Wir können uns nicht einmauern”

 

Wupper Nachrichten vom 05.06.1993
Seite 5

Wir können uns nicht einmauern”
WN-Gespräch mit Rudolf Dressler, Bundes­tags­ab­ge­ord­neter und stell­ver­tre­tender Vorsit­zender der SPD-Fraktion

WN : Herr Dressler, in der letzten Woche wurde das Asylrecht im Grund­ge­setz sehr weitge­hend geändert. Sie haben mit einer großen Gruppe anderer SPD-Abgeord­neter dagegen gestimmt. Warum ?

Dressler : Es gab mehrere Gründe. Ein Grund war die Dritt­staa­ten­re­ge­lung, die nach meiner Auffas­sung nicht gelöst ist mit dem was jetzt vorliegt. Damit im Zusam­men­hang : Ein Land, welches die Integra­tion Europas ganz hoch auf die Priori­tä­ten­skala seiner politi­schen Entschei­dungen gesetzt hat, kann seine eigenen Probleme nicht auf andere ungleich finanz­schwä­chere Länder abladen. Ein anderer Punkt war das im Zusam­men­hang mit der Änderung des Artikel 16 unmit­telbar verknüpfte Asylbe­wer­ber­leis­tungs­ge­setz, welches ich für inakzep­tabel halte…

WN : Warum ?

Dressler : Weil dort selbst die Menschen, die in Deutsch­land ins Verfahren kommen, was ja nach der Verän­de­rung des Artikel 16 - um es höflich zu sagen, mit hohen Hürden versehen wurde, die Menschen, die ihren Aufent­halts­status bekommen, kein Geld, sondern Gutscheine erhalten. Und wer sich jemals angesehen hat, wie das mit den Gutscheinen wirkt, der kann nur unschwer zu dem Ergebnis kommen, daß Gutscheine keine Alter­na­tive zum Bargeld sein können…

Ein weiterer Grund für mein Votum war, daß der Artikel 16 in eine Form gekleidet wurde, die fast schon Komment­ar­cha­rakter hat. Ich bin bisher davon ausge­gangen, daß die Änderung einer Verfas­sung sich auf präzise, relativ einfache Sätze beschränkt. Wenn man jetzt schon kommen­tarhaft eine Änderung eines Artikels der Verfas­sung vornimmt…

WN : … aus einem einfa­chen Satz wurde eine ganze  Seite Ausnah­me­re­ge­lungen…

Dressler : … dann ist das wohl auch ein Zeichen dafür, daß man sich sehr unschlüssig war. Die Texte, die jetzt in die Verfas­sung aufge­nommen wurden, sind eigent­lich keine Verfas­sungs­texte sondern Geset­zes­texte und darüber hinaus Komment­ar­texte.

Ein weiterer Grund ist, daß ich der festen Überzeu­gung bin, daß sich an den Quani­täten so wenig ändern wird, daß eine Änderung der Verfas­sung in diesem entschei­denden Artikel 16 kaum zu recht­fer­tigen war. Denn die Lage ist : Von 100 Asylbe­wer­bern kamen bis zur Inkraft­set­zung dieser neuen Regelung 5 über den Frank­furter Flughafen und 3 über die deutschen Grenzen. 92 Asylbe­werber befanden sich bereits in Deutsch­land, in welchen Städten auch immer, und stellten dort ihren Antrag. Sie sind über offene Grenzen gekommen. Deutsch­land mit 9 offenen Grenzen in alle Himmels­rich­tungen kann sich nicht abschotten. Wir können uns nicht einmauern. Und dieje­nigen, die jetzt im Land sind und mit diesen erschwerten Bedin­gungen eine Asylbe­wer­bung errei­chen wollen, werden zwangs­läufig lügen. Wenn sie sagen, sie kommen aus einem sogenannten Dritt­land oder einem verfol­gungs­freien Land, besteht die Gefahr der Abschie­bung. Darum werden sie über ihren Einrei­seweg schweigen.

