Solingen, 25.Mai : Mobilisierung läuft an

Die Mobili­sie­rung für die Demons­tra­tionen in der Nachbar­stadt Solingen zum zwanzigsten Jahrestag des Brand­an­schlages in der Unteren Werner­straße geht langsam in die heiße Phase. Bei einer Vielzahl von Veran­stal­tungen in der Region wird nochmal über die damaligen Ereig­nisse, den fünffa­chen Mord und die Verbin­dungen der Täter zum NRW-Verfas­sungs­schutz, die Abschaf­fung des Grund­rechts auf Asyl und über die Bezüge zu aktuellen Gescheh­nissen infor­miert. Letzten Mittwoch fand eine der Info-Veran­stal­tungen im Wupper­taler AZ statt. Dabei wurden frappie­rende Paral­lelen des damaligen Anschlages zur staat­li­chen Verstri­ckung in die Morde des « NSU » deutlich. Eine zweite Wupper­taler Veran­stal­tung ist für Donnerstag, den 23.05. im Kunst­raum OLGA geplant.

Ausge­hend von dem, was letzten Mittwoch von den Gästen aus Solingen und von den Wupper­taler Antifas, die 1993 den Fall « Untere Werner­straße » ausführ­lich recher­chiert haben, zu hören war, kann der Brand­an­schlag auf das Wohnhaus der Familie Genc nur als direkter Vorläufer der teilweise bizarren Gescheh­nisse um die staat­liche Vertu­schung der zehn Morde des « Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds » aufge­fasst werden. Ist es im aktuellen Fall vor allem das thürin­gi­sche Landesamt für Verfas­sungs­schutz, das für die haarsträu­bendsten der so genannten « Pannen » gesorgt hat, war es damals das nordrhein-westfä­li­sche Amt im SPD-regierten größten Bundes­land. Erscheint heute der « Thüringer Heimats­schutz » als mithilfe von Nazis instal­lierter staat­li­cher « Honeypot », der tatsäch­lich aber zur wichtigen Nazistruktur wurde, war es damals die Kampf­sport­schule « Hak Pao » in Solingen, mit der unter der Leitung des für den Verfas­sungs­schutz arbei­tenden Bernd Schmitt hochran­gige Nazikader in einer « offenen Struktur » « einge­fangen » und « beobachtet » werden sollten. Auch damals wurde jedoch der Brand­an­schlag am « Bären­loch », bei dem fünf junge Frauen und Mädchen getötet wurden, nicht verhin­dert.

Gespens­ti­sche Details zur Bedeu­tung der « Hak Pao»-Strukturen wurden bei der Veran­stal­tung im Wupper­taler AZ mitge­teilt : Beispiels­weise, dass von dort, wenige Tage nach dem Brand­an­schlag, kisten­weise Akten entfernt werden konnten – ohne, dass die Polizei einge­griffen hätte. Um bis zu 50.000 Blatt Papier soll es sich dabei gehan­delt haben, darunter offenbar Skizzen und Zeich­nungen von ausge­spähten « Zielob­jekten » nazis­ti­scher Anschläge in Wuppertal oder Bonn. Oder die damals recher­chierten Verbin­dungen zu bekannten, hochran­gigen Nazis, die weit über Solingen hinaus­reichten. Bei « Hak Pao » verkehrten u.a. Bernd Koch, Wolfgang Schlösser, oder der Altnazi Remer und auch der Aktivist der später verbo­tenen « Natio­na­lis­ti­schen Front » (NF) Meinolf Schön­born. Nur drei Monate vor dem Anschlag veran­stal­tete die « Natio­na­lis­ti­schen Front » in der Kampf­sport­schule noch einen « Schulungs­abend ». Laut Bericht des Landes­in­nen­mi­nis­te­riums bestand der von Bernd Schmitt gegrün­dete DHKKV (Deutscher Hochleis­tungs-Kampf­kunst­ver­band), dem 180 « Hak Pao»-Mitglieder angehörten, zu 30% aus Rechts­ex­tre­misten. Auch, dass recher­chie­renden Personen aus der Antifa seiner­zeit durch den Staatschutz offen damit gedroht wurde, sie « aus dem Verkehr zu ziehen » zeigt, dass die Angele­gen­heit weit mehr gewesen ist, als eine « aus Party­f­rust » began­gene Wahnsinnstat Einzelner. Bis heute bestehen über Täter­schaft und Tatver­lauf teils auch begrün­dete Zweifel.

