Die WN vom 19.06.1993

Die zweite Ausgabe der „Wupper Nachrichten” nach dem Brand­an­schlag von Solingen befasst sich mit weiteren versuchten echten Anschlägen und galop­pie­renden Ängsten in der Region. In einem weiteren Artikel beschäf­tigt sich die Zeitung mit dem lange geleug­neten Nazi-Hinter­grund des Mordan­schlags in der Unteren Werner­straße.
Die Zeitung belegt gut die aufge­heizte Atmosphäre in den Städten des Ruhrge­bietes und in Wuppertal in der Zeit nach dem Anschlag, die zwischen Hysterie, großer Entschlos­sen­heit und Aktivismus schwankte. Drei Wochen nach der Tat hatten sich – nach weiteren versuchten Brand­stif­tungen auch in Wuppertal – erste Nachbar­schafts­ko­mi­tees gegründet, viele Gerüchte und Warnungen machten die Runde.
Auch in Hattingen brannte nur wenige Tage nach Solingen das Haus einer türki­schen Familie. Der Fall sollte Öffent­lich­keit und Behörden noch lange beschäf­tigen – wurden doch, analog zur NSU-Mordserie, nach kurzer Zeit die Opfer selber zu Verdäch­tigen. Im Verfahren gegen die Mutter gab es schließ­lich beim Essener Landge­richt einen Freispruch. Die wahren Täter wurden nie ermit­telt. Einen weiteren Artikel der „Wupper Nachrichten” zum Brand in Hattingen gab es im August 1993, den wir zu einem späteren Zeitpunkt ins Dossier aufnehmen.
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Nächtliche Bürger-Patrouille

 

Wupper Nachrichten vom 19.06.1993
Titel­seite

Nächt­liche Bürger-Patrouille
Nach Brand­an­schlägen : Bewegung in den Stadt­teilen

Immer mehr Menschen mit und ohne deutschen Pass weigern sich, nach den Brand­an­schlägen in Solingen, Hattingen, Wülfrath und in der Wupper­taler Helmholtz­straße zur Tages­ord­nung überzu­gehen und allein auf die Polizei zu vertrauen. In Wuppertal haben sich mehrere Bürger­gruppen gebildet, die versu­chen, Schutz­maß­nahmen zu organi­sieren.

Bereits seit Wochen patrouil­lieren neben der Polizei türki­sche Fahrzeuge auf den nächt­li­chen Straßen. Nachdem es in der Nordstadt und in Unter­barmen wieder­holt zu Drohan­rufen kam, wachen türki­sche Geschäfts­leute nachts vor ihren Geschäften. Türki­sche Hausfrauen nehmen aus ihren Fenstern die Straßen in Augen­schein.

Daß die Sorge, auch in Wuppertal könnten sich auslän­der­feind­liche Brand­an­schlage wieder­holen, berech­tigt ist, beweisen zwei Brände am 10. Juni in der Helmholtz­straße, einem Viertel, dessen Bwohnerlnnen das Zusam­men­leben zwischen Türkinnen und Deutschen als beson­ders gut bezeichnen. Trotz Einrich­tung einer Nacht­wache gelang es bislang unbekannten Tätern, an zwei Stellen Feuer zu legen, die jedoch schnell entdeckt wurden. In einem der betrof­fenen Häuser leben Deutsche, Türken und Jugoslawen, in dem zweiten fast nur Deutsche. ein Hinweis darauf, daß es die Täter bei der Auswahl ihrer Opfer keines­wegs so genau nehmen und auch die vielen gemischt bewohnten Bauten in Elber­feld stark gefährdet sein können.

Auch in der Helmholtz­straße sind die Anschläge nicht vom Himmel gefallen. Anwoh­nerlnnen berichten über rassis­ti­sche Pöbeleien gegen­über Kindern. Nach Solingen kam es zu einer Welle anonymer Bedro­hungen. Am Morgen des 9. Juni wurde eine türki­sche Familie mit Drohan­rufen traktiert. Am Abend warnte die Polizei verschie­dene türki­sche Vereine und Mitbe­woh­nerlnnen, es sei mit Anschlägen in der Nordstadt zu rechnen. Anwoh­nerlnnen beobach­teten am Abend Skinheads mit einem Benzin­ka­nister. In ersten Verlaut­ba­rungen leugnete die Polizei dennoch politi­sche Hinter­gründe für die Taten. 150 empörte Nachba­rinnen versam­melten sich dann am Samstag in einem Park und beschlossen, selbst aktiv zu werden. Sie richteten Brand­wa­chen ein und planen ein Stadt­teil­fest.

