Vorbemerkung
Dieser Artikel wurde von einer antirassistischen Aktivistin geschrieben, die seit Ende der 1990er Jahre Migrationsbewegungen und die Kämpfe Geflüchteter beobachtet und unterstützt. Seit anderthalb Jahren arbeitet sie zudem (wieder) als hauptamtliche Flüchtlingsberaterin in einer westdeutschen Großstadt. Die Veränderungen im öffentlichen Diskurs, in der Wahrnehmung Geflüchteter wie auch den Resonanzboden der Diskurse auf der legislativen Ebene des Asyl- und Aufenthaltsrechts bekam sie sehr direkt mit – in ihrem Arbeitsalltag wie in ihrem politischen Umfeld. Trotzdem ist dieser Artikel eine sehr subjektive Sicht auf gegenläufige Entwicklungen, die von einer weiterhin relativ „flüchtlingsfreundlichen“ Grundstimmung in der städtischen Zivilgesellschaft und einem mittlerweile europaweiten hegemonialen neu-rechten Diskurs, der auf Abschottung und Abschiebung zielt, geprägt sind.
In diesem Artikel versucht sie, die enorme Diskrepanz zwischen dem, was sie in ihrer politischen Arbeit wie auch in ihrer bezahlten Beratungsarbeit erlebt, dem, was gleichzeitig politisch diskutiert wird und dem, was ihr politisch notwendig scheint zu skizzieren.
In Kooperation mit welcome2wuppertal (w2wtal)
Der kurze Sommer der Migration : Euphorie und Überforderung
Als ich im Frühherbst 2015 nach einigen Jahren Auszeit wieder in die (hauptamtliche) Flüchtlingsarbeit einstieg, konnte ich eigentlich keinen spannenderen Zeitpunkt erwischen. Es waren die Wochen, in denen überall im Land neue Flüchtlings-Willkommens-Initiativen aus dem Boden sprossen, internetaffine Leute jeden Tag mindestens eine neue mehrsprachige App mit wichtigen Infos für Neuankömmlinge ins Netz stellten, jede zweite Kirchengemeinde Kleider- und Spielzeugspenden sammelte, die Menschen – sogar politische AktivistInnen - zu hunderten zu den Bahnhöfen strömten, um den nächsten „Train of Hope“ zu beklatschen. Sogar die Bild-Zeitung titelte „Refugees welcome“, und Deutschland war außer sich. Dieses Land, das wir immer als Ausgeburt des administrativen und gesellschaftlichen Rassismus kritisiert hatten, war plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen vor lauter zivilgesellschaftlichen Solidarität mit denen, die ihre gefährliche und anstrengende Reise mehr oder weniger glücklich überstanden hatten.
Es war eine euphorische Zeit und zugleich eine, die die Menschen, die mit der Flüchtlingsaufnahme direkt zu tun hatten – vom Bundesamt über die Bezirksregierungen, die kommunalen Behörden bis hinunter zu uns Flüchtlings-SozialarbeiterInnen – vor erhebliche Herausforderungen stellte. Die offenen Schengen-Grenzen, eigentlich eine Selbstverständlichkeit seit 1995 und keineswegs der „rechtlose Zustand“, den Seehofer in seinen Panikattacken heraufbeschwor, wurden nun endlich auch von denen überquert, die am meisten auf diese Offenheit angewiesen waren, auch wenn sie bei den Schengen-Abkommen seinerzeit natürlich nicht mitgemeint gewesen waren. Die Dublin-Verordnung wurde kurzzeitig außer Kraft gesetzt und zig-Tausende nutzen dieses schmale Zeitfenster - wohl wissend, dass es sich bald schon wieder schließen würde.
Vorläufig aber gab dieser kurze Kollaps der Ordnungspolitik, als alle Ressourcen mehr oder weniger darauf gerichtet waren, Obdachlosigkeit zu vermeiden und die gewohnten Kontrollinstrumente noch nicht wieder funktionierten, den Geflüchteten einen großartigen Freiraum. In der Notaufnahme, die wir betreuten, konnten wir praktisch unter Umgehung der üblichen bürokratischen Wege Familien, die auf der Flucht getrennt wurden, wieder zusammenbringen ; diejenigen, die in andere Länder weiterreisen wollten, ruhten sich einige Tage aus, setzten sich dann mit uns Beraterinnen zusammen und holten sich die nötigen Infos über die beste Reiserouten und über die Asylsysteme der jeweiligen Länder ; wer im Zug kein Ticket bei sich hatte und so aussah, als ob er oder sie ein Flüchtling sein könnte, durfte ohne Kontrolle weiterfahren, denn auch die Deutsche Bahn hatte kapituliert und die Bundespolizei hatte anderes zu tun, als die persönlichen Daten der Neuankömmlinge festzustellen, bloß weil diese kein Geld für ein Bahnticket mehr übrig hatten.