Das schnelle Präsen­tieren der vier jungen Solinger als Täter, die allesamt bei « Hak Pao » trainierten, lässt sich von heute aus nur verstehen, wenn die allge­meine Stimmung und die aufge­staute Wut verge­gen­wär­tigt wird, die sich 1993 in Solingen über mehrere Tage entlud. Die damals berich­tenden Medien wussten von bürger­kriegs­ähn­li­chen Szena­rien zu berichten und schürten nach Kräften die Angst vor ethni­schen Ausein­an­der­set­zungen. Ängste, die in der Realität unbegründet waren – den gegen ein Honorar von 100 Mark teilweise kamera­wirksam verbrannten deutschen Fahnen zum Trotz. Im Gegen­teil, in Solingen und auch in Wuppertal entstand eine große spontane Solida­rität in der Bevöl­ke­rung, die aus den Ereig­nissen nach dem Brand­an­schlag für viele Menschen eine starke antifa­schis­ti­sche Erfah­rung gemacht hat. Auch davon wurde bei der gut besuchten Veran­stal­tung im Autonomen Zentrum berichtet. Die Erinne­rung an jene Wochen der Solida­rität soll am 25.05. in Solingen neben der Erinne­rung an den feigen Anschlag mit bundes­weiter Betei­li­gung wachge­halten werden.

Am 29.05. findet darüber­hinaus in Solingen eine Gedenk­ver­an­stal­tung mit anschlie­ßender Demons­tra­tion zum damaligen Tatort statt.

In Wuppertal gibt es im Vorfeld der Demons­tra­tionen noch eine weitere Veran­stal­tung, bei der am Rande letzte Infor­ma­tionen zur Demo gegeben werden : Am 23.05. präsen­tiert die « Karawane für die Rechte der Flücht­linge und Migran­tInnen » im Kunst­raum OLGA in einer Urauf­füh­rung den neuen, abend­fül­lenden Dokumen­tar­film « Akaba » der in Wuppertal lebenden Regis­seurin Mehran­dokht Feizi. Dabei wird auch an die Abschaf­fung des Grund­rechts auf Asyl am 26.05.1993 (also drei Tage vor dem Brand­an­schlag) erinnert werden.

Weitere Info- und Mobili­sie­rungver­an­stal­tungen in der Region :

Montag, 13.05. - Linkes Zentrum Düssel­dorf
Dienstag, 14.05. - Kultur­aus­bes­se­rungs­werk Lever­kusen
Mittwoch, 15.05. - Schel­lack Siegen
Donnerstag, 16.05. - VHS-Forum Köln
Dienstag, 21.05. - Kult 41 Bonn
Freitag, 24.05. - VHS Solingen

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Geöffnet bis Tumultbeginn”

 

Wupper Nachrichten vom 05.06.1993
Seite 3

Geöffnet bis Tumult­be­ginn”
Ausnah­me­tage in der Klingen­stadt : Riots nach Dienst­schluß

Unablässlg wird seit dem Mordan­schlag in Solingen demons­triert. Nur in den ersten Stunden bestimmten dabei Solinger Gruppen und Trauernde, was auf den Straßen passiert. Das von vielen Medien verbrei­tete Bild, es würden nur angereiste Rechts- und Links­ex­treme Krawall schlagen, ist aber falsch.

Als ich am Samstag mittags in Solingen ankomme, treffe ich sofort auf die erste Demons­tra­tion. Vor allem Solin­gerlnnen, Inlän­derlnnen und Auslän­de­rinnen, durch Telefon­an­rufe und das Radio alarmiert, hat es zu diesem Zeitpunkt auf die Straßen getrieben. Sie ziehen, zumeist schwei­gend, zum Tatort an der Unteren Werner­straße. Die großen „Schüs­seln” der Fernseh-Übertra­gungs­wagen fallen mir zuerst auf, dann erhasche ich einen ersten Blick auf das ausge­brannte Haus. Verkohlte Giebel­balken ragen in den Himmel, die Polizei verhin­dert mit einer Absper­rung den Zugang. „Nein du kannst jetzt nicht zu dem Haus gehen. Das macht die Kinder auch nicht wieder lebendig”, sagt eine deutsche Mutter zu ihrem Spröß­ling. Einzelne Solinger Familien bringen Blumen. Über Megaphon immer wieder die gleichen drama­ti­schen Klagen : Wie viele müssen noch sterben…

Einige tausende Menschen sammeln sich um 15 Uhr vor dem „lnter­treff” am Schlag­baum, viele Menschen aus Wuppertal und anderen umlie­genden Städten sind gekommen. Es gibt keine Reden, alles steht betroffen herum, dann erscheint auf der Kreuzung ein andere große Menge. Türki­sche Männer beten, weinen und rufen religiöse Formeln. Weil Innen­mi­nister Seiters am Haus sein soll, eilt ein Teil dorthin, die meisten brechen in Richtung Stadt auf. Die Religiösen, unter großen türki­schen Fahnen, laut ihre Parolen rufend und Fäuste schwin­gend, haben die Führungs­spitze übernommen. Wieder­holte Versuche linker Solinger Türkinnen und KurdInnen, mit ihren Trans­pa­renten die Führung­s­pitze zu erobern, schlagen fehl.

