Am Wochenende sind sie angekommen. Nach 500 Kilometern zu Fuß durch Frankreich, Deutschland, Luxemburg und Belgien, erreichte der europäische Protestmarsch der Geflüchteten, der „march4freedom”, sein Ziel Brüssel. Erneut haben die Flüchtlinge mit einem Kraftakt dafür gesorgt, dass die europäische Migartionspolitik im Fokus der Aufmerksamkeit und der Proteste steht.
Wie wichtig eine andauernde Auseinandersetzung mit dem Thema ist, zeigen die aktuellen Ereignisse, der letzten Tage : Während der Protestmarsch sein Ziel erreichte, wurden letztes Wochenende geflüchtete Frauen aufgrund eines Verstoßes gegen die „Residenzpflicht” an der Teilnahme an einer Frauen-Flüchtlingskonferenz der Karawane in Frankfurt gehindert, heute, am 24.06., lässt der Berliner Senat mit 1.000 Riot-Cops die seit anderthalb Jahren besetzte Schule an der Ohlauer Straße räumen (während dieser Artikel erstellt wird, ist der Ausgang noch völlig ungewiss) und ebenfalls heute wurde erneut eine Abschiebung in Osnabrück durch 100 solidarische Menschen verhindert. Gleichzeitig entstehen an immer neuen Orten in Europa neue Widerstandszentren : In Hannover existiert ein Flüchtlingscamp inzwischen seit genau einem Monat, im französischen Calais befinden sich Flüchtlinge aus verschiedenen Herkunftsländern seit geraumer Zeit ebenso in einem Hungerstreik wie internierte Geflüchtete in Griechenland. Die Liste ließe sich beliebig fortschreiben.
Der „march4freedom” ist deshalb in Brüssel zur richtigen Zeit am richtigen Ort : Ab Donnerstag wird dort ein EU-Gipfel zur europäischen Flüchtlingspolitik stattfinden. Die Flüchtlinge und ihre UnterstützerInnen werden dafür sorgen, dass er diesmal nicht ohne Aufmerksamkeit für die Forderungen der Betroffenen ablaufen kann : Am Donnerstag – pünktlich zum Beginn der Konferenz – planen die Refugees eine europaweite Großdemo in der belgischen Hauptstadt. Flankiert wird die Demo von täglichen Aktionen und einem „Gegengipfel”.
Wir möchten an dieser Stelle viele solidarische Grüße nach Brüssel schicken und dokumentieren nachfolgend den Tagesbericht eines Aktivisten zum Erreichen des Zielortes Brüssel :
Bewaffneter Einmarsch in Brüssel
Gestern Nachmittag sind wir in Brüssel einmarschiert. An der Stadtgrenze von Brüssel hatten wir unechte Waffen in den Händen. Einen Tag vorher haben wir dort, wo wir übernachtet haben aus Holz Waffen gemacht. Wenn es um die Probleme von Flüchtlingen geht, sind Waffen ein wichtiges Symbol. Die meisten Flüchtlinge, die nach Europa kommen, kommen aus Ländern, in denen Kriege um Geld, Benzin und Konkurrenz herrschen. Um das auszudrücken, eignen sich Waffen als Symbol am besten. Die meisten der Holzwaffen waren realistisch wirkende Kalaschnikows. Die Kalaschnikow hat in der Geschichte einen antiimperialistischen Symbolcharakter. Deswegen haben wir auch andere Waffen gemacht.
