Kategorie: Wupper Nachrichten vom 19.Juni 1993
Online-Dossier Solingen 1993 : Ausgabe 12/93 der Wupper Nachrichten vom 19.Juni 1993
Nächtliche Bürger-Patrouille
Wupper Nachrichten vom 19.06.1993
Titelseite
Nächtliche Bürger-Patrouille
Nach Brandanschlägen : Bewegung in den Stadtteilen
Immer mehr Menschen mit und ohne deutschen Pass weigern sich, nach den Brandanschlägen in Solingen, Hattingen, Wülfrath und in der Wuppertaler Helmholtzstraße zur Tagesordnung überzugehen und allein auf die Polizei zu vertrauen. In Wuppertal haben sich mehrere Bürgergruppen gebildet, die versuchen, Schutzmaßnahmen zu organisieren.
Bereits seit Wochen patrouillieren neben der Polizei türkische Fahrzeuge auf den nächtlichen Straßen. Nachdem es in der Nordstadt und in Unterbarmen wiederholt zu Drohanrufen kam, wachen türkische Geschäftsleute nachts vor ihren Geschäften. Türkische Hausfrauen nehmen aus ihren Fenstern die Straßen in Augenschein.
Daß die Sorge, auch in Wuppertal könnten sich ausländerfeindliche Brandanschlage wiederholen, berechtigt ist, beweisen zwei Brände am 10. Juni in der Helmholtzstraße, einem Viertel, dessen Bwohnerlnnen das Zusammenleben zwischen Türkinnen und Deutschen als besonders gut bezeichnen. Trotz Einrichtung einer Nachtwache gelang es bislang unbekannten Tätern, an zwei Stellen Feuer zu legen, die jedoch schnell entdeckt wurden. In einem der betroffenen Häuser leben Deutsche, Türken und Jugoslawen, in dem zweiten fast nur Deutsche. ein Hinweis darauf, daß es die Täter bei der Auswahl ihrer Opfer keineswegs so genau nehmen und auch die vielen gemischt bewohnten Bauten in Elberfeld stark gefährdet sein können.
Auch in der Helmholtzstraße sind die Anschläge nicht vom Himmel gefallen. Anwohnerlnnen berichten über rassistische Pöbeleien gegenüber Kindern. Nach Solingen kam es zu einer Welle anonymer Bedrohungen. Am Morgen des 9. Juni wurde eine türkische Familie mit Drohanrufen traktiert. Am Abend warnte die Polizei verschiedene türkische Vereine und Mitbewohnerlnnen, es sei mit Anschlägen in der Nordstadt zu rechnen. Anwohnerlnnen beobachteten am Abend Skinheads mit einem Benzinkanister. In ersten Verlautbarungen leugnete die Polizei dennoch politische Hintergründe für die Taten. 150 empörte Nachbarinnen versammelten sich dann am Samstag in einem Park und beschlossen, selbst aktiv zu werden. Sie richteten Brandwachen ein und planen ein Stadtteilfest.
Aus Protest gegen die Anschläge kam es in Wuppertal zu mehreren politischen Demonstrationen von Schülerinnen und Linken. Aber seit ca. zwei Wochen ist nun auch Bewegung in die isolierten Stadtteilbewohnerlnnen Elberfelds gekommen. Viele unterschiedliche Menschen zeigen die erstaunliche Bereitschaft, Farbe zu bekennen und aktiv etwas für den Schutz vor weiteren Anschlägen zu unternehmen. Mit massenhaft verklebten zweisprachigen Zetteln riefen betroffene BürgerInnen, zumeist aus bestehenden Zusammenhängen der Alternativen Szene, zu weiteren Versammlungen unter freiem Himmel auf.
Am Samstag, dem 12. Juni versammelten Sich bis zu 200 Leute auf dem Platz der Republik und teilten sich nach Revieren für die Nacht-Streifen auf. Dominierte anfangs der spontane Impuls, irgend etwas zu tun, um im Gefahrenfall die NachbarInnen zu alarmieren, haben nach mehreren geopferten Nächten jetzt weitergehendere Überlegungen eingesetzt : Wie kann man die Nachtstreifen und das Warnsystem auf Dauer Iogistisch optimieren ? Was ist zu tun, wenn man rechten Gewalttätern auf den nächtlichen Straßen begegnet ? Welche Sicherheits-Maßregeln sind an den Häusern und ihren Eingängen zu ergreifen ? Wie soll mit der spärlich patrouillierenden Polizei zusammengearbeitet werden ? Wie verhält man sich zu nationalistischen oder islamistischen Türken ? Wie kann man die noch nicht einbezogenen NachbarInnen erreichen und wie verbessert man die dringend nötige Kommunikation untereinander und mit den anderen Stadtteilinitiativen ?
Am Sonntag kam es zu einem ähnlichen Treffen auf dem Otto-Böhne-Platz am Öiberg Die anwesenden Stadtteilbewohnerlnnen zeigten ein starkes Bedürfnis über die Ereignisse zu reden. Andere wollten lieber unmittelbar etwas tun. Es wurden verschiedene Arbeitsgruppen gebildet, die die Nachtwachen organisieren und weitere Versammlungen planen. Die Ölberger Initiative hat die hier traditionell starke Kruste von Autonomen, Linken und Frauenbewegung durchbrochen und bezieht bereits jetzt sehr verschiedene Leute ein. Im Unterschied zur augenblicklichen Situation am Platz der Republik machen hier auch viele türkische Einzelpersonen und Gruppen mit. Initiativlerlnnen betonten gegenüber den WN, daß man die Entwicklung einer bloßen Gegenmilitanz zu den Nazis durch den offenen und breiten Zusammenschluß vieler NachbarInnen verhindern wolle. Auch die Ölbergerlnnen ringen mit dem Problem, wie man dem legitimen Bedürfnis der AnwohnerInnen, spontan zu kommunizieren Raum gibt und gleichzeitig die organisatorischen und Iogistischen Voraussetzungen für dauerhafte Sicherungsstrukturen schafft. Ziel sind neue Nachbarschaftszusammenhänge auf Haus- und Straßenebene, die auch ohne politische Klammer, Bedrohungsdruck und bürokratische Organisation auf Dauer funktionieren.
Auch am Platz der Republik und am Ölberg sind Stadtteilfeste geplant. In anderen Wuppertaler Stadtteilen laufen Vorbereitungen zur Bildung ähnlicher initiativen.