Vor dem 14.November, für den das erste Mal ein transnationaler, europäischer Generalstreik gegen die neoliberale Austeritätspolitik geplant war, haben wir uns den Kopf darüber zerbrochen, wie das Wuppertaler Soli-Komitee an diesem Tag eine wirkungsvolle solidarische Aktion durchführen kann. Die vor dem Hintergrund mehrerer in der Vergangenheit durchgeführter Kundgebungen und Demonstrationen erfolgte Einschätzung der Situation in Deutschland sprach gegen einen erneuten Aufruf zu einer Solidaritätsdemonstration oder -Kundgebung.
Der Aufwand, eine solche Demonstration durchzuführen, steht derzeit in keinem Verhältnis zum erreichbaren Mobilisierungserfolg. Selbstkritisch müssen wir feststellen, dass wir über einen sehr eingegrenzten Rahmen hinaus, momentan nicht viele Menschen für solidarische Aktionen gegen die EU-Krisenpolitik in Bewegung setzen können. Die vorhersehbare Folge des Anrennens gegen Desinteresse ist nicht nur verschwendete politische Energie, sondern auch das Festsetzen eines ratlosen Gefühls der Niederlage.
Das Hamsterrad verlassen
Unsere offenen Themen im Überblick
Wir wollten an „#14n” das Hamsterrad wenig erfolgreicher Mobilisierungen verlassen und von vornherein eine auf weniger TeilnehmerInnen angelegte Aktion durchführen. Eines der Ergebnisse unserer Beratungen der letzten Monate wurde damit verknüpft, indem wir uns dafür entschieden, den 14.November ganztägig und öffentlich Themen zu besprechen, die viele Fragen zur Krise, ihren Ursachen und Folgen aufwerfen – nicht zuletzt auch für uns selbst. Denn angesichts eines fast vollständigen Blackouts der Medien erscheint uns ohne Hintergrundwissen und ohne eine öffentliche Vermittlung verschiedener Aspekte der Krisen ein breiteres Verständnis für systemische Ursachen und die Notwendigkeit, diese zu bekämpfen, nicht erreichbar. Am letzten Mittwoch sollte die Solidarität mit den Streikenden in Europa daher mit „politischer Bildung” im weitesten Sinn verbunden werden.
Dafür organisierten wir offene Themenrunden, in denen wir mit verschiedenen Gästen versuchten, Teilaspekte der Krisen auf lokale Ebenen herunterzubrechen. Denn es ist uns bewusst, dass Solidarität nur auf der Basis nachvollziehbarer Umstände entstehen kann. Gleichzeitig sollte damit auch das Märchen vom deutschen Wirtschafts- und Jobwunder entzaubert werden, dass für die Lethargie der deutschen Bevölkerung mitverantwortlich sein dürfte. An lokalen Krisenthemen, die auf vielfältige Weise mit den Anliegen der Menschen in den bestreikten Ländern verkoppelt sind, besteht in Wuppertal und Umgebung schließlich kein Mangel.
„Ein neuer, erfolgreicher Tag”
Unser Kundgebungspavillon war ab acht Uhr morgens im kleinen Wuppertaler Bankenviertel, zwischen Deutscher Bank, Commerzbank und Finanzamt und direkt am von der Sparda-Bank gesponsorten Denkmal des glücklichen Bankers („Ein neuer erfolgreicher Tag”) aufgebaut. Vor dem Zelt fand zunächst eine gut besuchte öffentliche Sozialberatung des Erwerbslosen- und Sozialhilfevereins „Tacheles” statt, mit der die Probleme von Hartz IV -BezieherInnen zwischen die Filialen der Banken geholt wurden. Parallel dazu begann die erste offene Themenrunde, die sich mit dem Drama massenhafter Zwangsräumungen in Spanien und der Lage in Deutschland zwischen steigenden Mieten und privatisierten Wohnungsgesellschaften beschäftigte.
Knut Unger vom Mieterverein Witten erläuterte zunächst die Initialzündung der Immobilienkrise : Nachdem die IT-Blase um die Jahrtausendwende geplatzt war, suchte das Kapital verzweifelt nach alternativen und profitträchtigen Anlagemöglichkeiten, und konnte diese aufgrund der Liberalisierung der Kapitalmärkte weltweit finden. Das Zusammentreffen von Spekulationskapital mit neuen (De-)Regulierungen der Immobilien- und Investmentbranche und mit nationalen Wohneigentums-Förderprogrammen für einkommensarme Gruppen, führte zur so genannten Immobilienblase. Diese platzte 2006/2007, als nach und nach klar wurde, dass die Kredite massenhaft ausfallen würden („Subprime-Krise”).
