Leuchten der Augen – Gezi-Soli-Demo

Das Verhältnis zwischen türki­schen und deutschen Menschen ist ein beson­deres, zuletzt wurde das bewusst, als wir mit den Vorbe­rei­tungen zum 20.Jahrestag des Brand­an­schlags von Solingen begonnen haben. Auch die dem Mord folgenden vielfäl­tigen Gegen­re­ak­tionen einer türkisch-deutschen Öffent­lich­keit rückten dabei wieder in Erinne­rung.

Selbst­be­wußte und kämpfe­ri­sche Soli-Demo in Wuppertal am 03.06.

Mehrere Millionen Menschen mit türki­schen Roots haben in der deutschen Wirklich­keit mehr als nur Spuren hinter­lassen. Kaum jemand, der nicht türkisch­stäm­mige Freunde und Freun­dinnen, Kolle­ginnen und Kollegen oder Nachba­rInnen hat. Und die meisten von denen haben natür­lich nach wie vor persön­liche Bezie­hungen zu Menschen in der Türkei. Es ist also keine Überra­schung, dass Gescheh­nisse, wie die, die seit inzwi­schen sechs Tagen die Städte in der Türkei erschüt­tern, in Deutsch­land eine emotio­na­lere Reaktion auslösen als vergleich­bare Aufstände und brutale Staats­ge­walt in Ländern, die auch nicht weiter entfernt sind.

Natür­lich wird auch in Deutsch­land die Empörung zunächst von Angehö­rigen der türki­schen Commu­nity getragen, die zahlen­mäßig die seit dem letzten Wochen­ende täglich in deutschen Städten statt­fin­denden die Kundge­bungen dominieren. Dennoch : Das Inter­esse vor allem der linken deutschen Szene an den Vorgängen in Istanbul, Ankara oder Izmir ist bemer­kens­wert groß, auch wenn bei den Demos die Anzahl von mitde­mons­trie­renden « Kartof­feln » höher sein könnte. Dabei kommen die vielen persön­li­cher Bezie­hungen diesem Inter­esse zugute. So liegen seit Freitag, dem 31.05., dem Tag, als der Gezi-Park am Taksim in Istanbul mithilfe von exzes­siver Gewalt­an­wen­dung der Polizei geräumt wurde, vielfäl­tige direkte Berichte aus der Türkei vor. Teilweise reicht es aus, nach « nebenan » zu gehen, um die neuesten, am Telefon einlau­fenden Updates aus Istanbul oder Ankara zu erhalten. Und auch die Sprach­bar­riere ist aufgrund vieler Überset­zungen doppel­spra­chiger türki­scher Freun­dinnen und Freunde ein kleineres Problem als bei griechi­schen, portu­gie­si­schen, aber auch bei spani­schen Protesten und Prügel­or­gien der Polizei. So erklärt sich beispiels­weise, dass Hashtags wie #occup­y­gezi oder #diren­ge­zi­park ? am letzten Wochen­ende in der deutschen Twitter-Timeline eine enorme Präsenz hatten.

Dass es vor allem linke Aktivis­tinnen und Aktivisten sind, die die Infor­ma­tionen aus der Türkei weiter­ver­breiten, ist wenig überra­schend, haben doch gerade sie hinrei­chend eigene Erfah­rungen mit Repres­sion und Staats­ge­walt ; so wie letzten Samstag, parallel zu den Ereig­nissen in Istanbul, bei den « Blockupy»-Protesten in Frank­furt. Hinzu kommt eine, bis in die neunzehn­hun­dert­acht­ziger Jahre zurück­rei­chende Tradi­tion gemein­samer Kämpfe von deutschen Linken mit exilierten türki­schen Kämpfern und Kämpfe­rinnen, die nach dem Militär­putsch des Land verlassen mussten. Zwar sind die Zeiten, in denen deutsche Genos­sinnen und Genossen zur Unter­stüt­zung der Guerilla « in die Berge » gingen, schon eine Weile vorbei, viele der alten Kontakte erleben jedoch in den letzten Tagen so etwas wie eine « Frisch­zel­lenkur ».