Es bildet sich die typische Choreo­gra­phie der nächsten Tage : Die Spitze der Demons­tra­tion bilden Kamera­leute und Fotografen, die mit dem Rücken zur Marsch­rich­tung beson­ders emotio­nale Szenen zu erhaschen suchen. Es folgen die „Dirigenten” des Zuges, die dafür sorgen, daß die ersten Reihen ein halbwegs geschlos­senes Bild abgeben. Dann der Pulk einer lautstarken und Fäuste schwin­genden Führungs­gruppe. Dahinter Einzel­gänger und linke Blocks, daneben Schau­lus­tige und Unschlüs­sige. Und überall dazwi­schen Jugend­liche aus Solingen und Umgebung.

An der Polizei­wache hält der Zug, bittere Vorwürfe werden gegen die Polizei erhoben, die Menge skandiert „Nazis raus”. Unver­mit­telt biegt die Spitze zum Mühlen­platz ein, der Hauptzug mit linken Deutschen und Nicht-Deutschen zieht weiter über die Haupt­straße. Auf dem Platz halten unter­dessen die abgespal­tenen Türklnnen eine kleine Kundge­bung ab. Die Aufgabe der völki­schen Staats­an­ge­hö­rig­keits-Politik wird gefor­dert. An diesem insge­samt fried­li­chen Samstag finden auch die bis heute einzigen gezielten Sachbe­schä­di­gungen der „Autonomen” statt. Die Deutsche Bank und das Auslän­deramt werden am Morgen „entglast”.

Vielleicht hundert Menschen halten am frühen Abend die Kreuzung Schlag­baum besetzt, in den nächsten Tagen Zentrum immer neuer Ausein­an­der­set­zungen. Die Busse stauen sich, in diesen Tagen läuft der Verkehr in Solingen nur ausnahms­weise ‚normal’, Die Polizei hält sich auffal­lend zurück.

Während die Solinger linken und antiras­sis­ti­schen Gruppen sich zurück­ge­zogen haben, pilgern am Sonntag weitere Menschen zu dem Haus an der Unteren Werner­straße. Gegen 21.30 Uhr errichten etwa 600 Leute eine Blockade auf der Kreuzung „Schlag­baum”. Die Stimmung ist aggressiv, die Polizei versucht vergeb­lich, eine Person festzu­nehmen. Später wird ein Polizei­wagen angegriffen, weitem Türklnnen aus dem Ruhrge­biet reisen an. Um 22.30 Uhr halten 500 Leute die Blockade aufrecht, entzünden Autoreifen. Andere 500 ziehen durch die Innen­stadt, entzünden auf den Straßen weitere Feuer. Nach Mitter­nacht beginnen die „Entgla­sungen” und Plünde­rungen. Die Polizei ist haupt­säch­lich mit ihrer eigenen Siche­rung beschäf­tigt. Immer wieder treffen neue Autokorsos ein. Bilanz der Krawall-Nacht : 50 geplün­derte oder „entglaste” Geschähe, 1 Million DM Sachschaden, 17 Festnahmen. Die Plünde­rungen und Zerstö­rungen erfolgen noch teilweise gezielt, richten sich gegen Banken, Kaufhäuser und öffent­liche Gebäude. Italie­ni­sche Eisdielen und Wohnhäuser werden weitge­hend verschont, aber auch das wird sich in den nächsten Tagen teilweise ändern.

Bereits am nächsten Mittag sind die Scherben aufge­fegt, die Fenster verklebt. Auf dem Mühlen­platz haben Solinger Künstler eine Bühne aufge­baut, Erst spät und unter Auflagen wurde das Benefiz-Konzert erlaubt. Es soll eine völlig unpoli­ti­sche Veran­stal­tung se!n. Die Familie Genc hat zugestimmt, betonen die Organi­sa­torlnnen. Für ein paar Stunden lauschen brave Bürger­kinder heimi­schen Klängen. Als es abends vor dem Haus an der Werner­straße zu Ausein­an­der­set­zungen zwischen Rechten und Linken kommt, wird Leuten, die die Menge darüber infor­mieren wollen, der Zutritt zur Bühne versagt. In den Medien heißt es später, „Autonome” hätten das Konzert gestört.