WN : Das wird Ihnen dann aber als Nicht-Mitwir­kung ausge­legt…

Dressler : Ja, das ist möglich. Jeden­falls wird der, der ehrlich ist mit Sicher­heit
aufgrund dieser Regelung abgeschoben. Und derje­nige, der lügt hat e!ne Chance. Eine Gesetz­ge­bung, die mich überhaupt nicht überzeugt.

WN : Die politi­sche Ausein­an­der­set­zung wird mit der Asylrechts­än­de­rung ja nicht beendet sein. Es werden weitore Maßnahmen befürchtet, zum Beispiel die Verstär­kung der Grenz­kon­trollen…

Dressler : Das wird man ja nicht schaffen, wir können nicht um uns Grenz­kon­trollen aufstellen, da benötigen wir zig tausende Grenz­schutz­be­amte…

WN : … die fatale Logik, die hinter diesem Gesetz steckt…

Dressler : Ich habe damals auf dem Peters­berg zu denje­nigen gehört, die eine Asylrechts­än­de­rung wollten, weil ich die Notwen­dig­keit erkannt habe. Aber da ging es ausschließ­lich um dem Rechts­staat entspre­chende Verfah­rens­fragen ohne jede Verän­de­rung des Artikels 16. Es bezog sich auf Verfah­rens­fragen nach 19,4 (die grund­ge­setz­liche Rechts­we­ge­ga­rantie, Anm. d. Red.), die mit dem Schen­gener Abkommen das ganze für die EG kompa­tibel machen sollten. Aber das war nicht gewollt…

Vielleicht haben wir es auch ungenü­gend verkauft und inter­pre­tiert. Was wir damals wollten, hat mit dem, was jetzt passiert ist, nichts zu tun…

WN : Da fragt man sich, warum die Mehrheit der SPD-Fraktion trotzdem diesem Gesetz­ent­wurf zugestimmt hat…

Dressler : Ich kann nur Vermu­tungen auf der Grund­lage der Debatten in der Fraktion anstellen ; ich kann versu­chen, das zu analy­sieren : Bei vielen wird es die Furcht gewesen sein, wenn man sich jetzt verwei­gert, von der CDU gejagt zu werden. Das Spiel­chen, das Schäuble seit 1990 im Sommer auf eine schlimme Art und Weise gefahren hat, das hat viel bewirkt…

WN : Dieses CDU-Spiel­chen mit der SPD wird ja jetzt nicht zu Ende sein…

Dressler : Nein, aber sie hoffen es. Manche werden sicher auch überzeugt sein, daß die Grund­ge­setz­än­de­rung helfen kann. Es ist ja nicht so wie die Grünen zum Beispiel behaupten, daß wir mit dieser Grund­ge­setz-Änderung ein anderes Land geworden wären. Eine solche Behaup­tung halte ich für absurd. Es geht darum, ob man mit solchen Regelungen eine Verfas­sung ändern darf, wissend, daß man das quanti­ta­tive Problem überhaupt nicht lösen kann…

WN : … außerdem bestehen ja weiterhin verfah­rens- und verfas­sungs­recht­liche Bedenken…

Dressler : … ja, daß Hoffnungen geweckt werden, die nicht erfüllt werden können.

WN : Nun gibt es eine ganze Menge Leute, gerade auf den Straßen Solin­gens in diesen Tagen, die befürchten, daß sich rechts­ra­di­kale Gruppen durch diese Form der Grund­ge­setz-Änderung geradezu ermutigt fühlen, zumal ja auch die Peters­berger Beschlüsse zeitlich In unmlt­tel­barem Zusam­men­hang mit Rostock standen.

Dressler : Ich halte beide Argumente für abstrus und absurd, an den Haaren herbei­ge­zogen. Als Engholm zu diesem Peters­berger Termin einlud, wußte kein Mensch, was in Rostock passierte. Erst als wir da waren, erreichte uns die Nachricht von Rostock und da waren wir mitten im Thema drin… Da einen Zusam­men­hang herzu­stellen, das ist schon bösartig.