In der Folge verloren in den USA -zigtausende ihre Häuser. Und in Spanien werden inzwischen täglich (!) hunderte Wohnungen zwangsgeräumt. Diese hohe Zahl liegt zum Teil an den Besonderheiten des spanischen Insolvenzrechts. Gegen den massenhaften Verlust der eigenen Wohnungen wehren sich landesweit Basisorganisationen wie die Plattform der Hypothekenopfer, die bereits Hunderte von Zwangsräumungen durch praktische Solidarität der NachbarInnen und von Aktivisten und Aktivistinnen verhindert haben. Trotz der Besonderheiten des spanischen Hypothekenrechts, das Hypothekenbanken beinahe risikolose Geschäfte auf Kosten der Kredintnehmer ermöglicht (anders als in den USA), sind die spanischen Zwangsräumungen natürlich nicht von der Bankenkrise und zunehmender Erwerbslosigkeit infolge drastischer Kürzungsprogramme zu trennen.
In der Runde wurden dann Schwierigkeiten internationaler Zusammenarbeit erörtert, beispielsweise im Rahmen einer möglichen Kampagne für eine europaweites Räumungsmoratorium. Viel Hoffnung bestand angesichts der zuletzt wieder zunehmenden Hausbesetzungen. Einige Gesprächsteilnehmer plädierten für eine „Renaissance” der Besetzungen leerstehender Objekte, gerade auch in Deutschland. Unsere Strategien müssen in die Richtung zielen, dass Immobilien/Grund und Boden (wieder) zu vergesellschaftetem Gut wird.
In der folgenden Runde beschäftigten wir uns gemeinsam mit Gunhild Böth (Landessprecherin der Partei DIE LINKE in NRW und Bildungsexpertin) mit der Krise der Bildung für alle in Europa. Gunhild Böth berichtete u.a., dass die Bundesregierung versucht, mit der Krise ihren (angeblichen) Fachkräftemangel durch Brain-Drain auszugleichen. So war die deutsche Arbeitsministerin kürzlich in Italien und sagte dort mehrere Millionen aus dem Bundeshaushalt für eine ganz spezielle Bildungsmaßnahme zu : für Deutschkurse ! Auf dass die gut ausgebildeten ItalienerInnen, die nach ihrem Studium keinen Job finden, die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen verbessern indem sie möglichst schnell nach Deutschland kommen.
Im Rahmen der weiteren Diskussion wurde klar, dass der bildungsbürgerliche Anspruch auf Ausbildung aller auch zu früheren Zeiten nur Schimäre gewesen ist : Investitionen in Bildungssysteme erfolgen nur, wenn das kapitalistische System entsprechenden Bedarf an Arbeitskräften hat. Das „Recht auf Bildung” war zunächst ein Interesse der Industrie - heutzutage, mit einer immer stärkeren Tendenz zur Spezialisierung und zunehmenden Ausschlüssen auch gut ausgebildeter Menschen aus dem Verwertungsprozess wird dieses „Recht” zunehmend zu einer Pflicht, die das neoliberale Subjekt marktförmig zurichtet : Alle müssen sich anstrengen, in die eigene Bildung investieren und die richtigen (Bildungs-) Entscheidungen treffen - zwar ohne jede Garantie, aber wenigstens als Chance auf Teilhabe am Karrierewettlauf.
Diskutiert wurde im weiteren Verlauf darüber, ob es vor diesem Hintergrund eigentlich ein gesellschaftliches Problem darstellt oder schlicht folgerichtig, rational und auf eine Art „befreiend” ist, wenn die „Überflüssigen” beschließen, aus einem Bildungssystem einfach auszusteigen, das sein Integrationsversprechen schon längst nicht mehr hält.
Streiks statt Stärkungspakt und Rettungspaket
Nach einer kurzen Pause, in der Passanten über die aktuelle Entwicklung der Generalstreiks informiert wurden, trafen wir uns mit Gerd-Peter Zielezinski (Stadtrat Wuppertal, DIE LINKE). Mit ihm sprachen wir über die Haushaltskrisen der Kommunen. Die Lage der verschuldeten Städte – insbesondere auch Wuppertals – erinnert dabei fatal an die ausweglose Situation der Haushalte in den Krisenländern. Die für Wuppertal angekündigten Kürzungen und Einsparungen, die Voraussetzung eines ausgeglichenen Haushalts im Jahr 2016 sein sollen, betreffen hier wie dort vitale Bedürfnisse der EinwohnerInnen, führen jedoch genauso wenig wie dort zu einer absehbaren Erholung der öffentlichen Budgets.
Streikposten sind schonmal vorhanden…
Am Beispiel Wuppertals ließ sich sehr gut aufzeigen, dass ohne eine drastische „Umverteilung von oben nach unten” und eine Einnahmesteigerung der Gemeinschaften keine Lösung in Sicht ist – allen verkündeten „Stärkungspakten” und „Rettungspaketen” zum Trotz. Fazit der Diskussion : „Haushalten” bedeutet im eigentlichen Sinne weit mehr als nur Kürzungszielen hinterherzurennen. Ein nachhaltiger Haushalt muss zunächst in den Blick nehmen, was in einer Gesellschaft - der Kommune, dem Land … - gebraucht wird, um die sozialen, kulturellen und ökonomischen Bedürfnisse der Menschen zu decken. Ausgehend davon muss dann der Finanzbedarf ermittelt und mit den Einnahmemöglichkeiten in Gleichgewicht gebracht werden - in Bezug auf die Verschuldung öffentlicher Haushalte würde das Prinzip notwendigerweise auf ein Schuldenmoratorium hinauslaufen (Tragfähigkeitsprinzip).
