkischstämmige Freunde und Freundinnen, Kolleginnen und Kollegen oder NachbarInnen hat. Und die meisten von denen haben natürlich nach wie vor persönliche Beziehungen zu Menschen in der Türkei. Es ist also keine Überraschung, dass Geschehnisse, wie die, die seit inzwischen sechs Tagen die Städte in der Türkei erschüttern, in Deutschland eine emotionalere Reaktion auslösen als vergleichbare Aufstände und brutale Staatsgewalt in Ländern, die auch nicht weiter entfernt sind.
Natürlich wird auch in Deutschland die Empörung zunächst von Angehörigen der türkischen Community getragen, die zahlenmäßig die seit dem letzten Wochenende täglich in deutschen Städten stattfindenden die Kundgebungen dominieren. Dennoch : Das Interesse vor allem der linken deutschen Szene an den Vorgängen in Istanbul, Ankara oder Izmir ist bemerkenswert groß, auch wenn bei den Demos die Anzahl von mitdemonstrierenden « Kartoffeln » höher sein könnte. Dabei kommen die vielen persönlicher Beziehungen diesem Interesse zugute. So liegen seit Freitag, dem 31.05., dem Tag, als der Gezi-Park am Taksim in Istanbul mithilfe von exzessiver Gewaltanwendung der Polizei geräumt wurde, vielfältige direkte Berichte aus der Türkei vor. Teilweise reicht es aus, nach « nebenan » zu gehen, um die neuesten, am Telefon einlaufenden Updates aus Istanbul oder Ankara zu erhalten. Und auch die Sprachbarriere ist aufgrund vieler Übersetzungen doppelsprachiger türkischer Freundinnen und Freunde ein kleineres Problem als bei griechischen, portugiesischen, aber auch bei spanischen Protesten und Prügelorgien der Polizei. So erklärt sich beispielsweise, dass Hashtags wie #occupygezi oder #direngezipark ? am letzten Wochenende in der deutschen Twitter-Timeline eine enorme Präsenz hatten.
Dass es vor allem linke Aktivistinnen und Aktivisten sind, die die Informationen aus der Türkei weiterverbreiten, ist wenig überraschend, haben doch gerade sie hinreichend eigene Erfahrungen mit Repression und Staatsgewalt ; so wie letzten Samstag, parallel zu den Ereignissen in Istanbul, bei den « Blockupy»-Protesten in Frankfurt. Hinzu kommt eine, bis in die neunzehnhundertachtziger Jahre zurückreichende Tradition gemeinsamer Kämpfe von deutschen Linken mit exilierten türkischen Kämpfern und Kämpferinnen, die nach dem Militärputsch des Land verlassen mussten. Zwar sind die Zeiten, in denen deutsche Genossinnen und Genossen zur Unterstützung der Guerilla « in die Berge » gingen, schon eine Weile vorbei, viele der alten Kontakte erleben jedoch in den letzten Tagen so etwas wie eine « Frischzellenkur ».
Es wäre aber falsch, die vielfältigen Solidaritäts-Aktionen in Deutschland lediglich als linke Veranstaltungen älter gewordener Akteure vergangener Kämpfe wahrzunehmen. Zu vielfältig sind die politischen Strömungen in der türkischen Community, zu jung sind vielfach die Initiatoren und Initiatorinnen der Proteste. Gut zu beobachten war das am letzten Sonntag in Köln, wo es gleichzeitig zwei Solidaritäts-Kundgebungen für die Proteste in der Türkei gegeben hat : Am Dom eine größere, an der etwa 500 Menschen teilnahmen, und die von einem Meer an türkischen Nationalfahnen und Aktiven der CHP-Jugend geprägt war ; eine kleinere am Rudolfplatz, die ausschließlich von linken Gruppierungen getragen wurde. Bei beiden Kundgebungen waren viele sehr junge Leute anwesend, die mit den alten Kämpfen keine persönlichen Erinnerungen verbinden und in der Regel seit ihrer Geburt in Deutschland leben. Doch auch gemeinsame Demonstrationen finden statt. Wie in Wuppertal einen Tag später, dort demonstrierten mehr als 1.000 Menschen gegen Erdogan und seine Polizei.
Es war ein selbstorganisierter Protest, zu dem erst wenige Stunden zuvor durch junge Angehörige der türkischen Community über « Facebook » aufgerufen worden war. Bei der Demo fanden sich verschiedenste Akteure der türkischen Politszene ebenso ein wie offensichtlich unorganisierte junge Menschen. Und neben den Jungen waren auch viele der Älteren anwesend. Gemeinsam demonstrierten sie mit wenigen deutschen Freundinnen und Freunden aus der autonomen Szene und einiger linker Gruppierungen laut und selbstbewußt in der Elberfelder Innenstadt. Wie weit die aktuellen Gemeinsamkeiten dabei gehen können, wurde deutlich als einige wenige kurdische Fahnen in der Demo auftauchten und beinahe direkt neben einigen kemalistischen türkischen Fahnen im Wind flatterten. Die Begegnung, die vor kurzer Zeit beiderseits noch als Provokation empfunden worden wäre, verlief unspektakulär.