Einen Zusam­men­hang Solingen mit der Beschluss­fas­sung in der letzten Woche im Parla­ment herzu­stellen, ist genauso absurd. Ob wir das beschlossen hätten oder nicht, einer der mordet, lässt sich nicht durch eine Asylrechts­än­de­rung abhalten oder motivieren. Das sind ja nicht allein Rechts­ex­tre­misten, sondern das sind Mörder. Dabei spielt das Alter keine Rolle. Das ist eine Mörder­bande…

WN : … aber solche Täter bewegen sich in einer politi­schen Atmosphäre, in der Asylbe­werber ständig als sogenannte Schein­asy­lanten angegriffen werden. Überall in den Medien und Kneipen wird seit langem darüber gespro­chen…

Dressler : … das ist aber eine andere Ebene. Die hat nichts mit dieser Asylge­setz­ge­bung zu tun. Da gibt es keinen kausalen Zusam­men­hang. Das, was in Deutsch­land seit Mitte der 80er Jahre eine völlige Verän­de­rung erfahren hat, ist die Sensi­bi­li­täts­schwelle. Briefe an mich, die bis 85 anonym waren, mit solchen Parolen und Hetze, sind heute offen, mit Anschrift, mit Namen, mit Telefon. Die Art und Weise, wie die CDU/CSU dieses Thema für partei­po­li­ti­sche Zecke im wahrsten Sinne des Wortes mißbraucht hat, die hat die Hemmschwellen gesenkt. Wenn Politik pausenlos von einer Flut, von einer Überschwem­mung redet, der innere Friede sei gefährdet, dann wird man damit die Luftho­heit über den Stamm­ti­schen sicher­lich erobern können, aber dem Sachver­halt wenig gerecht werden.

WN : Hätte nicht die SPD hier geradezu die Verant­wor­tung, deutliche Gegen­sym­bole zu setzen, anstatt sich auf solche Debatten einzu­lassen ?

Dressler : Die SPD ist eine Volks­partei und keine Split­ter­partei wie FPD oder Grüne, die SPD muß genauso auf diese Strömungen achten, wie das die CDU in einem anderen Spektrum auch muß.

Wenn die SPD diese Ängste ignoriert, die nun einmal objektiv bestehen, durch wen auch immer provo­ziert, dann wird sie als Opposi­tion in einer solchen Entwick­lung keinen Einfluß gewinnen. Zumal wir nichts zu sagen haben in den Augen der Leute, weil wir hier nur mit 33,5% Stimmen­an­teil sitzen. Die Zusam­men­hänge von Födera­lismus, Grund­ge­setz und Mehrheits­fin­dung verstehen zu wenige. Wenn Sie heute sagen, die Arbeits­lo­sen­un­ter­stüt­zung muß gekürzt werden und gleich­zeitig wird erklärt, für Asylbe­werber benötigen wir im Jahr zweistel­lige Milli­ar­den­be­träge, dann werden Sie keine Zustim­mung finden. Das hat mit Hass oder Rechts­ex­tre­mismus zunächst einmal gar nichts zu tun. Die Krisen­si­tua­tionen, In denen sich Politik zur Zeit befindet, hat Ursachen, das sind hausge­machte politi­sche Entwick­lungen. ’85 hat diese Regie­rung den sozialen Wohnungsbau auf Null gebracht. Die Wirkungen haben wir heute. Die Menschen fragen nicht danach, wer das ’85 gemacht hat. Sie sehen heute, sie bekommen keine Wohnung, weil Asylbe­werber, weil Aussiedler den Vorrang genießen…

WN : Aber das stimmt doch nicht. Ein Asylbe­werber genießt bei der Wohnungs­ver­gabe doch kein Vorrecht…

Dressler : Aber selbst­ver­ständ­lich. Jeder Asylbe­werber muß unter­ge­bracht werden.