Während auf dem Mühlen­platz christ­liche Lieder erklingen, wird an mehreren Stellen in der Stadt demons­triert. Geführt von Trans­pa­renten linker türki­scher Gruppen ziehen die einen mit „Hoch die inter­na­tio­nale Solidarität”-Rufen durch die Stadt. Andere, viele junge Männer darunter, denen sich aber gleich­wohl auch andere Natio­na­li­täten und Deutsche angeschlossen haben, skandieren immer wieder „Türkiye Türkiye”, „Nazis raus” und schwingen dabei die Natio­nal­fahnen. Eine Führungs­gruppe ballt immer wieder die Fäuste zum Gruß der türki­schen Rechts­ex­tremen.

Ein türki­scher Mann aus Solingen : „Die betreiben da eine regel­rechte Hetzkam­pagne gegen Deutsche”. Viele der Mitlau­fenden verstehen nicht, was gerufen wird, oder sie können es nicht zuordnen. Kids aus der näheren Umgebung, Frauen mit Kinder­wagen, viele, auch ältere, Einzel­gänger haben sich diesem Zug angeschlossen, weil es hier ungleich emotio­naler zugeht, als bei der gleich­zei­tigen diszi­pli­nierten Demo unter Anfüh­rung der Linken.

Bei einem Zwischen­stop am Busbahnhof skandiert ein Mann mit Megaphon kurze Sätze auf türkisch, die Menge spielt den Chor. Dann taucht am Rande ein auffal­lend gut geklei­deter junger Mann auf einem Schalt­kasten auf, ohne Megaphon, aber von riesigen türki­schen Fahnen umgeben. Er redet laut, eindring­lich und in tadel­losem Deutsch : „Es sind zu viele gestorben. Ab jetzt wird kein Türke mehr sterben.” Er erntet großen Beifall. Der bishe­rige Anführer muß ihm sein Megapon überlassen. Ohne Unter­lass schleu­dert der Anzug­mann seine kurzen Sätze in die Menge. Mal wendet er sich an die „Solinger Bürge­rinnen”: „Ihr seid keine Verbre­cher, aber es sind zu viele gestorben”. Dann versteigt er sich in Gewalt­phrasen : „Städte werden brennen”. Er erntet Pfiffe, der frühere Anführer entwindet ihm das Megaphon, distan­ziert sich Der gut geklei­dete Agitator erhält die Gelegen­heit, sich zu entschul­digen, peitscht dann aber weiter auf die Menge ein.

Es geht weiter zur Polzei­wache, Zögernd, begleitet von immer wieder aufkom­menden Uneinig­keiten über die Demons­tra­ti­ons­taktik, nähert sich der Zug dem von Polizisten geschützten Betonbau. Der Gutge­klei­dete : „Wir werden die Polizisten nicht angreifen, aber fordern, daß endlich etwas geschieht”. Vor dem Gebäude angekommen heißt es dann : „Mein Herz hat geweint als ich von den Opfern hörte, aber es hat gelacht, als ich von davon hörte, daß die jungen Türken hier gestern Scheiben einge­schlagen haben.” Eine Spontan-Rednerin fordert die Freilas­sung der Verhaf­teten, andere fordern Verant­wort­liche, um mit ihnen zu debat­tieren. Unter­dessen hat eine linke Demons­tra­tion das Haus in der Werner­straße erreicht. An der ausge­brannten Fassade hängt eine türki­sche Natio­nal­flagge und ein Trans­pa­rent der linken Gruppe Dev Sol. Zwischen den verkohlten Resten eine Unmenge von Blumen. Kinder haben ihre Teddys hier her gebracht. Hochzeits­fotos, gar ein angek­okeltes Album der Familie Genc werden herum­ge­reicht. Ein Freund der Familie sammelt die persön­li­chen Gegen­stände unter Beifall wieder ein. Kinder haben ihre Teddys hier her gebracht. Hochzeits­fotos, gar ein angek­okeltes Album der Familie Genc werden herum­ge­reicht. Ein Freund der Familie sammelt die persön­li­chen Gegen­stände unter Beifall wieder ein.