Manche Freunde haben gesagt, die Aktion mit den Waffen wäre eine gute Idee, könnte aber gefährlich werden. Nachdem wir gemerkt haben, dass nach der Hälfte des Weges keine Probleme entstanden sind, haben alle von uns die Waffen in die Hände genommen. Auf unserer Marschroute nach Brüssel haben sich uns neue Gruppen angeschlossen und je näher wir kamen, desto mehr wurden wir. Mit Slogans und den hochgehaltenen Holzwaffen sind wir bis vor das Parlament gelaufen. Hier haben wir eine Pressekonferenz organisiert. Unsere Holzwaffen symbolisieren die Waffen, die in Afrika, Afghanistan, Jugoslawien, im Irak und in anderen Kriegsgebieten von den imperialistischen Soldaten vergessen wurden. Wir haben diese Waffen in den Kriegsgebieten gefunden und wollten sie symbolisch den Schützern des Imperialismus zurückgeben. Auf der Pressekonferenz erklärten wir, was diese Waffen darstellen und wie das kapitalistische und imperialistische System funktioniert. Die Presse hat sehr großes Interesse an den Waffen gezeigt. Sie haben viele Fragen nach der Bedeutung dieser Waffen gestellt.
Nach unserer Aktion vor dem Parlament wollten wir die rote Linie vor dem Parlament überschreiten. Zuerst hat die Polizei gesagt, dass das unmöglich ist. Wir sind durch unseren Willen, verbotene Grenzen zu übertreten, berühmt geworden. Wir haben eine Weile mit den Polizisten diskutiert und ihnen gesagt, dass wir darauf bestehen. Die Polizei hat sich für eine Weile zurückgezogen. Nach etwa 30 Minuten kam der Polizeichef zu uns, um mit uns zu sprechen. Wir durften innerhalb der roten Linie unsere Aktion machen. Wir haben unsere Flaggen, Slogans und Waffen präsentiert. Es kamen immer mehr Personen dazu und auch die Stimmung wurde immer besser. Nach der Aktion innerhalb der roten Linie sind wir zum Simon Bolivar Park gelaufen, um dort zu übernachten. Gestern war Weltflüchtlingstag, deswegen haben wir heute auch in einem anderen Park eine Aktion gemacht. Erst sind wir dorthin gegangen und haben unsere Erklärungen gemacht und danach haben wir unseren Weg zum Simon Bolivar Park fortgesetzt. Die Polizei hat uns zuerst einen kleinen betonierten Park gezeigt, aber wir haben das nicht akzeptiert, denn wir wollten von Anfang an im Simon Bolivar Park bleiben. Simon Bolivar ist gleichzeitig eine Symbolfigur für Antikolonialismus. Die Menschen, die in Europa leben, haben ihre eigenen Grenzen geschaffen. Sie haben für sich eine Mauer aus Angst aufgebaut. Sie haben nicht gedacht, dass dieses System aus Kontrolle und Angst zerstört werden kann. Sie haben innerlich akzeptiert, dass sie die vom Staat vorgeschriebenen Regeln nicht überschreiten dürfen. Aber seit Jahren überschreiten wir diese Regeln. Wir entfalten uns auf der Straße entsprechend eines alternativen kommunalen Lebens. In Brüssel haben wir begonnen, unsere Aktionen für eine Woche zu planen. Die ganze Arbeit wird von den Teilnehmern des Marsches gemacht. Bei unserer ersten Pressekonferenz wollten auch diejenigen sprechen, die nicht am Marsch teilgenommen haben, das kam uns komisch vor und wir lehnten es ab. Alle Reden wurden von den Flüchtlingen gehalten, z.B. auf Arabisch, Türkisch, Persisch und in anderen Sprachen.
Die, die nach Europa kamen und sich integriert haben, stecken sich mit der europazentrierten Krankheit an. Als könnten protestierende Flüchtlinge nicht sprechen und NGO-Gruppen müssten für sie das Reden übernehmen. Wir waren von Anfang an dagegen. Jetzt reden die Flüchtlinge für sich selbst. Bei uns haben NGO-Gruppen, die für andere sprechen wollen und sich dadurch profilieren wollen, keine Möglichkeit dazu.
Wir bringen sowohl die Regeln des Systems, als auch bürokratische Regeln durcheinander. Während unseres Protest lernen wir die Leute kennen und die Leute uns.
Es lebe der Kampf für Humanismus und Gemeinsamkeit.
21.06.2014, Turgay Ulu, Brüssel