Aus Protest gegen die Anschläge kam es in Wuppertal zu mehreren politi­schen Demons­tra­tionen von Schüle­rinnen und Linken. Aber seit ca. zwei Wochen ist nun auch Bewegung in die isolierten Stadt­teil­be­woh­nerlnnen Elber­felds gekommen. Viele unter­schied­liche Menschen zeigen die erstaun­liche Bereit­schaft, Farbe zu bekennen und aktiv etwas für den Schutz vor weiteren Anschlägen zu unter­nehmen. Mit massen­haft verklebten zweispra­chigen Zetteln riefen betrof­fene Bürge­rInnen, zumeist aus bestehenden Zusam­men­hängen der Alter­na­tiven Szene, zu weiteren Versamm­lungen unter freiem Himmel auf.

Am Samstag, dem 12. Juni versam­melten Sich bis zu 200 Leute auf dem Platz der Republik und teilten sich nach Revieren für die Nacht-Streifen auf. Dominierte anfangs der spontane Impuls, irgend etwas zu tun, um im Gefah­ren­fall die Nachba­rInnen zu alarmieren, haben nach mehreren geopferten Nächten jetzt weiter­ge­hen­dere Überle­gungen einge­setzt : Wie kann man die Nacht­streifen und das Warnsystem auf Dauer Iogis­tisch optimieren ? Was ist zu tun, wenn man rechten Gewalt­tä­tern auf den nächt­li­chen Straßen begegnet ? Welche Sicher­heits-Maßre­geln sind an den Häusern und ihren Eingängen zu ergreifen ? Wie soll mit der spärlich patrouil­lie­renden Polizei zusam­men­ge­ar­beitet werden ? Wie verhält man sich zu natio­na­lis­ti­schen oder islamis­ti­schen Türken ? Wie kann man die noch nicht einbe­zo­genen Nachba­rInnen errei­chen und wie verbes­sert man die dringend nötige Kommu­ni­ka­tion unter­ein­ander und mit den anderen Stadt­teil­in­itia­tiven ?

Am Sonntag kam es zu einem ähnli­chen Treffen auf dem Otto-Böhne-Platz am Öiberg Die anwesenden Stadt­teil­be­woh­nerlnnen zeigten ein starkes Bedürfnis über die Ereig­nisse zu reden. Andere wollten lieber unmit­telbar etwas tun. Es wurden verschie­dene Arbeits­gruppen gebildet, die die Nacht­wa­chen organi­sieren und weitere Versamm­lungen planen. Die Ölberger Initia­tive hat die hier tradi­tio­nell starke Kruste von Autonomen, Linken und Frauen­be­we­gung durch­bro­chen und bezieht bereits jetzt sehr verschie­dene Leute ein. Im Unter­schied zur augen­blick­li­chen Situa­tion am Platz der Republik machen hier auch viele türki­sche Einzel­per­sonen und Gruppen mit. Initia­tiv­le­rlnnen betonten gegen­über den WN, daß man die Entwick­lung einer bloßen Gegen­mi­li­tanz zu den Nazis durch den offenen und breiten Zusam­men­schluß vieler Nachba­rInnen verhin­dern wolle. Auch die Ölber­gerlnnen ringen mit dem Problem, wie man dem legitimen Bedürfnis der Anwoh­ne­rInnen, spontan zu kommu­ni­zieren Raum gibt und gleich­zeitig die organi­sa­to­ri­schen und Iogis­ti­schen Voraus­set­zungen für dauer­hafte Siche­rungs­struk­turen schafft. Ziel sind neue Nachbar­schafts­zu­sam­men­hänge auf Haus- und Straßen­ebene, die auch ohne politi­sche Klammer, Bedro­hungs­druck und bürokra­ti­sche Organi­sa­tion auf Dauer funktio­nieren.

Auch am Platz der Republik und am Ölberg sind Stadt­teil­feste geplant. In anderen Wupper­taler Stadt­teilen laufen Vorbe­rei­tungen zur Bildung ähnli­cher initia­tiven.

Schwie­rige Anfangs­phase der Komitees

 

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