Vor den Demonstrationen in Solingen :
Interview mit einem Mitorganisator der Wuppertaler Nachbarschaftskomitees in der Elberfelder Nordstadt, zwanzig Jahre nach dem Brandanschlag von Solingen.
„Die Gesellschaft hat ein Fischgehirn“
M. kam Ende der achtziger Jahre nach Wuppertal. Quasi pünktlich zur Wiedervereinigung erreichte er nach einer politischen Haft in der Türkei ein « freies » Land im Taumel. Sein Status war der eines Flüchtlings, eines « Asylanten », wie er und tausende andere damals von Medien und Menschen genannt wurden. Als er gerade zwei Jahre hier gelebt hatte, wurden in Hoyerswerda Menschen vertrieben, weil sie « Asylanten » waren. In Rostock brannte wenig später das « Sonnenblumenhaus ». Dann verbrannten drei türkische Frauen in Mölln.
M., der sich in Initiativen gegen die Änderung des Asylrechts engagierte, sah die Einschläge näherkommen. Am 26.Mai 1993 schließlich wurde der Kampf um ein menschenwürdigeres Asylrecht in Deutschland verloren. Drei Nächte später brannte in unmittelbarer Nachbarschaft seiner neuen Heimat ein von TürkInnen bewohntes Haus. In der Unteren Wernerstraße in Solingen wurden fünf türkische Mädchen und Frauen getötet, es gab schwer verbrannte Verletzte.
Es waren nicht die einzigen Brände in jenen Tagen. Die anderen sind nur längst vergessen. Es brannte auch in Wuppertal, auf dem so multikulturellen und linken Oelberg. Das rassistische Geschehen war direkt bei M. angekommen. Er war nicht nur als einer der ersten bei einem der Brände, er organisierte auch ein basisdemokratisches Nachbarschaftskomitee zwischen der Wiesenstraße und der Helmholtzstraße mit. M. brachte die NachbarInnen zusammen. Dieser Aufgabe widmet sich M. bis heute. Er organisiert Kultur und Austausch. M. ist aus dem Viertel, in dem er bis heute lebt und arbeitet, nicht wegzudenken.
Wenige Tage vor dem Jahrestag des Solinger Brandanschlages, fragten wir ihn nach seinen Erinnerungen und zu seiner Einschätzung der heutigen Bedeutung der damaligen Ereignisse.
Du hast uns erzählt, dass du einer von denjenigen gewesen bist, die Anfang Juni 1993 einen der beiden Brände in der Helmholtzstraße im Elberfelder Norden gelöscht haben. Was war da genau ?
Es gab in dieser Nacht zwei Brände in zwei Häusern in der Helmholtzstraße. Die Hausnummern weiß ich nicht mehr. Eines der Häuser war gegenüber der Schule weiter westlich, das andere war in Richtung der Froweinstraße, auf der rechten Seite. Erst brannte es in dem Haus an der Schule, dann in dem anderen. Wir waren an diesem Abend im « La Bohéme » und im « ADA ». Dort erfuhren wir von dem ersten Brand. Wir sind sofort los. Auf dem Weg bekamen wir den zweiten Kellerbrand in dem anderen Haus mit. Da waren auch noch Leute in dem Haus und andere Leute draußen. Ich erinnere mich aber nicht mehr genau daran, wer da alles dabei war. Wir sind dann in den Keller rein. Es gab viel Feuer und Rauch da, gemeinsam haben wir versucht zu löschen. Später kam die Feuerwehr und auch die Polizei. Die haben uns aus dem Keller geschickt. Sie haben gesagt, es sei zu gefährlich, wir müssten raus…
War eigentlich klar, dass es Brandstiftung war ? Ist offiziell eine Ursache oder gar ein Täter ermittelt worden ?
Alle Leute haben sofort gesagt, dass es ein Anschlag ist. Ich weiß es natürlich auch nicht. Aber in der gleichen Nacht zwei Brände, in der gleichen Straße, nur hundertvierzig Meter voneinander entfernt…
…nur ein paar Tage nach Solingen… Haben die Medien über die Brände in der Helmholtzstraße berichtet ?
Die Westdeutsche Zeitung hat berichtet. Die haben damals auch ein Foto von mir gemacht. In dem kleinen Artikel wurde über die Brände berichtet. Der in dem Haus an der Schule war ein größeres Feuer mit viel Rauchentwicklung. Das andere Feuer, wo wir waren, war kleiner, es wurde ja auch schnell versucht zu löschen. Die WZ schrieb, dass die Brandursache unbekannt sei.
Die Brände in der Helmholtzstraße waren auch der Auftakt für die Nachbarschaftskomitees. Erinnerst du dich daran, wie das angefangen hat ?
