Heiligenhaus : Wiedervorlage am 19.Dezember

Vier Tage nach dem Tod von Kallo Al Hassan Kanu, der am Sonntag im Übergangs-Flücht­lings­heim in Heili­gen­haus kolla­biert war und trotz Notrufen von Mitbe­woh­ne­rInnen zu lange auf einen Kranken­wagen warten musste, haben die Geflüch­teten in der kleinen Stadt zwischen Wuppertal und Essen mit einer Demons­tra­tion auf den Fall und auf die unwür­digen Umstände ihres Lebens in der ungeeig­neten alten Schule aufmerksam gemacht. Unter­stüzt von einigen Freunden und Freun­dinnen aus der Region zogen sie wütend und kämpfe­risch vor das Rathaus der Stadt, wo gerade der Weihnachts­markt eröffnet wurde.

Die Geflüchteten auf der Rathaustreppe in Heiligenhaus

Die Geflüch­teten auf der Rathaus­treppe in Heili­gen­haus

Dabei forderten sie nicht nur wieder­holt eine Aufklä­rung der Todes­um­stände ihres Freundes Hassan, sie forderten auch energisch ein Ende der Flücht­lings­heime und die Unter­bin­gung in eigenen Wohnungen. In mehrspra­chigen Beiträgen machten sie immer wieder auf die Umstände ihres Lebens aufmerksam. Nach der plötz­li­chen Räumung der alten Unter­kunft mussten im Juli über siebzig Menschen in einer alten Schule unter­kommen. Die sanitären Verhält­nisse in dem Objekt sind katastro­phal. Für alle Bewoh­ne­rInnen zusammen gibt es ledig­lich eine Dusche ; eine eigene Toilette für die Frauen und Kinder fehlt ganz. Es gibt für die Geflüch­teten, unter ihnen auch Familien, auch nur eine einzige funktio­nie­rende Wasch­ma­schine. In der ehema­ligen Schule sind viel zu wenig Räume, manche der Geflüch­teten müssen sich zu acht oder neunt einen Raum teilen. Die Zimmer sind nicht abschließbar, es gibt keinerlei Privat­sphäre. Teilweise sind die Räume schim­melig. Viele der Bewoh­ne­rInnen haben Angst zu erkranken. Auch Hassans drama­tisch verschlech­terte gesund­heit­liche Situa­tion vor seinem Zusam­men­bruch führten einige zunächst auf die hygie­ni­schen Zustände und den Schimmel im Heim an der Ludge­russtraße zurück. Wenigs­tens in dieser Hinsicht gaben die städti­schen Stellen Entwar­nung, Hassans Erkran­kung war inter­nis­tisch bedingt und er war schon länger krank.

Diese Auskunft reicht jedoch nicht aus, die aufge­brachten Menschen zu beruhigen. Vor Hassans Tod hatten viele Angst öffent­lich zu protes­tieren – trotz der unwür­digen Zustände. Nach dem Tod ihres Freundes sagen sie jetzt, es sei doch egal, wo sie sterben würden – es erwische sie schließ­lich auch im Heim in Heili­gen­haus. Entspre­chend bitter waren die Anklagen, die vor dem Rathaus in Richtung Bürger­meister Jan Heinisch (CDU) geäußert wurden. Heinisch, der sich allen früheren Gesprächs­ver­su­chen gegen­über ableh­nend gezeigt hatte und sich auch am Dienstag nicht blicken ließ als die Geflüch­teten erstmals ins Rathaus gegangen waren, musste sich der Demo stellen. Die zornige Gruppe auf dem Weihnachts­markt löste zuviel Aufmerk­sam­keit aus. Er kam hinaus auf die Treppe des Rathauses und versuchte sich an einer Recht­fer­ti­gung. Dabei feilschte er um 30 Minuten, die der Kranken­wagen früher oder später einge­troffen sei, behaup­tete, soetwas wie eine Kosten­über­nahme für einen Kranken­trans­port würde niemanden inter­es­sieren und verwies im Übrigen auf laufende staats­an­walt­schaft­liche Ermitt­lungen zu Hassans Tod. Es erstaunte, wie geübt auch ein Funkti­ons­träger in der Provinz das Abwie­geln und die verfei­nerte Art, mit vielen Worten gar nichts zu sagen, beherrscht.

Gar nicht begeistert: Die Geflüchteten während der Rechfertigung von Heinisch

Gar nicht begeis­tert : Die Geflüch­teten während der Rechfer­ti­gung von Heinisch

Es schien, als redete er vor allem für die Heiling­hauser Menschen, die sich in wohlig-weihnacht­liche Stimmung bringen und darin nicht gestört werden wollten. Die Reaktionen einiger waren nicht überra­schend, kontras­tierten jedoch auffal­lend mit dem Nächs­ten­liebe-Tamtam aus der Musik­an­lage und dem Schim­mer­glanz der Buden des Marktes. Von « Wem’s hier nicht passt soll doch dahin gehen wo er herge­kommen ist », bis zu « Ist doch besser als bei denen im Busch », gab es zwischen Glühwein und Kinder­chor die ganze Palette ekeler­re­gender deutscher Geistes­hal­tung zu hören. Aber nicht alle reagierten so. Viele zeigten sich ehrlich betroffen und hörten den Reden der Geflüch­teten aufmerksam zu.

