Info-Veranstaltung zur aktuellen Situation in Kurdistan im MultiKulti
Samstag, 15.11.2014, Beginn 20:00 Uhr, Hochstraße 53c, Eintritt frei
Nächsten Samstag, am 15.November, wollen Nazis und Hools ihren SA-Auftritt von Köln gerne in Hannover wiederholen. Eine breite Mobilisierung dagegen ist für diesen Tag so richtig wie wichtig. Andere Themen sollten jedoch nicht in Vergessenheit geraten – hängt doch, wie wir wissen – sowieso und immer alles mit allem zusammen.
Die Zusammenrottung der « Hooligans gegen Salafisten » nutzt zum Beispiel die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für so genannten « islamistischen Terror », um xenophobe und islamophobe Phantasien vom kleinbürgerlichen Stammtisch in die Kampfzonen der Straßen zu tragen. Aufhänger ist dabei der Krieg der « IS-Milizen » gegen die kurdische und arabische Bevölkerung Iraks und Syriens. Ein Thema, das auch uns in der letzten Zeit viel beschäftigte – zeigte es doch auf, dass es hier wie dort nicht um einen « Clash of Cultures » sondern um einen reaktionären Angriff auf emanzipatorische Konzepte geht. Dabei machte uns die Beschäftigung damit auch klar, dass es zwischen uns und migrantischen Genoss*innen im Stadtteil einige Verständigungslücken aufzuarbeiten gibt, die eine gemeinsame Organisation in unseren Kiezen oft verhindern. Das mit der « HoGeSa » gewaltsam auftretende eklige « Volksempfinden » zeigt jetzt, wie notwendig eine gemeinsame Verständigungsbasis aber tatsächlich ist.
Deshalb sind wir trotz der Terminkollision froh, dass das MultiKulti eine weitere Veranstaltung zum Thema Kurdistan geplant hatte – lange, bevor die Provokation der Nazihools bekannt wurde. Bei der Veranstaltung, zu der erneut u.a. Ayten Kaplan von CENÎ eingeladen wurde, werden – wie bei der ersten Veranstaltung am 19.10. im Hayat – zwei im so_ko_wpt Aktive eine Moderation versuchen und sich mit ihren Gesprächspartner*innen der immer verworreneren Lage in Rojava und Shingal stellen.
In dem Maß, in dem das allgemeine öffentliche Interesse für die Verteidigung der Selbstverwaltung im kurdischen Kanton Kobanê in Syrien in den letzten Wochen nachließ, stieg gleichzeitig der Grad an verwirrenden Nachrichten aus der Region. Menschen, die die Entwicklungen nicht laufend verfolgen, können die sich häufig wiedersprechenden Meldungen kaum noch einordnen. Es gilt, was in jedem Krieg – und erst Recht im syrischen « Bürgerkrieg » – gilt : Jede Seite steht kurz vor dem Sieg, die jeweils andere Seite muss hingegen jederzeit die drohende Niederlage fürchten, weswegen sie barabarische Verbrechen begeht. Verifizierungen fallen immer schwerer und verlässliche Quellen sind rar.
Hinzu kommt, dass auch jene, die mit der aufopferungsvollen Verteidigung der kleinen Grenzstadt Kobanê ihr Herz für die kurdische Autonomie (wieder-) entdeckten, inzwischen gelernt haben, dass ein und derselbe Vorgang auch von kurdischer Seite vielfältig dargestellt und interpretiert wird : Steht Kobanê vor der Befreiung oder vor einer « Konterrevolution » ? Stellen die 150 von der Barzani-Regierung aus dem Nord-Irak entsendenten und durch türkisches Territorium geleiteten Peschmerga eine brüderliche Unterstützung der YPG/YPJ-Selbstverteidigung in Kobanê dar, oder sind sie doch ein « Trojan Horse », mit dem die Selbstverwaltung in Rojava geschliffen werden soll ?
Fast täglich überschlagen sich zudem die Ereignisse in der Region Kurdistan. Längst geht es nicht mehr nur um die Stadt Kobanê. Während dort die Selbstverteidigung inzwischen zur Gegenoffensive übergegangen ist, nehmen brutale Angriffe auf kurdisches Territorium anderenorts neue dramatische Dimensionen an. So ist seit zwei Wochen auch die Region Shingal im Nordirak wieder ins Blickfeld gerückt. Von der nahmen viele an, das Gröbste sei vorüber, nachdem zu Hilfe geeilten YPG- und PKK-Kämpfer*innen im August die Öffnung eines Fluchtkorridors für die ins Gebirge geflohenen Yezid*innen gelungen war. Mittlerweile findet in den Sinjar-Bergen jedoch ein neuer verzweifelter Kampf nur schlecht ausgerüsteter Einheiten der Selbstverteidigung um das Überleben von etwa 7.000 geflüchteten Menschen statt – weitgehend von den nordirakischen Peschmerga alleingelassen und von der noch im Sommer alarmierten Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Zuletzt kursierten Meldungen, dass jetzt auch Afrin massiv bedroht ist. Afrin ist der westlich von Kobanê gelegene Kanton Rojavas. Die « Al Nusra-Brigaden » haben vor wenigen Tagen eine Umzingelung begonnen, nachdem einige Einheiten der « Freien Syrischen Armee » (FSA) zu ihnen übergelaufen sein sollen und ihre Waffen gleich mitgenommen haben. Spätestens mit einem Kampf um Afrin würde sich der kurdische Widerstand in Rojava jedoch mitten im innersyrischen Krieg wiederfinden : Die Entfernung von Afrin zu den Ruinen Aleppos beträgt weniger als 50 Kilometer. Wie sich eine solche Entwicklung auf das sich ständig im Wandel befindliche Geflecht temporärer Allianzen in der Region auswirken würde, ist schwer vorherzusehen. Denn dass in diesem Fall nicht auch die syrische Armee wieder auf den Plan träte, ist kaum vorstellbar : geht es im Westen des Landes doch letztlich auch um den Zugang zum Mittelmeer.
Die Vielzahl der Akteure, die den innersyrischen Krieg von Anfang an derart unübersichtlich werden ließ, dass viele sich lieber in Schweigen übten, droht damit auch den Kampf um Rojava wieder zu erfassen. Dabei hatten wir doch gerade erst geglaubt, endlich « Gute » gefunden zu haben, an deren Seite es sich als autonome Linke gut positionieren ließ. Bedingung dafür war und ist das politische Projekt der Selbstverwaltung in Rojava. Doch wie werden sich die Entwicklungen auf die ohnehin kriegsprekäre basisdemokratische und plurale Gesellschaftsstruktur auswirken ? Hat die von manchen Revolution genannte Umwälzung im kurdischen Teil Syriens eine reelle Chance im Geflecht unterschiedlichster Interessen zu bestehen ?
Am Samstagabend wollen wir über diese und andere Fragen reden. Dass das auch dem weiteren Aufbau einer neuen gemeinsamen Verständigungsbasis für hier bevorstehende Auseinandersetzungen dienen soll, versteht sich von selber. Wer also nicht nach Hannover kann oder will, ist herzlich dazu eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen.