Politik in der Rechtskurve 2 : Die Türkei nach dem Referendum

Nach der Veran­stal­tung mit Niklas Reese zu den Philli­pinen unter Rodrigo Duterte im Januar, widmen wir uns mit unserer zweiten Diskus­sion zur Renais­sance autori­tä­rerer und rechter Politik­kon­zepte der Türkei und Recep Tayip Erdogan. Einge­laden haben wir mit Ismail Küpeli erneut einen guten alten Bekannten.

Hier ist die Ankün­di­gung der Diskus­sion von der Website der Veran­stal­tungs­reihe.

The winner takes it all - Die Türkei nach dem Referendum. Diskus­sion mit Ismail Küpeli

Am Oster­sonntag ist in der Türkei jene Entschei­dung gefallen, die sowohl innen- als auch außen­po­li­tisch seit langem im Zentrum der Entwick­lungen in der Türkei stand. In einem Referendum haben sich angeb­lich 51% der Wählenden für die Einfüh­rung einer autori­tären, durch parla­men­ta­ri­sche oder juris­ti­sche Instanzen nicht wirksam kontrol­lierten Präsi­di­al­de­mo­kratie entschieden. Das knappe Ergebnis wird jedoch von Manipu­la­ti­ons­vor­würfen überschattet – unter anderem wurden vor allem im (kurdi­schen) Südosten der Türkei kurzfristig mindes­tens 1,5 Millionen Wahlzettel akzep­tiert, die nicht offiziell validiert waren. Recep Tayyip Erdogan hat jedoch schon am Wahlabend keinen Zweifel daran gelassen, dass Einwände gegen das Referendum nicht zugelassen werden. Vielmehr wertet seine Partei AKP das angeb­liche Votum als eine nachträg­liche Legiti­ma­tion autori­tärer Politik, des Kriegs in den kurdi­schen Gebieten und der Massen­ent­las­sungen und -verhaf­tungen. Es ist zu befürchten, dass im Verlauf der bis 2019 geplanten Einfüh­rung der neuen Präsi­di­al­macht weitere Schritte zu einer offenen Diktatur gemacht werden ; am Tag nach dem Referendum wurde zunächst erneut der Ausnah­me­zu­stand  in der Türkei verlän­gert. Wie der Weg in die Diktatur aussehen wird, hängt nicht zuletzt von der Reaktion jener Hälfte der Bevöl­ke­rung ab, die am 16.4. mit „Nein“ stimmte – unmit­telbar nach der Verkün­dung des Ergeb­nisses haben in größeren türki­schen Städten tausende Menschen auf der Straße gegen die Wertung der Wahl protes­tiert. Ein breiter Wider­stand scheint jedoch bereits weitge­hend unmög­lich, zumal die größte Opposi­ti­ons­partei, die republi­ka­ni­sche CHP, regel­mäßig zwischen Koope­ra­tion und Wider­spruch pendelt.

Erwachende Ressen­ti­ments

Der sehr verbis­sene Wahlkampf um ein „Evet“ oder „Hayir“ hat aber zuneh­mend auch in Deutsch­land Spuren hinter­lassen, wo etwa 1,4 der 3,5 Millionen Menschen türki­scher Abstam­mung am 16.4. wahlbe­rech­tigt waren. Bespit­ze­lungen durch den türki­schen Geheim­dienst „MIT“ und Einrei­se­ver­bote in die Türkei sowie aus Ankara offen befeu­erte Denun­zia­tionen, Boykott­auf­rufe oder Gewalt­an­dro­hungen haben den Autori­ta­rismus tief in die türkisch/kurdischen Commu­nities deutscher Städte und in Beleg­schaften deutscher Betriebe getragen. Von der deutschen Mehrheits­ge­sell­schaft eher unbemerkt wurden viele „Nein“-WählerInnen in Furcht versetzt – wenn nicht um sich, dann doch um Freunde und Angehö­rige in der Türkei. Eine niedrige Wahlbe­tei­li­gung von nur 46% bei den hier lebenden Türkinnen und Türken und mehr als 60% der abgege­benen Stimmen für die Änderung der Verfas­sung in der Türkei waren eine Folge. Dieses Ergebnis wiederum hat in Deutsch­land viele Ressen­ti­ments auf den Plan gerufen, die in den letzten Jahren verblasst schienen. Oft war die Rede davon, „die Mehrheit der Türken“ in Deutsch­land habe sich für Erdogans Pläne entschieden, was angesichts der Zahl der Wahlbe­rech­tigten und der Wahlbe­tei­li­gung nicht zutrifft, aber dennoch zur Grund­lage von zum Teil absurden Forde­rungen gemacht wird.