Es war eine gute Zeit, und zugleich für viele Kolleginnen mit Ängsten verbunden. Ich arbeitete bei einem kirchlichen Träger, und längst nicht alle KollegInnen dort sind Linke. Vielen fehlte auch die nötige Flexibilität und Improvisationsfähigkeit ; sie wussten vor Arbeit und Anforderungen nicht mehr ein noch aus, und in manchem Seufzer, wie man das alles schaffen sollte, klang der deutliche Wunsch durch, die Seehofer-Fraktion möge sich durchsetzen und die Flüchtlinge gestoppt werden. Auch wenn selbstverständlich keine/r das so sagte. Ich erinnere mich an eine Kollegin, die mir in der Mittagspause von einem Albtraum berichtete : Sie stand vor ihrem Büro auf dem Flur inmitten einer Menschenmenge, alle waren Geflüchtete. Sie versuchte, sich durch die Menge zu den Toilettenräumen durchzudrängen und wurde auf Arabisch – in ihrem Traum verstand sie Arabisch – angeschrien, dass sie doch jetzt nicht gehen könne ; die Leuten warteten schließlich alle darauf, dass sie Zeit für sie haben würde !
Am schlimmsten allerdings erging es den KollegInnen, die versuchen mussten, „das Ehrenamt“ zu koordinieren : Das Telefon stand keine Minute still, jede zweite Rentnerin wollte helfen und am besten sofort „ihren“ Flüchtling vermittelt bekommen, dem sie Deutschunterricht geben und den sie auf Ämter begleiten konnte. Tausende wollten plötzlich etwas für Flüchtlinge machen ; einige waren neidisch auf ihre Nachbarn, die „ihren Flüchtling“ schon kennengelernt hatten, und wurden wütend, wenn sich in den nächsten zwei Tagen keine Aufgabe bei der Kleiderausgabe etc. für sie finden ließ. Manche verhinderte „Ehrenamtlerinnen“ wurden so wütend, dass sie zornige Leserbriefe an die Lokalpresse schickten, weil die Kolleginnen von den Wohlfahrtsverbänden ihnen keine Aufgabe in der „Flüchtlingshilfe“ gaben, obwohl sie sich schon vor zwei Wochen in eine Liste eingetragen hatten. Oft half auch kein gutes Zureden, dass ihre Hilfe sicher auch noch in einigen Monaten gebraucht und willkommen sein würde. Was die Sicherheit der Flüchtlinge anbelangte, war ich bei manchen der „Ehrenamtlerinnen“ besorgter als im Hinblick auf Nazis oder Salafisten – und damit war ich nicht allein.
Von außen, von Flüchtlingsselbstorganisationen undradikalen Linken wurde – oft zu Recht – massiver Paternalismus bei den, finanziell oft gutgestellten bürgerlichen „EhrenamtlerInnen“ kritisiert. Was ein Grund dafür war, dass viele Linke sich von vornherein von Unterstützungs-Initiativen fernhielten. Eine Abwehrhaltung, die ich bis heute für einen fatalen Fehler halte.
Trotzdem bleibt festzuhalten, dass ohne das ernsthafte und kontinuierliche Engagement von vielen großartigen „HelferInnen“ das Ankommen für die Geflüchteten deutlich unangenehmer gewesen wäre, als es das schon war. Die Aufnahmebedingungen in einer Turnhalle waren für einige Leute, die dringend Ruhe und Privatsphäre gebraucht hätten, schwer erträglich bis unzumutbar. Ich habe das nie abgestritten und konnte jedem Recht geben, der sich beschwerte. Als Aktivistin, die auf zahllosen Anti-Lager-Demos mitgelaufen ist und die nicht wenige dieser entsetzlichen Isolationslager von innen gesehen und auch einige Geflüchtete kennengelernt hat, die über Jahre in Lagern gelebt und daran psychisch wie geistig zerbrochen sind, konnte ich den Ärger und die Verzweiflung bestens nachvollziehen. Zumal unklar war, wie lange die untragbare Situation in der Turnhalle andauern würde.
Es wurde viel und zurecht kritisiert, dass die steigende Zahl von Asylsuchenden absehbar gewesen war, dass man die Aufnahmestrukturen früher hätte ausbauen müssen, dass das Chaos vermeidbar gewesen wäre, wenn zum richtigen Zeitpunkt ein wenig politischer Realismus vorhanden gewesen wäre. Doch nun war Herbst 2015, und die Lage war wie sie war. Zu dem Zeitpunkt war auch klar, dass die Unterbringung in Notunterkünften wohl nur durch Konfiszierung von Wohnraum abzuwenden gewesen wäre. Hiervon wurde aus politischen Gründen abgesehen.
Immerhin, die Leute waren da und besser untergebracht als in Griechenland, den Balkanstaaten und Ungarn, und alles andere würde sich hoffentlich regeln lassen. Die Grenzen waren glücklicherweise noch immer durchlässig und die staatliche Kontrolle über die Migrationsbewegung noch nicht wieder hergestellt.
Für mich war dieser staatliche Kontrollverlust ein täglicher Grund zu feiern, auch wenn ich selbst über Wochen hinweg keinen freien Tag hatte und an manchen Tagen dreizehn Stunden ohne Pause arbeitete : Ich wollte, dass es so bleibe. Und ich wusste doch, dass die Hardliner in den Bundesbehörden und Ministerien schon längst daran arbeiteten, die „rechtlose Situation“ (O-Ton Horst Seehofer) die es so vielen ermöglichte, ihr Recht auf Schutz in Deutschland zu realisieren, möglichst bald zu beenden.