Es wäre aber falsch, die vielfäl­tigen Solida­ri­täts-Aktionen in Deutsch­land ledig­lich als linke Veran­stal­tungen älter gewor­dener Akteure vergan­gener Kämpfe wahrzu­nehmen. Zu vielfältig sind die politi­schen Strömungen in der türki­schen Commu­nity, zu jung sind vielfach die Initia­toren und Initia­to­rinnen der Proteste. Gut zu beobachten war das am letzten Sonntag in Köln, wo es gleich­zeitig zwei Solida­ri­täts-Kundge­bungen für die Proteste in der Türkei gegeben hat : Am Dom eine größere, an der etwa 500 Menschen teilnahmen, und die von einem Meer an türki­schen Natio­nal­fahnen und Aktiven der CHP-Jugend geprägt war ; eine kleinere am Rudolf­platz, die ausschließ­lich von linken Gruppie­rungen getragen wurde. Bei beiden Kundge­bungen waren viele sehr junge Leute anwesend, die mit den alten Kämpfen keine persön­li­chen Erinne­rungen verbinden und in der Regel seit ihrer Geburt in Deutsch­land leben. Doch auch gemein­same Demons­tra­tionen finden statt. Wie in Wuppertal einen Tag später, dort demons­trierten mehr als 1.000 Menschen gegen Erdogan und seine Polizei.

Kundge­bung der Kemalisten auf der Kölner Domplatte am 02.06.

Kundge­bung linker Gruppie­rungen auf dem Kölner Rudolf­platz am 02.06.

Es war ein selbst­or­ga­ni­sierter Protest, zu dem erst wenige Stunden zuvor durch junge Angehö­rige der türki­schen Commu­nity über « Facebook » aufge­rufen worden war. Bei der Demo fanden sich verschie­denste Akteure der türki­schen Polit­szene ebenso ein wie offen­sicht­lich unorga­ni­sierte junge Menschen. Und neben den Jungen waren auch viele der Älteren anwesend. Gemeinsam demons­trierten sie mit wenigen deutschen Freun­dinnen und Freunden aus der autonomen Szene und einiger linker Gruppie­rungen laut und selbst­be­wußt in der Elber­felder Innen­stadt. Wie weit die aktuellen Gemein­sam­keiten dabei gehen können, wurde deutlich als einige wenige kurdi­sche Fahnen in der Demo auftauchten und beinahe direkt neben einigen kemalis­ti­schen türki­schen Fahnen im Wind flatterten.  Die Begeg­nung, die vor kurzer Zeit beider­seits noch als Provo­ka­tion empfunden worden wäre, verlief unspek­ta­kulär.

Viele unter­schied­liche Gruppen und auch Fahnen bei der Wupper­taler Demo

Die bestim­mende Parole bei zwei der drei erwähnten Demons­tra­tionen war « Faşizme karşı omuz omuza ! » («Schulter an Schulter gegen den Faschismus!»). Doch auch auf der Domplatte, bei der CHP-Kundge­bung, war sie zu hören, wie wir aus einiger Distanz hören konnten. Eine Tatsache, die einige deutsche Beobachter etwas verwirrte, wurde sie doch von allen gerufen ; auch von jenen, die norma­ler­weise nicht in antifa­schis­ti­schem Kontext bekannt sind. Die irritie­rende Frage drängte sich auf, ob sich etwa auch « Graue Wölfe » derzeit der Losung anschließen würden. Diese Irrita­tion ist für die teilweise (noch) zöger­liche Haltung vieler deutscher Aktivis­tinnen und Aktivisten aktiv an den Protesten teilzu­nehmen, exempla­risch. Trotz der vielen persön­li­chen Bezie­hungen geht die Kenntnis türki­scher Politik und politi­scher Symbolik nicht so sehr in die Tiefe, dass überra­schende Wendungen erklärt werden könnten. Geprägt von den teilweise erbit­terten internen Konflikten türki­scher politi­scher Gruppen in den letzten Jahrzehnten, verwirrt die aktuell zu bemer­kende eupho­ri­sche Offen­heit, die angesichts der Dynamik des Aufstands in der Türkei offenbar auch die in Deutsch­land lebenden Menschen mit türki­schen Wurzeln erfasst hat. Obwohl das Poten­tial einer türki­schen « Anti-Erdogan»-Koalition auch schon Ende letzten Jahres zu beobachten war, als anläss­lich Erdogans Staats­be­suchs in Berlin am Pariser Platz bereits vielfäl­tige verschie­dene Gruppen agierten, damals aller­dings noch eher neben- als mitein­ander. Dennoch stellt sich für viele bei jedem neuen Aufruf zu einer Solida­ri­täts-Kundge­bung die Frage, welche Akteure dort angetroffen werden, und ob es sich dabei um die « richtige » Seite handelt. Noch immer ist vielen unklar, mit wem sie es tun haben.