WN : Herr Dressler : In Solingen herrscht nun seit dem Brand­an­schlag quasi ein Ausnah­me­zu­stand. Türki­sche Menschen sind aufge­bracht, es werden türki­sche Natio­nal­fahnen geschwungen, es hat Ausschrei­tungen gegeben. Sind das Vorboten einer neuen Entwick­lung ? Befürchten Sie, daß sich Teile der türki­schen, der auslän­di­schen Bevöl­ke­rung gewalt­tätig zur Wehr setzen ?

Dressler : Solingen hat gezeigt, daß dort gleiches passiert wie bei den deutschen Rechts- oder Links­ex­tremen. Sie rotten sich aus der ganzen Bundes­re­pu­blik zusammen und mißbrau­chen solch einen tragi­schen Vorfall für ihre politi­schen Zwecke. Die Grauen Wölfe haben sich dort zusam­men­ge­ballt, sie sind aus Süddeutsch­land angereist. Wir wissen, daß linke Autonome sich ebenfalls zusam­men­ge­braut haben und in Solingen versu­chen, gegen die Grauen Wölfe anzugehen. Und das alles auf dem Rücken von Opfern, die man nicht mehr lebendig machen kann. Die Beson­nenen, etwa Auslän­der­bei­räte, haben Mühe das alles unter Kontrolle zu halten. Da muß meiner Meinung nach die Polizei mit wirkli­cher Härte voran­gehen. Wahrschein­lich hat die Polizei einen Deeska­lie­rungs­ver­such gemacht. Aber daß man zum Beispiel den Führer der Grauen Wölfe einfach reden und zum Mord aufrufen lässt, das geht zu weit. Da hätte die Polizei eingreifen müssen. Da geht es ja nicht mehr um Redefrei­heit, da geht es um Volks­ver­het­zung, um Straf­taten.

WN : Eine Forde­rung die jetzt von vielen erhoben wird, ist die schnelle Einfüh­rung beispiels­weise einer doppelten Staats­bür­ger­schaft.

Dressler : Es gibt drei Dinge, von denen ich glaube, daß sie signal­haft wirken könnten. - Wir können nicht jeden Menschen vor eventu­ellen Gewalt­tä­tern schützen, wir sind kein Polizei­staat.- Erstens : Das kommu­nale Wahlrecht. Wir haben nächste Woche einen SPD-Antrag in der Verfas­sungs­kom­mis­sion nicht wegen Solingen, der liegt schon länger vor, das kommu­nale. Wahlrecht in unsere Verfas­sung einzu­fügen.

WN : Auch für Nicht-EG-Ausländer ?

Dressler : Das ist jeden­falls unsere Forde­rung. Aber wenn man sich wenigs­tens in einem ersten Schritt darauf einigen könnte, dies für EG-Ausländer zu machen… Ob sich die bishe­rigen Gegner einer solchen Regelung durch die Solinger Vorfälle eines Besseren besinnen, ist aller­dings zweifel­haft. Das kommu­nale Wahlrecht wäre jeden­falls ein wichtiges Signal, nicht nur an die auslän­di­sche, auch an die deutsche Bevöl­ke­rung, daß hier weitere Schritte zur sozialen Integra­tion unter­nommen werden.

Zweitens muß die doppelte Staats­an­ge­hö­rig­keit weiter auf der Tages­ord­nung bleiben.
Der dritte Punkt : Man muß sich überlegen, jetzt ein Signal in die Türkei und beson­ders an die Jugend in der Türkei und an die Jugend­li­chen in Deutsch­land zu geben : Kann man nicht ein deutsch­tür­ki­sches Jugend­aus­tausch­pro­gramm machen, ähnlich wie wir das mit Frank­reich bereits haben ?

Gefragt werden muß, ob mit solchen Signalen nicht heute deutlich Prozesse zu mehr sozialer Integra­tion in Gang gesetzt werden können. Aber diese Fragen müssen nicht in erster Linie an meine Fraktion, sondern an die Regie­rungs­par­teien gestellt werden. Da sieht es düster aus. Ob das ein oder andere doch noch eine Chance hat, werden die nächsten Tage zeigen.

Das Gespräch führte Knut Unger

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