Zehn Tage nach dem Referendum wollen wir bei unserer Veran­stal­tung im ADA darüber disku­tieren, wie es in der Türkei unter der Allein­herr­schaft eines Präsi­denten weiter­gehen kann und welche Möglich­keiten der Opposi­tion noch verbleiben. Ebenso wichtig ist uns auch eine Diskus­sion zu den Verwer­fungen in der türkisch-stämmigen Commu­nity in Deutsch­land, die noch lange nach dem Referendum fortwirken werden, und darüber, wieso dem „langen Arm Ankaras“ in Deutsch­land nicht genug entge­gen­ge­setzt wurde und wird.

Mit Ismail Küpeli haben wir einen der profi­lier­testen Publi­zisten zur türki­schen Politik zu Gast, der das Ergebnis des Referen­dums für uns einordnen soll. Ismail Küpeli ist jedoch nicht nur ein aufmerk­samer Beobachter und Bericht­erstatter zur türki­schen Politik, er hat zuletzt auch selber unlieb­same Erfah­rungen mit regie­rungs­nahen türki­schen Pressu­regroups gemacht. Anfang 2017 verkün­dete er deshalb einen viel beach­teten Rückzug aus sozialen Netzwerken. Mittler­weile berichtet Ismail auch wieder bei Twitter und Facebook über das Geschehen in der Türkei.

Donnerstag, 27.4.2017, 20:00 Uhr, Café ADA, Wiesen­straße 6, Wuppertal.
Der Eintritt ist frei, Spenden werden gerne entge­gen­ge­nommen.

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Aus Dutertes Phantasma lernen ? Veranstaltungsbericht Teil 2

Am 22. Januar startete unsere Veran­stal­tungs­reihe „Politik in der Rechts­kurve“ zum Wahljahr 2017 mit einer Veran­stal­tung, die sich mit bereits 2016 statt­ge­fun­denen Wahlen beschäf­tigte. Wir nutzten einen Besuch unseres in Manila lebenden Freundes, des Sozio­logen Niklas Reese (u.a. Heraus­geber des „Handbuch Philip­pinen“), um über den Wahler­folg Rodrigo Dutertes bei den philli­pi­ni­schen Präsi­dent­schafts­wahlen zu reden und dessen seit Sommer 2016 umgesetzte Politik des „Kriegs gegen Drogen“ näher zu betrachten. Unter anderem wollten wir wissen, ob es – bei allen Beson­der­heiten der philli­pi­ni­schen Politik – auch Gemein­sam­keiten des autori­tären Politik­kon­zepts Dutertes mit aktuellen rechten europäi­schen, bzw. US-ameri­ka­ni­schen Bewegungen gibt.

Unsere Erkennt­nisse aus der Diskus­sion mit Niklas Reese haben wir in zwei Berichten zur Veran­stal­tung aufge­schrieben. Im ersten Teil geht es um notwe­nige Infor­ma­tionen zur Politik Rodrigo Dutertes, in diesem zweiten Teil widmen wir uns mögli­chen Schlüssen daraus für die eigene politi­sche Arbeit.

Was lässt sich aus Dutertes Erfolg lernen ? Veranstaltungsbericht Teil 2

In den Philli­pinen regiert seit einem dreiviertel Jahr ein Präsi­dent mithilfe eines Phantasmas, nach dem Drogen­händler und Drogen­nutzer für fast alle gesell­schaft­li­chen Probleme des Landes verant­wort­lich sind. Bei der ersten Veran­stal­tung unserer Reihe „Politik in der Rechts­kurve“ hat der in Manila lebende Sozio­loge Niklas Reese ausführ­lich darüber berichtet. Mit seiner Art zur Etablie­rung eines autokra­ti­schen Systems ist Rodrigo Duterte sicher ein Vorreiter von Politik­kon­zepten, die auch in anderen Teilen der Welt Erfolge erzielen, in der Türkei, in den USA und nicht zuletzt auch in weiten Teilen Europas. Im zweiten Teil unseres Artikels beschäf­tigen wir uns mit der Frage, was wir aus Dutertes Erfolg lernen können, um ähnliche Erfolge rechter Politik zu verhin­dern.