Eine etwas depri­mie­rende Tatsache. Zeigt sie doch, dass sich noch immer viele aus mangelnder Kenntnis in den Veräs­te­lungen türki­scher Politik verirren können ; auch zwanzig Jahre, nachdem in der deutschen Linken angesichts der verschie­densten türki­schen Akteure, die infolge des Solinger Brand­an­schlages auf den Straßen der Region agierten, große Konfu­sion ausge­bro­chen war.

Schulter an Schulter…” – die bestim­mende Parole

Hinzu kommt die Befürch­tung, durch eigene Initia­tiven den Anschein zu erwecken, die selbst­or­ga­ni­sierte Dynamik der Proteste instru­men­ta­li­sieren zu wollen. Die radikale und autonome deutsche Linke steht deshalb vor dem Problem, einer­seits die erwünschte und benötigte Solida­rität zu zeigen, anderer­seits jedoch darauf angewiesen zu sein, in neue infor­melle Struk­turen einge­bunden zu werden, um überhaupt mitzu­be­kommen, « was läuft ».

Dahinter verbirgt sich der Wunsch, gemeinsam mit der migran­ti­schen Commu­nity zu agieren und darauf auch für hiesige Kämpfe der Zukunft eine neue Qualität der Zusam­men­ar­beit zu begründen. Ganz davon abgesehen, dass auch wir gerne etwas von jenem jugend­lich-begeis­terten Leuchten der Augen abbekommen möchten, dass wir in den letzten Tagen in den Gesich­tern unserer manchmal schon ergrauten türki­schen Genos­sinnen und Genossen ausma­chen können.

Für das das Wochen­ende rufen die Protes­tie­renden in Istanbul am 08. und 09.06. zu zwei « weltweiten » « Days of Action » auf. In der Region gibt es mehrere bislang angekün­digte Kundge­bungen. Die sicher­lich größte Manifes­ta­tion wird für Samstag­nach­mittag in Oberhausen erwartet, wo vor dem Konzert der revolu­tio­nären Band « Grup Yorum » in der Arena (Beginn 17:00 Uhr), zu dem bis zu 16.000 Besuche­rInnen erwartet werden, ab dem späten Mittag gemeinsam mit « Grup Yorum » in der Innen­stadt demons­triert werden soll. Eine weitere Kundge­bung findet am Samstag in Düssel­dorf statt, zu der auch dort verschie­dene Gruppen aufge­rufen haben. Die Mobili­sie­rungen zu den Demons­tra­tionen und Kundge­bungen erfolgen oft recht kurzfristig. Achtet deshalb auf Nachrichten in den sozialen Netzwerken. Wir werden die Termine über unseren Twitter-Account vermelden, sofern wir davon Kenntnis erhalten. Eine Sammlung von Terminen findet sich auch auf einem öffent­li­chen Pad

Ständig aktua­li­sierte Meldungen aus der Türkei gibt es über einen Ticker bei nadir​.org

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Bericht aus Istanbul (Wochenende ; 01.u.02.06.)

O. ist von Anfang an bei den Protesten rund um den Gezi-Park am Taksim in Istanbul dabei. Er arbeitet in einer « Recht auf Stadt»-Gruppe und hat uns Anfang der Woche einen sehr persön­li­chen Bericht zu den Ereig­nissen in Istanbul am Samstag (1. Juni) geschickt. Geschrieben wurde der Bericht am Beginn des 2. Juni. Nachdem O. am Sonntag wieder unter­wegs war, fügte er am am späten Abend noch einige aktua­li­sierte Beobach­tungen ein (farblich markiert).