Wir hatten schon vorher, nach dem Anschlag in Solingen mit den NachbarInnen geredet, um eine Bewachung der Häuser zu organisieren. Wir haben überall Zettel verteilt und zu Treffen eingeladen. Da haben die beiden Brände in der Nordstadt dann viele dazu gebracht dahin zu kommen. Bei dem Treffen wurden Wachen eingeteilt : Wer kann zu welcher Stunde kommen ? Die Leute haben sich freiwillig verabredet, manche haben sich für eine Stunde in der Nacht bereit erklärt zu kommen, andere für länger. Die Leute sind dann durch die ganze Nordstadt gelaufen, haben sich umgeguckt und aufgepasst. Die Sorge war, dass die Rassisten noch mehr Brände legen und noch mehr Menschen verbrennen. In der Nordstadt leben eben sehr viele MigrantInnen. Es haben sich zuerst viele an den Wachen beteiligt. Und die Kneipen und Läden in der Gegend haben das unterstützt. Die Pausen wurden zum Beispiel im « La Bohéme », im « Wirtschaftswunder » oder im « ADA » verbracht. Und dort gab es immer Kaffee, Tee oder etwas zu essen. Das hatten die Nachbarn für die Nachtwachen vorbereitet.
Die Leute, die sich an den Komitees beteiligt haben, wer waren die ? Waren das die, die man immer schon kannte, also nur Menschen aus der linken Szene ?
Nein. Das waren oft auch ganz andere Leute. Das waren vor allem « ganz normale » NachbarInnen, die zu den Meetings gekommen sind. Die Linken aber natürlich auch. Aus den damaligen Kontakten hat sich später übrigens das « Naba », das Nachbarschaftsheim am Platz der Republik entwickelt.

Viele spontane Aktionen nach Solingen : Die Gathe am damaligen „La Bohéme”
« Das muss man selber regeln. »
Was wäre eigentlich passiert, wenn die Nachtwachen auf Nazis getroffen wären ? Ich erinnere mich an Diskussionen darüber, wie man reagieren soll, wenn welche angetroffen werden… da gab es unterschiedliche Auffassungen, ob die Polizei gerufen werden soll…
Wir hatten Telefonlisten. Da wären dann sofort einige Leute alarmiert worden. Auch die von mir erwähnten Läden standen auf der Liste.
Hätten die Leute das selber geregelt ? Oder die Polizei gerufen ?
Das hätten wir selber geregelt. Das muss man selber regeln.
Es wurde damals viel über die « Grauen Wölfe » spekuliert. Wie war das im Tal mit den türkischen Faschisten ? Haben die Nationalisten sich an den Wachen beteiligt ?
Die türkischen Nationalisten waren bei den Komitees gar nicht dabei. Die waren in Solingen an den Abenden da. Wir haben uns mit denen auseinandergesetzt. Für uns ist das das gleiche - ob deutsche oder türkische Faschisten…
Wir haben bei den Nachbarschaftstreffen auf die Arbeit aufbauen können, die wir vorher schon mit anderen zu den neuen Ausländergesetzen gemacht hatten. Da hatten wir uns schon mit vielen Menschen getroffen und Meetings verabredet. Wir haben Protestaktionen und Demonstrationen gemacht. Alleine in Wuppertal waren da 1.000-1.500 Leute. Da waren verschiedene Gruppen aktiv. Wir haben mit allen geredet. Außer mit den Faschisten. Mit türkischen und kurdischen Vereinen, mit gläubigen Menschen in den Moscheen und auch mit Konservativen. Die waren ja alle betroffen. Es gab Meetings im alten « Hasret », im « ADA », oder im « Haus der Jugend ». Das was ein schöner Anfang. Auch ein Lernprozess. Wen sprechen wir an ? Nur linke Gruppen, nur eigene Gruppen ? Oder alle, die es angeht ? Die neuen Asylgesetze gingen ja auch die Konservativen an…
« Da war viel Gerede. »
… Verhindern konnten wir die Gesetze aber nicht, obwohl dann – nach Solingen – auch bürgerliche Gruppen zum Beispiel das kommunale Wahlrecht für alle oder die doppelte Staatsbürgerschaft gefordert haben, wie die SPD …
… Nein. Das hat nicht funktioniert. Das war viel Gerede. Die « Grünen » haben zum Beispiel aufgefordert, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Da haben wir eine gemeinsame Antragsabgabe gemacht. Doch viele haben die Staatsbürgerschaft nicht gekriegt. Ich habe zum Beispiel auch einen Antrag auf einen deutschen Pass gestellt. Ich war da schon kein türkischer Staatsbürger mehr. Ich war heimatlos. Regierung und Parlament in der Türkei hatten mich ausgebürgert. Ich weiß, dass der deutsche und der türkische Geheimdienst miteinander Kontakt hatten, danach wollte das Ausländeramt von mir Nachweise zur Ausbürgerung. Ich sollte in die Türkei zurückkehren und mir dort eine Bestätigung abholen. Es hat auch nichts genutzt, dass ich die « amtliche Zeitung » gezeigt habe, in der sie meine Ausbürgerung bekanntgegeben haben.
Du hattest durch deine Arbeit in der Türkei Erfahrungen in der Organisierung von basisdemokratischen Strukturen. Wie beurteilst du vor diesem Hintergrund die Nachbarschaftskomitees 1993 ? Hast du eine Erklärung dafür, warum diese spontanen Komitees nicht langfristiger gearbeitet haben ?