Trotz aller Unter­schiede zu rechten oder „rechts­po­pu­lis­ti­schen“ europäi­schen oder US-ameri­ka­ni­schen Entwick­lungen – so präsen­tiert sich Duterte zum Beispiel als Vorreiter für sexuelle Selbst­be­stim­mung und Frauen­rechte und pflegt gute Bezie­hungen auch zu den musli­mi­schen Bevöl­ke­rungs­teilen auf Mindanao – zeigte der erste Vortrag unserer Reihe durchaus Paral­lelen zu politi­schen Entwick­lungen in Europa oder den USA auf. Nur vorgeb­lich „aus dem Nichts“ der Provinz kommend, hat Duterte bishe­rige Seilschaften und Sphären politi­schen Einflusses der von ihm so genannten „alten Eliten“ haupt­säch­lich deshalb aufmi­schen können, weil es seiner Kampagne gelang, eine auf ihn und sein Programm zugeschnit­tene Beschrei­bung der philli­pi­ni­schen Realität durch­zu­setzen. In der sind die „Elitisten“ identisch mit den „Feinden des Volkes“, zumin­dest paktieren sie mitein­ander. Dutertes ziemlich bizarre Erzäh­lung von der Verant­wort­lich­keit der Drogen­händler und -nutzer für alle gesell­schaft­li­chen Probleme ist dabei das Äquiva­lent jener Schimären, mit denen rechte Bewegungen in den USA oder in Europa komplexe Zusam­men­hänge auf einfache Verant­wort­li­chen­keiten und Schuld­zu­wei­sungen reduzieren. In ihren Parallel-Wirklich­keiten kann ein „Feind“ eindeutig benannt werden – um welchen es sich jeweils handelt, erscheint austauschbar. Die Konstruk­tion eines „Feindes” erfor­dert in jedem Fall „Lösungen“ die es erfor­der­lich machen können, zuvor allge­mein anerkannte Grenzen zu überschreiten. Die hallu­zi­nierte Bedro­hung für das gleicher­maßen hochsti­li­sierte wie anderer­seits auf eine handhab­bare definierte Größe reduzierte Gemein­wesen, wo man sich kennt und dem Handeln morali­sche Erwägungen zugrun­de­liegen, erfor­dert kollek­tive Vertei­di­gung. Dabei scheint es egal, ob es sich dabei um eine „Region”, eine „Nation”, „das Abend­land” oder eine Religion handelt. Demokra­ti­sche oder rechts­staat­liche Prinzi­pien sind dabei hinder­lich. Sie werden deshalb mit dem „Feind“ assozi­iert. Rodrigo Duterte sieht Menschen­rechts-NGOs als Teil einer westli­chen Verschwö­rung mit den Drogen­kar­tellen am Werk, Recep Tayip Erdogan unter­stellt der Presse, im Auftrag von „Terro­risten” zu berichten, für AfD und Pegida haben sich  „Gutmen­schen“ und „Lügen­presse” verschworen, den „Volkstod” zu betreiben.