Die bestimmende Parole bei zwei der drei erwähnten Demonstrationen war « Faşizme karşı omuz omuza ! » («Schulter an Schulter gegen den Faschismus!»). Doch auch auf der Domplatte, bei der CHP-Kundgebung, war sie zu hören, wie wir aus einiger Distanz hören konnten. Eine Tatsache, die einige deutsche Beobachter etwas verwirrte, wurde sie doch von allen gerufen ; auch von jenen, die normalerweise nicht in antifaschistischem Kontext bekannt sind. Die irritierende Frage drängte sich auf, ob sich etwa auch « Graue Wölfe » derzeit der Losung anschließen würden. Diese Irritation ist für die teilweise (noch) zögerliche Haltung vieler deutscher Aktivistinnen und Aktivisten aktiv an den Protesten teilzunehmen, exemplarisch. Trotz der vielen persönlichen Beziehungen geht die Kenntnis türkischer Politik und politischer Symbolik nicht so sehr in die Tiefe, dass überraschende Wendungen erklärt werden könnten. Geprägt von den teilweise erbitterten internen Konflikten türkischer politischer Gruppen in den letzten Jahrzehnten, verwirrt die aktuell zu bemerkende euphorische Offenheit, die angesichts der Dynamik des Aufstands in der Türkei offenbar auch die in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln erfasst hat. Obwohl das Potential einer türkischen « Anti-Erdogan»-Koalition auch schon Ende letzten Jahres zu beobachten war, als anlässlich Erdogans Staatsbesuchs in Berlin am Pariser Platz bereits vielfältige verschiedene Gruppen agierten, damals allerdings noch eher neben- als miteinander. Dennoch stellt sich für viele bei jedem neuen Aufruf zu einer Solidaritäts-Kundgebung die Frage, welche Akteure dort angetroffen werden, und ob es sich dabei um die « richtige » Seite handelt. Noch immer ist vielen unklar, mit wem sie es tun haben.
Eine etwas deprimierende Tatsache. Zeigt sie doch, dass sich noch immer viele aus mangelnder Kenntnis in den Verästelungen türkischer Politik verirren können ; auch zwanzig Jahre, nachdem in der deutschen Linken angesichts der verschiedensten türkischen Akteure, die infolge des Solinger Brandanschlages auf den Straßen der Region agierten, große Konfusion ausgebrochen war.
Hinzu kommt die Befürchtung, durch eigene Initiativen den Anschein zu erwecken, die selbstorganisierte Dynamik der Proteste instrumentalisieren zu wollen. Die radikale und autonome deutsche Linke steht deshalb vor dem Problem, einerseits die erwünschte und benötigte Solidarität zu zeigen, andererseits jedoch darauf angewiesen zu sein, in neue informelle Strukturen eingebunden zu werden, um überhaupt mitzubekommen, « was läuft ».
Dahinter verbirgt sich der Wunsch, gemeinsam mit der migrantischen Community zu agieren und darauf auch für hiesige Kämpfe der Zukunft eine neue Qualität der Zusammenarbeit zu begründen. Ganz davon abgesehen, dass auch wir gerne etwas von jenem jugendlich-begeisterten Leuchten der Augen abbekommen möchten, dass wir in den letzten Tagen in den Gesichtern unserer manchmal schon ergrauten türkischen Genossinnen und Genossen ausmachen können.
Für das das Wochenende rufen die Protestierenden in Istanbul am 08. und 09.06. zu zwei « weltweiten » « Days of Action » auf. In der Region gibt es mehrere bislang angekündigte Kundgebungen. Die sicherlich größte Manifestation wird für Samstagnachmittag in Oberhausen erwartet, wo vor dem Konzert der revolutionären Band « Grup Yorum » in der Arena (Beginn 17:00 Uhr), zu dem bis zu 16.000 BesucherInnen erwartet werden, ab dem späten Mittag gemeinsam mit « Grup Yorum » in der Innenstadt demonstriert werden soll. Eine weitere Kundgebung findet am Samstag in Düsseldorf statt, zu der auch dort verschiedene Gruppen aufgerufen haben. Die Mobilisierungen zu den Demonstrationen und Kundgebungen erfolgen oft recht kurzfristig. Achtet deshalb auf Nachrichten in den sozialen Netzwerken. Wir werden die Termine über unseren Twitter-Account vermelden, sofern wir davon Kenntnis erhalten. Eine Sammlung von Terminen findet sich auch auf einem öffentlichen Pad.
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