Nach der Auftaktveranstaltung unserer Reihe „Politik in der Rechtskurve” zu den Phillipinen unter Rodrigo Duterte mit Niklas Reese im Januar (zweiteiliger Bericht zur Veranstaltung hier und hier) hatten wir am 27. April Ismail Küpeli nach Wuppertal eingeladen, um mit uns über die autoritären Entwicklungen in der Türkei und die Auswirkungen der AKP-Politik auch in türkischstämmigen Communities in Deutschland zu diskutieren. Der Zeitpunkt war bewusst gewählt – zwei Wochen nach dem Verfassungsreferendum, mit dem Recep Tayip Erdogan seine Macht festigen konnte, wollten wir uns mit den Auswirkungen beschäftigen.
„Die Türkei nach dem Referendum“ mit Ismail Küpeli – Veranstaltungsbericht
Es war mittlerweile schon die fünfte Wuppertaler Veranstaltung mit Ismail Küpeli und nicht weniger als viermal hatten wir ihn eingeladen, über die Lage in der Türkei und Kurdistan zu berichten. Wer an diesen Abenden dabei war, wusste, dass es in der Regel keine besonders hoffnungsvollen und optimistischen, dafür aber faktenreiche und informative Vorträge sind, die der Duisburger Politikwissenschaftler und Journalist im Gepäck hat. Wenig überraschend war das auch diesmal, am 27.April im ADA, nicht anders, denn es war der elfte Tag nach dem Verfassungsreferendum und der dritte Tag, nachdem die türkischen Streitkräfte begonnen hatten, Luftangriffe gegen die Stellungen der YPG/YPJ in Syrien sowie der yezidischen Selbstverteidigungskräfte YBS zu fliegen.
Hinsichtlich der Volksabstimmung über das Präsidialsystem gibt es aus Sicht von Ismail Küpeli keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem Ergebnis (51,4 Ja-Stimmen gegen 48,6 Nein-Stimmen) um massive Wahlfälschung gehandelt haben muss. Die deutschen Leitmedien hingegen hatten diese Einschätzung im Prinzip immer nur in indirekter Rede wiedergegeben ; so berichtete bspw. die „Zeit“: „Die Opposition zog die Rechtmäßigkeit der Abstimmung in Zweifel“. Bei 1,5 Millionen blockweise bei der Wahlauszählung aufgetauchten, unregistrierten und nach türkischem Wahlrecht ungültigen Stimmzetteln, die gleichwohl trotzdem gewertet wurden, dürften jedoch an einer Wahlmanipulation keine Zweifel mehr bestehen.
Zumal es weitere Seltsamkeiten gibt, wie etwa den Umstand, dass nach den offiziellen Ergebnissen speziell in den durch das türkische Militär massiv zerstörten kurdischen Gebieten besonders viele „Ja“-Stimmen abgegeben worden sein sollen – ihr Anteil lag höher als das Wahlergebnis der AKP bei den Parlamentswahlen. Das ist nicht nur unwahrscheinlich, es erscheint völlig widersinnig. Nichtsdestotrotz gibt die CHP, die größte Partei, die gegen das Präsidialsystem mobilisiert hatte, nun der kurdischen Bevölkerung im Südosten die „Schuld“ am „Ja“ zum Präsidialsystem ; die CHP hat zudem dazu aufgerufen, den Protest gegen das Referendum „nicht auf die Straße zu tragen“. Das lässt laut Ismail Küpeli wenig Raum für Hoffnungen auf einen gemeinsamen Widerstand der beiden Oppostionsparteien HDP und CHP gegen die Wahlfälschung. Besonders, da auch gegen oppositionelle Medien mit aller Härte vorgegangen wird. Der Fall Deniz Yücel ist schließlich nur aus deutscher Sicht ein besonderer : In keinem Staat sind so viele Journalisten inhaftiert wie in der Türkei. Trotz der Gleichschaltung der Medien wurde das von Erdogan fanatisch betriebene Vorhaben eines auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystems am 16.4. nur knapp bestätigt. Umso rücksichtsloser wird es nun wohl mit allen Mitteln durchgesetzt. Das beweisen tausende Entlassungen und Verhaftungen in den letzten Tagen.