Ein frontaler strategischer Angriff Gläubiger

Hinter den, die rechten Politik­kon­zepte befeu­ernden absurden Beschrei­bungen der Wirklich­keit verbirgt sich mehr als ein irres Phantasma. Sie sind ein frontaler strate­gi­scher Angriff auf Grund­rechte und Demokratie. In (West-) Europa oder den USA befindet sich dieser Angriff bislang noch im Stadium des Versuchs zur Durch­set­zung alter­na­tiver Reali­täts­be­schrei­bungen ; von vielen wird er bislang nicht als Strategie erkannt. In den Philli­pinen ist die Entwick­lung weiter­ge­diehen. Dort ist bereits zu erleben, wie der Umbau kollek­tiver Wirklich­keits­be­schrei­bungen und die daraufhin einge­lei­teten „Maßnahmen zur Vertei­di­gung des Vokes“, eine zuvor nur phanta­sierte Bedro­hung für die Bevöl­ke­rungs­mehr­heit nach und nach ganz real werden lassen. Die reale Verun­si­che­rung nähert sich sukzes­sive dem vorher nur sugge­rierten „gefühlten“ Bedro­hungs­sze­nario an. Die Lage der Einzelnen wird tatsäch­lich bedroh­lich, ohne dass sich die Betrof­fenen jedoch gegen jene wenden würden, die das ganze Szenario überhaupt erst erschaffen haben, wie aktuelle Umfragen in den Philli­pinen belegen. Ausschlag­ge­bend dafür ist die Wirkmäch­tig­keit des einmal etablierten Phantasmas ; die anwach­sende Unsicher­heit wird nicht auf die tatsäch­liche Bedro­hung, also auf Dutertes „Death-Squads“, zurück­ge­führt, sondern deren vorgeb­lich notwen­dige Härte ist vielmehr Ausweis der wachsenden Stärke und Bedroh­lich­keit des imagi­nierten „Volks­feindes“. Mithilfe des zur Wirklich­keit mutierten und zur Grund­lage staat­li­chen Handelns gemachten Phantasmas wird nach und nach die Lebens­wirk­lich­keit der Menschen real verän­dert. Die „Macht der Drogen­händler” wird als ursäch­lich für die eigene zuneh­mende Bedro­hung durch den „Krieg gegen Drogen” angesehen. Folge ist, dass außer­halb der alter­na­tiven Wirklich­keits­er­zäh­lung angesie­delte Alter­na­tiven zu noch größerer Härte und zu noch mehr Morden kaum noch vorstellbar sind. Beängs­ti­gend ist, mit welcher Geschwin­dig­keit dieser Prozess nach dem ersten Erfolg der Duterte’schen Erzäh­lung in den Philli­pinen ablief : Vom Phantasma vor der Präsi­dent­schafts­wahl bis zur tatsäch­li­chen Reali­täts­ver­än­de­rung dauerte es nur wenige Monate.

Eine Kritik an rechten Politik­kon­zepten, die sich haupt­säch­lich an den „verrückten Argumenten” oder an der vorgeb­li­chen Dummheit der damit Argumen­tie­renden festmacht, erweist sich deshalb als verhäng­nis­voll. Sie verkennt einfach , dass es einen „Plan” gibt und dass es sich um wohlüber­legte Strate­gien zur Umwäl­zung der Gesell­schaft handelt. Der Plan fußt nicht auf argumen­ta­tiver Ratio­na­lität, sondern auf Gläubig­keit. Dutertes Erzäh­lung von der „Schuld der Drogen­händler” basierte nie notwen­di­ger­weise auf Fakten, ebenso wenig wie die Behaup­tung einer Bedro­hung durch Migran­tInnen in Europa. beides wird schlicht geglaubt. Die Diffa­mie­rung zuvor glaub­wür­diger Quellen wie NGOs oder unabhän­giger Medien ist dabei kalku­lierter Teil der Strategie. Sie bereitet die Immuni­sie­rung der an die jewei­lige „alter­na­tive Realität” Glaubenden gegen jegli­chen Einwand vor. Dieser Irratio­na­lität Gläubiger argumen­tativ entge­gen­zu­treten ignoriert vollkommen, dass alle Versuche dazu beim Gegen­über glaubens­ver­stär­kend wirken, denn sie stellen eine Handlung „feind­lich einge­stellter Menschen“ dar, deren einziges Ziel es ist, das Erkennen der imagi­nierten „Wahrheit“ zu verhin­dern. Basis dafür ist ein empfun­denes „Innen” und ein abgren­zend definiertes „Außen”. Religiöse Sekten funktio­nieren genauso. Wer die Glauben­grund­sätze zu diskus­si­ons­wür­digen Meinungen gesell­schaft­li­cher Diskurse macht, besorgt daher das Geschäft der rechten Strategen. Die Kontra­henten einer Diskus­sion werden im Glauben bestärkt aus der Debatte hervor­gehen, gleich­zeitig werden ihre Thesen für neutra­lere Betei­ligten mehr und mehr zu norma­li­sierten Debat­ten­bei­trägen. Auch das ist rechtes Kalkül : Es geht nicht darum, dass die neutra­lere Betei­ligten – die sich gerne „unpoli­tisch“ oder „nicht rechts und nicht links“ nennen – anfangen, den Glauben zu übernehmen. Vielmehr sollen sie durch die vorge­tra­genen diffe­rie­renden „Fakten“ zuneh­mend verun­si­chert werden. Am Ende soll möglichst niemand mehr wissen können, was denn nun stimmt. Dieses Verwi­schen und unkennt­lich machen gehört zur rechten Diskurs­stra­tegie : Die „Neutralen“ sollen so aus Diskus­sionen heraus­ge­halten und wortwört­lich „neutra­li­siert” werden.