Auch Bürger­meister Heinisch kam letzt­lich nicht um die Zusage herum, in Kürze weiter mit den Geflüch­teten zu reden und sich um die angeklagten Mißstände im Heim an der Ludge­russtraße kümmern zu wollen. Für die von ihm angespro­chenen Verbes­se­rungen gaben ihm die Geflüch­teten eine Woche Zeit. Sie haben ihre Angst verloren und wollen weiter gemeinsam für eigene Wohnungen und ein menschen­wür­diges Leben kämpfen. Nach der Rückkehr in die alte Schule und einem live gerappten Song für ihren Freund Hassan auf dem ehema­ligen Schulhof kündigten sie selbst­be­wusst an, sich nächsten Donnerstag, am 19.12. um 16:00 Uhr, erneut zu versam­meln und über die bis dahin einge­tre­tenden Entwick­lungen zu beraten : Reaktion bewusst offen. Dazu bitten sie wieder um eine möglichst breite Unter­stüt­zung aus der Region, damit sie den Druck auf die Stadt Heili­gen­haus aufrecht halten können.

Video vom Auftritt des Bürger­meis­ters (Dank an Victory Viktoria)

Die Fotos im Artikel sind von Maman Salissou Oumarou (vielen Dank!)

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Haushaltsanierung auf dem Rücken der Schulkinder

Wuppertal, den 21.08.2012

Haushaltsa­nie­rung auf dem Rücken armer Schul­kinder

Die Stadt Wuppertal hat zum Beginn des Schul­jahres 2012/2013 die Möglich­keit der Befreiung der Schul­kinder vom Eigen­an­teil zu den Lehrmit­teln aufge­hoben. Dies betrifft Familien, die auf Arbeits­lo­sen­geld II, Sozial­hilfe oder Leistungen nach dem Asylbe­wer­ber­leis­tungs­ge­setz angewiesen sind. Der Erwerbs­losen- und Sozial­hil­fe­verein Tacheles e.V. fordert den Rat zur sofor­tigen Rücknahme dieser unsozialen Kürzungen auf. Haushalts­sa­nie­rung darf nicht zulasten der Bildungs­chancen armer Kinder erfolgen.

Diese Aufhe­bung der Befreiung von leistungs­be­rech­tigten Schul­kin­dern wurde von einer Mehrheit des Rates der Stadt Wuppertal im Rahmen des Haushalts­sa­nie­rungs­plans 2012 bis 2021verabschiedet. Die Verant­wort­li­chen begrün­deten die Kürzung mit der Einfüh­rung der Leistungen für Bildung und Teilhabe. Leistungs­be­rech­tigte Schul­kinder bekommen demnach zum Schul­jah­res­be­ginn einen Pauschal­be­trag von 70 Euro und zum Beginn des Halbjahres noch einmal 30 Euro für Schul­be­darf.

Solche Einmal­zah­lungen steht den Schüle­rinnen und Schülern bereits seit Sommer 2009 zu, um den gesamten, mit der Schul­aus­bil­dung zusam­men­hän­genden Schul­be­darf zu decken. Bildungs­aus­gaben sind im Kinder­re­gel­satz nämlich nicht berück­sich­tigt. „Dieser Betrag muss reichen, um den Bedarf vom Füller, über Zeichen­block und Malfarbe, den Schul­ranzen, bis hin zur Beklei­dung für den Schul­sport sicher­zu­stellen“,  erläu­tert Frank Jäger, Sozial­be­rater des Vereins Tacheles. „Dass mit Verweis auf Bildungs- und Teilha­be­leis­tungen jetzt auch noch der Eigen­an­teil zu den Lehrmit­teln in Höhe von bis zu 30 Euro zusätz­lich abver­langt wird, ist eine deutliche Verschlech­te­rung.“

Nach Auffas­sung des Vereins Tacheles hat die Koali­tion im Rat mit der Begrün­dung der Mittel­kür­zung sowohl die eigenen Reihen als auch die Öffent­lich­keit getäuscht. Kommu­nale Schul­leis­tungen mit Verweis auf das Bildungs- und Teilha­be­paket abzubauen, sei ein verhee­rendes bildungs­po­li­ti­sches Signal. Der Verein fordert die Parteien im Rat auf, die städti­schen Sparkom­mis­sare zurück­zupfeifen und bei der Sanie­rung der Stadt­fi­nanzen die soziale Spaltung nicht weiter zu verschärfen. „Eltern wissen, dass ein 100-Euro-Budget für ein Schul­jahr kaum ausreicht. Wer hier den Rotstift ansetzt, handelt ohne jegli­ches soziales Augenmaß“, so Jäger.

Tacheles-Online­re­dak­tion

Hinter­grund­in­for­ma­tion zur Lehrmit­tel­frei­heit in NRW und zum Eigen­an­teil, der von den Familien zu tragen ist
Tacheles e.V.

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