Fast uneingeschränkte Macht des Präsidenten
Dem künftigen Präsidenten wird das neue politische System praktisch uneingeschränkte Macht über sämtliche staatliche Institutionen geben – der seit dem Putschversuch am 15.7. geltende (und nach dem Referendum umgehend verlängerte) Ausnahmezustand wird damit de facto verfassungsrechtlich abgesegnet und auf Dauer implementiert. Das vollständige Inkrafttreten der Verfassungsänderung wird allerdings noch zwei Jahre dauern, einige Änderungen treten erst nach den Wahlen 2019 in Kraft. Wenn alle Änderungen umgesetzt sind, wird der Staatspräsident nach Belieben MinisterInnen ernennen und absetzen können – sie müssen dann auch auch keine ParlamentarierInnen mehr sein, er kann beliebige Personen dazu bestimmen. Dem Parlament gegenüber ist er keine Rechenschaft hierzu schuldig ; er kann Ministerien auflösen, einrichten oder neu zusammensetzen, ohne dass das blockiert werden könnte. Auch Personalentscheidungen im Justizapparat und sogar im Bildungswesen (Ernennung bzw. Absetzung von Uni-Rektoren und Dekanen) obliegen künftig dem Präsidenten.
Der Präsident kann sogar den Staatshaushalt bestimmen. Der muss zwar formal vom Parlament bestätigt werden – sollte es jedoch seine Zustimmung verweigern, wird der Vorjahreshaushalt inflationsangepasst automatisch auf das nächste Jahr übertragen. Damit entfällt ein zentrales – und manchmal auch das letzte Kontrollinstrument eines Parlaments ; aktuell erfährt zum Beispiel Donald Trump, was parlamentarische Ausgabenkontrolle bedeutet. Wer sich mit der Türkei befasst, weiß jedoch, dass viele dieser Änderungen nur längst angewandte Regierungspraxis widerspiegeln. Schon heute kündigt Recep Tayip Erdogan im Staatsfernsehen Verhaftungen an, die am Folgetag durch den gesäuberten Polizeiapparat durchgeführt und durch die drangsalierte Justiz angeordnet werden. Und wie der türkische Staat auf Widerstand gegen vom Präsidenten gewünschte Investitionsvorhaben reagiert, ließ sich schließlich bereits 2013 bei der Niederschlagung der „Gezi-Proteste“ feststellen.
Nationalismus als Herrschaftskitt der AKP
Das knappe Ergebnis kann vor diesem Hintergrund daher auch so gedeutet werden, dass die Zustimmung zur Regierungslinie der AKP instabiler geworden ist. Erdogan versteht es allerdings geschickt, einige seiner wichtigsten Gegner immer wieder einzubinden wenn er an einem kritischen Punkt angekommen ist. Ein solcher Punkt könnte jetzt sein ; denn nicht nur HDP und CHP verweigerten ihm die Zustimmung zur Verfassungsänderung, sondern auch weite Teile der von ihm vor dem Referendum heftig umworbenen rechtsnationalistischen MHP. Der Angriff auf Rojava (die kurdischen Gebiete in Nordsyrien) und die dortigen YPG/YPJ-Milizen und auf die (der PKK nahestehende) yezidische Selbstverteidigung im Nordirak könnte auch der klassische Versuch eines unter Druck geratenen Regimes sein, innenpolitische Schwäche durch eine außenpolitische Eskalation zu überdecken. Sie gibt dem Militär Beinfreiheit und Ressourcen und die kemalistisch-nationalistische Opposition wird hinter der Regierung gesammelt. Selbst die kemalistische CHP steht schließlich in der Regel stramm, wenn es gegen die KurdInnen geht. Nationalismus wird so (wieder einmal) zum Kitt für das Herrschaftsgebäude der AKP.