Das kann man nicht vergleichen, in der Türkei ist das etwas anderes. Dort ist die faschistische Bedrohung permanent. Die schossen oft auf Leute oder schlugen sie zusammen. Deshalb haben wir für Einrichtungen wie Fabriken, Schulen oder die Universität, aber auch für bestimmte Straßen ständig Schutz organisiert. Das war normal, dass immer welche bis zum neuen Morgen wachgeblieben sind. Hier ist das anders. Niemand weiß genau, wer hat das gemacht ? Wie ist das gemacht worden ? Die Gefahr ist nicht so greifbar, nicht so präsent. Die Leute vergessen sie dann schneller…
… Da spielen sicher auch die Medien eine Rolle. In der Berichterstattung wurde nach Solingen schnell gelernt : Kaum noch ein Brand wurde als rassistische Tat benannt. Es waren nur noch « ungeklärte Ursachen ». Oder es wurden, wie bei den Bränden in Hattingen oder später in Lübeck, sogar die Brandopfer selber als TäterInnen beschuldigt. Das hat dann Jahre gedauert, bis die freigesprochen wurden, die Leute haben vergessen und die wahren Täter wurden nie ermittelt…
… Das ist ja heute auch noch so. Wie bei den Morden der Nazis vom NSU, da wurde auch jahrelang geleugnet, dass es rassistische Taten waren. Auch da wurden die Opfer beschuldigt, weil sie angeblich Geld brauchten oder sonst was… Wir wissen das alles doch schon seit Jahren. Das läuft doch immer so…
« Viele haben gedacht, wann kommt das Feuer ? »
Du bist nur wenige Jahre vor dem Anschlag in Solingen nach Deutschland gekommen. Wie hast du die Ereignisse 1992/1993 in deiner « neuen Heimat » aufgenommen ?
Das Wichtigste war für mich wirklich die Zusammenarbeit der Nachbarn in den Komitees. Das war das, was mich am meisten interessiert hat. Das war schön. Da waren auch die Älteren dabei. Die NachbarInnen aus der Wiesenstraße, aus der Helmholtzstraße, sehr viele haben versucht zu helfen.
Die Menschen hatten natürlich auch Angst. Wird meine Wohnung auch brennen ? Passiert uns sowas auch ? Solche Angst kommt bei den « Ausländern » dann natürlich auf. Die türkischstämmigen Leute kannten das doch aus der Türkei. Zum Beispiel die Aleviten. Die türkischen Nationalisten haben dort Wohnhäuser mit einem Kreuz markiert, in denen alevitische Leute leben. Da sind in mehreren Städten viele, viele Leute bei Bränden gestorben… Die türkischen Faschisten gehen auf die gleiche mörderische Art vor… Da hatten die Leute natürlich Angst, hier wieder « markiert » zu werden, als « Türken », oder als « Ausländer ». Und die Angst wird größer, je weniger Informationen sie vom Staat, von der Polizei bekommen. Da war viel Angst in Wuppertal. Damals lebten 14.000 kurdische und türkische Menschen hier, und Solingen ist direkt nebenan. Es ist ja damals auch in vielen Orten etwas passiert. Viele haben damals gedacht : Wann kommt das Feuer ? Wir konnten nur vorschlagen, zusammenzuarbeiten und aufzupassen.
Haben die Leute heute auch noch Angst ?
Natürlich haben sie heute auch noch Angst. Aber die Gesellschaft hat ein Fischgehirn. Sie vergisst zu schnell. Es passiert etwas, und nach zehn Tagen ist es vergessen. Jetzt haben die NSU-Morde neue Angst gemacht. Dass das rassistische Morde sind wussten viele türkische Menschen schon lange. Manche türkischen Medien haben schon früh den Verdacht geäussert, dass es rassistische Morde sind. Und da sterben zwei, drei, am Ende zehn Menschen. Das macht natürlich Angst.
« Wir müssen lebendig sein ! »
Wenn du dir heute die Situation mit den Nazis ansiehst und sie mit damals vergleichst, wie schätzt du das ein ? War die Situation damals bedrohlicher ? Oder ist die Gefahr heute tatsächlich größer ?
Ich finde es heute bedrohlicher. Weil es zum Beispiel diese Demonstrationen gibt, die der Staat durchsetzt, weil die Polizei kommt, um den Faschisten zu helfen, weil sie in Vohwinkel zum Beispiel wegsehen, wenn da Nazis offen mit Nazi-Symbolen herumspazieren. Und in der ökonomischen Krise rücken die Rechten zusammen und bieten einfache Antworten an. Schuld sind dann sowieso immer die Ausländer. Hier sind es die Türken, in Frankreich die Araber, in Holland die Tamilen.
Ob wir vor diesem Hintergrund die Nachbarn heute nochmal zusammen bekommen würden ?
Ich glaube wir, die linken Gruppen, die Antifaschisten, müssen das ansprechen, was die Leute interessiert. Und dafür dann organisieren. Vielleicht neue Methoden finden… Wir müssen lebendig sein. Wir müssen das Leben der Leute kennen, ihre Probleme in den Schulen, bei der Arbeit. Die konkreten Probleme.