Wo es kein „Vorwärts“ mehr geben darf, bleibt nur ein „Zurück“

Die „alter­na­tiven Reali­täts­be­schrei­bungen” diskursiv zu ignorieren, heißt freilich nicht, die Ursachen ihrer zuneh­menden Akzep­tanz auszu­blenden. Es ist notwendig, sich mit den Gründen für den Erfolg hallu­zi­nierter „Parallel-Reali­täten“ zu beschäf­tigen. Das passiert scheinbar auf allen Kanälen und in jeder zweiten Talkshow. Doch die angegrif­fenen Gesell­schaften offen­baren bei den Debatten um die Gründe für den Erfolg der von ihnen so genannten „Populisten” einen blinden Fleck, der sie im Zweifel die inhalt­liche Diskus­sion einer analy­ti­schen vorziehen lässt. An zu vielen Stellen befinden sie sich selbst in Erklä­rungsnot – ein Großteil des Bestehenden basiert seiner­seits auf nicht-fakti­schen, „alter­na­tiv­losen” Reali­täts­be­schrei­bungen. Während es der so genannten „Elite“ der Philli­pinen nie gelang, weit verbrei­tete große Armut als Folge von Korrup­tion und herrschenden neoli­be­ralen Verhält­nissen wahrzu­nehmen, haben die europäi­schen Gesell­schaften ihre blinden Flecken, wenn es beispiels­weise um eigene Verant­wort­lich­keiten für weltweite Flucht­ur­sa­chen geht und konkret hilfreiche Gegen­maß­nahmen einzu­leiten ; also Waffen­handel zu stoppen oder wirklich wirtschaft­lich fair zu handeln. Die Verla­ge­rung der Probleme von den Flucht­ur­sa­chen auf die Flüch­tenden bietet sich so zwangs­läufig an. Anfäl­lig­keit für einfache Reali­täts­kon­struk­tionen kann auch eine Flucht vor dem Anerkenntnis eigener Verant­wor­tung sein. Dass Mittel­schichten angesichts fehlenden Problem­be­wusst­seins und fehlender wirkli­cher Lösungs­an­sätze in beson­derem Maß für einfache Reali­täts­be­schrei­bungen anfällig sind, ist demnach weniger einer immer wieder von Politik und Medien angeführten „Angst vor einem Absturz“ geschuldet, sondern vielmehr Ausdruck eines nicht einge­stan­denen Wissens um eigene Verant­wort­lich­keit und der eigenen Unfähig­keit, daraus Konse­quenzen zu ziehen. Die Mär von der „Absturz­angst” perpetu­iert vielmehr die eigene alter­na­tiv­lose Erzäh­lung neoli­be­raler Gesell­schaften : Für ihre Politik und Medien ist es einfa­cher zu behaupten, Menschen hätten Angst vor einem gesell­schaft­li­chen Abstieg als real vorhan­dene Ängste vor notwen­digen Verän­de­rungen anzuspre­chen. Ohne eine Thema­ti­sie­rung der Ursachen tatsäch­lich bestehender Probleme können die attakierten bürger­li­chen Schichten für uns  jedoch keine Hilfe im Kampf gegen eine „Politik in der Rechts­kurve“ sein.

