Wupper Nachrichten vom 03.07.1993
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Nachbarschaften!
Ein Anfang ist gemacht, ein deutliches Zeichen ist gesetzt: Überall im Elberfelder Norden, aber auch in anderen Wuppertaler Stadtteilen, hat eine nicht geringe Zahl von Menschen gezeigt, daß sie bereit sind, Zeit und Energie zu opfern, um sich und ihre NachbarInnen vor ausländerfeindllchen Gewaltanschlägen zu schützen.
Die einzelnen Initiativen sind dabei so unterschiedlich, wie die Menschen, die sich zufällig in ihnen zusammengefunden haben. So haben sich die BewohnerInnen des Viertels nördlich der Wiesenstraße, alarmiert durch die Brandanschläge in der Helmholtzstraße, eine vergleichsweise klare Organisationsstruktur geschaffen, die viele Ausländerlnnen und auch ältere Deutsche einbezieht. Die Ölberg-lnitiative dagegen ist arg geschrumpft, auch wenn in ihr Ideen wie die einer multinationalen Frauengruppe entstanden sind. Freilich bestehen am Ölberg auch unabhängig von den förmlichen Treffen auf dem Otto-Böhne-Platz schon traditionell mannigfache Kontakte zwischen Ausländerlnnen und Deutschen. Viele Einwanderlnnen verfügen hier über eigene Läden, Vereine und Treffpunkte, die ganz alltägliche Anknüpfungspunkte für Nachbarschaftsinitiativen bilden. Sehr multikulturell geht es auch bei der Initiative zu, die das Gebiet zwischen Wiesenstraße und Hochstraße umfasst. Diese Gruppe hat auch eine erste kommunalpolitische Forderung aufgestellt: Von der Telekom verlangt sie die Errichtung eines Telefonhäuschen am Helene-Weber-Platz. Die Initiative vom Platz der Republik hat es bislang nicht geschafft, viele Menschen über den Kreis der überwiegend jungen und deutschen Gründungsaktivistlnnen hinaus anzusprechen. Der Stadtteil ist insgesamt anonymer als die Nachbarviertel. Schon das Zusammentreffen der jüngeren Deutschen, die sich bisher kaum oder nur zum Teil kannten, wird häufig als ein wichtiger Erfolg gewertet. Über diese Elberfelder Inititiativen hinaus haben sich auch in Arrenberg, Unterbarmen und Wichlingshausen Ansätze zu neuen Gruppen gebildet.
Viele Nachbarinnen finden die spontanen Selbsthilfeaktionen gut, haben aber noch nicht den Weg zu den Treffen der Initiativen gefunden. Dafür gibt es sicherlich viele Gründe. Nicht jede/r kann es sich erlauben, die halbe Nacht für eine Nachbarschaftsinitiative zu opfern. Andere werden Angst vor einem möglichen Zusammentreffen mit Nazis haben, oder sie hegen Vorbehalte gegen "Leute, die sich anmaßen, Polizeiarbeit zu machen". Daß die Polizei alleine uns kaum schützen kann, das haben die schrecklichen Vorfälle der letzten Wochen gezeigt. Die Nachtwachen können im Stadtteil zwar auch keine totale Sicherheit schaffen, aber sie drücken den deutlichen Willen aus, daß wir unsere Nachbarinnen ohne deutschen Pass nicht alleine lassen wollen in ihrer Sorge und ihrer Angst vor möglichen Anschlägen. Es darf in den Stadtteilen keine Leerräume geben, in denen sich rassistische Mörderbanden, begünstigt durch systematisches Weggucken von Staat und Gesellschaft, zusammenrotten können.
Großstädtische Wohnviertel lassen sich nicht kurzer Hand in Dörfer verwandeln, wo jede/r jede/n kennt. Aber ein Mindestmaß an gemeinschaftlicher Verantwortung für die Viertel, in denen wir leben, wird immer mehr zu einer Vorraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Wir alle müssen jetzt zeigen, daß wir gewillt sind, das bereits entstandene Miteinander verschiedener Nationen und Kulturen aktiv zu verteidigen. Wenn wir unsere Stadtteile tatsächlich in "multikulturelle Gesellschaften" verwandeln wollen, ohne Diskriminierung, aber auch ohne Verdrängung von Problemen, erfordert das wesentlich mehr, als den Konsum von Kebab und Souflaki.
Nach mehreren Wochen Nachtwachen stellt sich jetzt die Frage, wie es weitergehen soll. Wie bei allen Bewegungen, die aus spontanen Betroffenheiten heraus entstanden, kann man auch jetzt davon ausgehen, daß die Bereitschaft, sich einzusetzen mit der Zeit stark abnehmen wird. Bisher gibt es neben den Nachtwachen viel zu wenig alternative Beteiligungsmöglichkeiten für die Menschen in den Stadtteilen. Wer sich nicht die Nächte um die Ohren schlagen kann oder will, der hat keinerlei Möglichkeiten, sich für die Stadtteilinititiativen zu engagieren. In diversen Stadtteilgruppen mangelt es an Kontakten zur ansässigen Bevölkerung. Da ist noch jede Menge Arbeit zu leisten. Auch Gruppen und lnstitutionen, die schon seit längerem der ausländerfeindlichen Offensive entgegenwirken, sind bislang kaum einbezogen. Es müssen schleunigst Ideen entwickelt werden, wie die allnächtlichen Aktivitäten durch alltägliche ergänzt werden können.
Die Nachtwachen dürfen nicht wie zuvor die Lichterketten zu scheinheiligen Symbolen eines guten Gewissens werden. Auf der Grundlage der Stadtteilinitiativen ließen sich tausendundeine Sachen entwickeln. Zum Beispiel fehlt es an einem zentralen Kontaktpunkt für alle Menschen, die von rassistischen Diskriminierungen, nicht nur Gewaltdrohungen, betroffen sind. Beschwerden über diskriminierende Zustände in Schulen, Läden oder bei der Vermietung könnten vielleicht über ein Telefon gesammelt werden. Und unter Nutzung des weitreichenden und diverse Berufe umfassenden Kommunikationsnetzes der Stadtteilinitiativen könnte dann in jedem Einzelfall überlegt werden, was zu tun ist. Auch dabei könnte natürlich der Kontakt zu Institutionen wie Mietervereinen, Kommunikationszentren, Flüchtlings- und Ausländerberatungen hilfreich sein.
Knut Unger