Klar ist aber auch, dass ein solcher Paradigmenwechsel sich innerhalb der engen Grenzen technokratischen Verwaltungshandelns nicht vollziegen wird. Diese Aufgabe wird nicht mit, sondern nur gegen Stadtkämmerer, Bezirksregierung und EU-Troika angegangen werden können.
Den vierten Themenblock widmeten wir den stetig verschlechterten Arbeitsbedingungen in ganz Europa wie auch in Wuppertal, sowie der Schwierigkeit, darauf gewerkschaftlich zu reagieren. Am Beispiel der unterbezahlten und teilweise übel ausgebeuteten BusfahrerInnen in Wuppertal beleuchteten wir die zunehmend prekären Jobs auch in öffentlichem Auftrag. Anlässlich der wenige Tage zuvor stattgefundenen Auseinandersetzungen am Werkstor bei FORD Köln besprachen wir anschließend die Probleme, Belegschaften in den Betrieben für internationale Solidarität zu mobilisieren. Dabei machte unser Gast – ein Aktivist der gewerkschaftlichen Basisorganisation BaSo – klar, dass es nicht nur an betrieblicher politischer Bildung (Wie verhalte ich mich in bestimmten Situationen ? Wie schaffe ich solidarische Situationen mit meinen Kolleginnen und Kollegen ? Welchen Interessen sehe ich mich gegenüber ? usw.) mangelt, sondern auch an einer Ausweitung gewerkschaftlicher Tätigkeit auf Nicht-Erwerbstätige. Erfolgreiche Kämpfe können immer nur von bewussten Belegschaften in konkreten Situationen gemeinsam mit Außenstehenden geführt werden – etwas, das in Spanien „Volksstreik” genannt wird, und sich nicht darauf beschränkt, die Arbeit einzustellen, sondern bewusst und organisiert das gesamte öffentliche Leben lahmlegt, das also auch Schulen und Universitäten, Kultur- und Sportveranstaltungen, Gastronomie und Medien betrifft.
Ein Ziel, das in einer Zeit, in der jede und jeder zum „Unternehmer in eigener Sache” gemacht worden ist, naturgemäß immer schwerer fällt. Umso wichtiger ist es, den „gewerkschaftlichen Grundgedanken” nicht aufzugeben, und gegen den neoliberalen Zwang zur Konkurrenz innerhalb der Belegschaften und zwischen den Standorten am Prinzip (selbst-) organisierter Solidarität festzuhalten.
Volxküche und positives Fazit
Die Gespräche dauerten bis zum Abend
Nach dem – aufgrund der vorangeschrittenen Zeit leider auch letzten – Themenblock krochen Kälte und Dunkelheit langsam unter unsere „Streikwesten”. Für das Auftauchen der AZ-VoKü, die einen Streikeintopf zum Kundgebungszelt brachte, waren wir deshalb sehr dankbar. Nach dem gemeinsamen Essen, bei dem die Gespräche weitergingen – zu diesem Zeitpunkt drehten sich viele Diskussionen bereits um die zunehmenden Berichte von Polizeigewalt in Spanien, Portugal und Italien – gab es abschließend noch zwei Redebeiträge, in denen um Solidarität mít den im Hungerstreik befindlichen kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen in der Türkei, sowie mit dem antifaschistischen Kampf in Griechenland geworben wurde.
Unser Fazit des langen Solidaritätstages in Wuppertal war zunächst ein positives. Wir haben intensive und erhellende Gespräche geführt und „politische Bildung” betrieben. Erheblich getrübt wurde die Freude über die richtige Entscheidung im Vorfeld jedoch von den einlaufenden Berichten brutaler Übergriffe aus Valencia, Madrid, Barcelona oder Rom. Demgegenüber hatten wir den ganzen Tag eine beinahe gemütliche Ruhe vor der Polizei.
Wie Recht wir hatten, nicht auf allzuviele solidarische Menschen in Wuppertal zu bauen, zeigte jedoch auch die Ruhe vor unserem Kundgebungszelt, an dem die meisten WuppertalerInnen zumeist vorbeieilten. Nur wenige waren an den Flugblättern interessiert und noch weniger wollten weitergehende Informationen aus den streikenden Ländern. Solidarität fühlt sich anders an. Die Eiseskälte, die einige der Angesprochenen ausstrahlten, wurde aber wenigstens durch das schöne Herbstwetter und einige wenige, die ehrliches Interesse zeigten, immer wieder aufgebrochen.
Von den offenen Themenrunden gibt es die Streams noch online : bambuser/NoTroika