Wenige Minuten später wird die von den Rechten angeführte Demo den Ort errei­chen, es wird zu einer Ausein­an­der­set­zung zwischen rechten und linken Gruppen kommen. Vor laufenden Fernseh­ka­meras wird der gutge­klei­dete Agitator Rache für die Toten fordern, zum Entsetzen für Zuschauer und Politiker. Sind die Solinger Ausschrei­tungen, die auch in der Nacht zum Dienstag wieder viele Solinger Fenster­scheiben in Mitlei­den­schaft gezogen haben, das ausschließ­liche Werk rechts­ex­tremer „Grauer Wölfe”, herum­rei­sender türki­scher Links­ra­di­kaler und deutscher Autonomer, wie die Medien immer wieder behaupten ? Offen­sicht­lich nicht, die Suche nach den „Rädels­füh­rern” verstellt wieder einmal den Blick auf die komple­xere Realität. Zwar gibt es geschlossen anrei­sende natio­na­lis­ti­sche und religiöse Gruppen, die dann auch zufällig Anwesende in ihren Bann ziehen. Ohne Zweifel gibt es auch zugereiste Agita­toren der „Graue Wölfe” genannten türki­schen Rechts­gruppen. Die Masse der Leute aber hier ist politisch kaum vorbe­lastet, für viele sind es die ersten Demons­tra­tionen in ihrem Leben. Es sind vor allem jüngere türki­sche Männer und Jugend­liche, die immer wieder von nah und fern anreisen, manche erst gegen Abend nach Dienst­schluß, um zu dem Tatort zu pilgern und dann irgendwo in der Stadt nach einem Ausdruck für ihre Wut suchen, wenn sie nicht auf den umlie­genden Autobahnen den nächt­li­chen Verkehr stoppen. Einwan­de­rer­kids ohne tradi­tio­nelle Bindungen haben in Solingen einen Raum entdeckt, wo man die Parolen der Rapsongs mal direkt ausleben kann : „Don’t believe the Hype”. Manche kommen auch mit dem Vorsatz, zu plündern.

Kreuz­berger Nächte in der Klingen­stadt.

Am wenigsten zu der Atmosphäre des Aufruhrs tragen organi­sierte linke Gruppen bei. Linke Demons­trantlnnen reisen geschlossen und diszi­pli­niert an, um ebenso wieder zu verschwinden. Die linke Solinger Szene ist seit Tagen um den Schlaf gebracht. Aber nicht, weil sie auf den Straßen randa­lieren würde, sondern weil sie in irgend­wel­chen Räumen hockt, Infor­ma­tionen sammelt, Inter­views gibt und die großen Demons­tra­tionen organi­siert. Der Sünden­bock „vermummte Autonome” ist auf den Solinger Straßen dieser Tage nicht präsent. Ahnli­ches gilt für die türki­schen und islami­schen Vereine, die immer wieder mitein­ander und mit der Stadt konfe­rieren und beraten, was zu tun ist. Die Solinger Straßen sind nicht mehr in der Gewalt der Solinger. Natür­lich erzeugt das Ängste, aber viele tragen es mit Gelas­sen­heit. „Ich habe ja Verständnis für die Leute, aber diese Krawalle sind doch Unsinn”, solche und ähnliche Sätze hört man oft. „Helmut Kohl ist ein Nazi-Kanzler”, ruft ein betrun­kener Rentner in eine Gruppe vor Polizei­autos flüch­tender Kids. „Ihr dürft nicht rennen », rät ihnen ein türki­scher Zaungast. „Bruder, schieb Wache, ob die Bullen absitzen”, fordert einer der Kids von mir und verschwindet hinter der Ecke. Ein Fernseh­team rast heran, aber schon gibt es keine Bilder mehr zu schießen. „Und hier soll also der Bär los sein?” schreit ein Videot wütend. Die Glaser machen das Geschäft ihres Lebens und freuen sich schon auf den nächsten Urlaub. Ein Kiosk­be­treiber, bei dem einge­bro­chen wurde, verteilt an die Kids Coladosen. Später werden sie vielleicht festge­nommen, nicht an den Brenn­punkten in der Solinger City, aber irgendwo an der Peripherie. Am Montag­abend waren es 16 Jugend­liche aus dem bergi­schen Land, die es in Ohligs erwischte. Sie waren zumeist aus Neugier in der Riots-Stadt, die Nacht verbrachten sie in der Elber­felder Haupt­wache.

Die zugena­gelten Schau­fens­ter­scheiben in der Innen­stadt werben mit manchmal humor­vollen Graffitis : „Geöffnet von 15 Uhr bis Tumult­be­ginn.”

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