Und noch etwas bleibt oft ausge­blendet : Die Rückkehr des Natio­nalen und der einfa­chen Wirklich­keits­be­schrei­bungen sind auch Ausdruck zuvor geschei­terter Aufbrüche und geschei­terter Alter­na­tiven. Selten wird bei der Erfor­schung von Ursachen aktueller Entwick­lungen auf das geschaut, was vor einer Genera­tion die heute handelnden Personen (mit-) geprägt hat. Es ist sicher kein Zufall, dass die Wieder­kehr offen autori­täter Politik in den Philli­pinen möglich war, nachdem eine Genera­tion das Schei­tern der mit dem Sturz von Ferdi­nand Marcos vor gut dreissig Jahren verbun­denen Hoffnungen ihrer Eltern erlebte, oder dass es auch in den osteu­ro­päi­schen Ländern wie Polen, Rumänien oder der Slowakei eine „Nach-Aufstands-Genera­tion“ ist, die sich natio­na­lis­ti­schen und einfa­chen Denkmus­tern zuwendet. Auch das Schei­tern vieler, mit großen Hoffnungen verbun­dener Aufbrüche ist mit dem Beharren herrschender Gesell­schafts­schichten auf das Bestehende eng verbunden. Vielfach haben sie schnell direkte und indirekte Wege gefunden, ihre Macht zu erhalten und aus vorgeb­li­chen Befrei­ungen und Umgestal­tungen ledig­lich eine Neuauf­lage des Alten zu machen. Zu viele, einer Zukunft zugewandte Versuche wurden schlei­chend wirtschaft­lich oder ganz brutal mit Tränengas und Gummi­ge­schossen auf der Straße beendet. Die Anfäl­lig­keit für in der Vergan­gen­heit angesie­delte Verspre­chen darf vor diesem Hinter­grund nicht überra­schen. Wenn diese Hypothese zutref­fend ist, lässt sie angesichts der fortge­setzten Reihe geschei­terter und verra­tener Revolten in den letzten Jahren (etwa im so genannten „arabi­schen Frühling“) Böses erahnen. Eine fundierte linke und kriti­sche Ausein­an­der­set­zung mit den geschei­terten Aufbrü­chen ist deshalb überfällig. Die derzeit dring­lichste Frage bleibt jedoch, wie die Durch­set­zung rechter Wirklich­keits­be­schrei­bungen durch­kreuzt werden kann und wann es für einen Kampf um vermeint­liche Mehrheiten zu spät sein könnte. Wenn die bürger­li­chen Mitte im zuvor geschil­derten Sinn „neutra­li­siert” ist, kann es nicht mehr um Mehrheiten gehen. Es geht dann um kriti­sche Massen. Angesichts der Hochge­schwin­dig­keit, mit der Autokraten dem Ausbau und Erhalt ihrer Macht dienende Maßnahmen durch­setzen, besteht die Gefahr, den Zeit für Strate­gie­wechsel zu verpassen : Sowohl die Philli­pinen als auch beispiels­weise die Türkei sind in sehr kurzer Zeit von Ländern mit ´hohem Wider­stand­po­ten­tial zu in weiten Teilen paraly­sierten Gesell­schaften geworden. Auf dem Weg dahin wurden jeweils mehrere Linien überschritten, von denen kurz zuvor noch angenommen wurde, dass ihr Überschreiten entschlos­senen Wider­stand auslösen würde.

Inzwi­schen ist in beiden Ländern eine „Exit“-Perspektive jenseits katastro­phaler wirtschaft­li­cher oder gewalt­samer Entwick­lungen kaum noch denkbar. Doch wann erreicht eine einmal von rechts etablierte Wirklich­keits­ver­zer­rung den „point of no return“ jenseits zivil­ge­sell­schaft­li­cher Korrek­tur­mög­lich­keiten ? Reicht ein Wahlsieg aus, oder müssen erst Maßnahmen wie Massen­tö­tungen in den Philli­pinen oder Massen­ver­haf­tungen wie in der Türkei begonnen haben ? Welche konkreten Schritte sind es, die  rechte Herrschaft so absichert, dass eine Opposi­tion sich und ihre Aktivi­täten neu definieren muss ? Sicher ist, dass der Prozess ein schlei­chender ist und dass es vor Errei­chen des „point of no return“ kein lautes „Alerta!” geben wird. Die Beispiele von erfolg­reich umgesetzten rechten Strate­gien können unsere Wahrneh­mung schärfen. Unsere Veran­stal­tungs­reihe wird fortge­setzt.

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