Dass der notorische Nationalismus in der türkischen Gesellschaft, niemals, auch nicht von der türkischen Linken, überwunden wurde, hält Ismail Küpeli denn auch für einen zentralen Faktor der Schwäche linker Gegenmacht in der Türkei. Hinzu komme eine langjährige Fehleinschätzung der AKP, die von vielen fälschlicherweise als ideologische Bewegung und nicht als sehr geschickter machtstrategischer Akteur betrachtet wurde. Dabei habe es die AKP gut verstanden, den türkischen Nationalismus in ihrem Sinne zu transformieren und mit seiner Hilfe eine Islamisierung der Gesellschaft weiter zu beschleunigen. Sie habe so allmählich eine immer umfassendere kulturelle Hegemonie etabliert, die jeden alternativen Entwurf als Verrat am Islam aber eben auch an der Nation geißele.
Die Linke hat sich auch selbst paralysiert
Erste rechtsstaatswidrige Verhaftungen im Rahmen der Ergenekon-Verfahren habe die Linke noch als eine Art demokratischer Selbst-Reinigung begriffen – schließlich richteten sich die Repressionen zumeist gegen Generäle und hohe Militärs, die alten Feinde der Linken. Zugleich war es aber eben ein Manöver des neuen Regimes, sich potentieller oder imaginierter Gegner auf nicht-rechtsstaatliche Weise zu entledigen. Als weiteren Fehler bezeichnete Ismail Küpeli die scheinbare Gewissheit, der worst-case würde schon nicht eintreten und keine Strategie dagegen zu entwickeln. So wurde auch das Ausmaß der späteren Repression nicht antizipiert ; es wurde nicht erwartet, dass gewählte ParlamentarierInnen im Knast landen, oder dass ganze kurdische Städte zerstört und tausende ZivilistInnen massakriert würden. Als es doch geschah, gab es mangels Vorbereitung keine starke Reaktion. Es sei jedoch notwendig, eine realistische Einschätzung des Regimes und dessen, wozu es fähig ist, zu entwickeln.
Zunächst blieben den linken oppositionellen Kräften derzeit nur wenige Optionen, so Ismail Küpeli. Es könne nur bei jeder einzelnen Verhaftung, Entlassung, Bombardierung, bei jedem Akt des Staatsterrors gegen ZivilistInnen, weiterhin ziviler Widerstand geleistet und so versucht werden, den Preis, den das Regime dafür zu zahlen hat, möglichst hoch zu halten. Eine Option der HDP könnte es sein, sich ihrer fassadenhaften Rolle als entmachteter Oppositionspartei in einem entmachteten Parlament zu entledigen und sich auf diesen zivilen Widerstand zu konzentrieren. Als dritte Option bliebe schließlich allein die Selbstbewaffnung für den militanten Kampf. Vieles wird laut Ismail Küpeli davon abhängen, wie sich der neu begonnene Krieg in der nächsten Zeit weiterentwickelt.
Er wollte jedoch keine Prognose abgeben, ob die erfolgten Bombardierungen und Angriffe der Beginn eines langfristigen Krieges der Türkei gegen die kurdischen Selbstverteidigungskräfte ist, oder ob sie eine kurzfristige Eskalation in einem weiterhin eingegrenzten Konflikt bleiben. Das wird letztendlich von der Gesamtkonstellation der Kräfteverhältnisse im Nahen/Mittleren Osten abhängen. Noch immer werden die kurdische YPG, bzw. die kurdisch-arabischen SDF sowohl von den USA als teilweise auch von Russland unterstützt ; bislang werden sie noch als Bodentruppen und Stabilisierungsfaktor benötigt – sei es bei der Rückeroberung von Raqqa, sei es als das Regime stützender Gegenpol gegen türkisch unterstützte islamistische Milizen. Das alles kann sich allerdings jederzeit ändern, fest steht, dass die langfristigen Kriegspläne der Türkei darauf abzielen, die kurdischen Kräfte an ihrer Grenze zu neutralisieren.