Wir dokumen­tieren den Brief hier, weil er einen guten Eindruck der Situa­tion am Wochen­ende nach der Räumung des Gezi-Parks bietet, und weil sich die Emotio­na­lität des Augen­blicks in den Zeilen erschließt.

Bericht aus Istanbul

Die Situa­tion in Istanbul hat sich geändert und sie ändert sich jede Minute. In diesen Bericht sind Updates nach meinen Beobach­tungen am Sonntag, den 2. Juni bis 20.00 einge­ar­beitet.

Gestern, am Samstag, den 1. Juni 2013 marschierten mögli­cher­weise über eine Million Menschen aus der ganzen Metro­pole (und des Landes) zum Taksim-Platz , und die Polizei zog sich aus der Gegend zurück.

Update am Abend des 2.Juni : Der Taksim-Platz wurde heute mit schweren Barri­kaden von der Baustelle gesichert und blieb bis jetzt ein sicheres Gebiet.

Gestern war einer der außer­ge­wöhn­lichsten Tage, den Istanbul jemals in seinen 2.700-jährigen Geschichte erlebt hat, das wird jeder zugeben. Nennt es, wie ihr wollt.

Update am Abend des 2.Juni : Heute war es sogar noch mehr so.

Eine wichtige Bemer­kung vorweg :

Die Polizei-Terror hat sich in die Nähe der Besiktas-Nachbar­schaft verla­gert. So weit bekannt, hat er dabei jede Grenze der Grausam­keit überschritten. Am gestrigen Abend kam es zu einem neuen Level der Menschen­rechts­ver­let­zung im Bereich Dolmabahce in Besiktas. Die Situa­tion muss sehr ernst gewesen sein, die sozialen Medien sind voll mit schlimmsten Geschichten. Menschen litten in einer Weise, die sich zuvor niemand ausmalen konnte. Die schreck­lichsten Berichte deuten auf die Verwen­dung eines neuen chemi­schen Kampf­stoffes hin. Die Art des in Besiktas in den Abend­stunden verwen­deten Gases muss heraus­ge­funden werden. (Es ist definitiv nicht das übliche Tränengas, Ich habe dazu im Moment aber keine weiteren Infor­ma­tionen.) (Anmer­kung : O. hat uns darum gebeten, diesen Teil zu korri­gieren. Er hatte die Zeilen unter dem unmit­tel­baren Eindruck des Gesche­hens geschrieben, kann das Gestri­chene jedoch inzwi­schen nicht bestä­tigen.)

Anmer­kung : In Besiktas gibt es auch einen sehr wichtigen Recht auf Stadt-Konflikt (Die Priva­ti­sie­rung der Küste vor dem Büro des Minis­ter­prä­si­denten, also der Ausschluss der Bevöl­ke­rung aus dem öffent­li­chen Raum). Insbe­son­dere Fans des Fußball­clubs Besiktas waren dort sehr aktiv und unter­stützten den radikalen Taksim-Kampf ab dem zweiten Tag der Beset­zungs-Aktion. Sie sind sehr angepisst von Premier Erdogan, weil sie zu Recht das Gefühl haben, dass der Minis­ter­prä­si­dent ihnen buchstäb­lich « ihr Wasser gestohlen » hat. Es ist eine sehr persön­liche Angele­gen­heit.

Update am Abend des 2.Juni : Der Terror in Besiktas dauert an, wie auch aus der ganzen Türkei heute viele schlechte Nachrichten angekommen sind.

***

Ein Hinweis zur politi­schen Analyse der Situa­tion hier : Die Massen-Proteste von gestern werden von vielen aus vielen verschie­denen Perspek­tiven analy­siert werden. Ich werde versu­chen, ein paar Grund­lagen aus meiner Sicht zu erfassen.

• Der Charakter der großen Masse die den Platz besetzt hat, hat sich geändert. Die ursprüng­liche Bewegung, die den Park mit dem Ziel besetzte, ihn zu retten, hat absolut die Kontrolle über die Situa­tion verloren. Damit will ich nicht sagen, dass dies die Schuld von irgendwem ist : Es wäre technisch absolut unmög­lich gewesen, die Kontrolle zu behalten.

• Das heißt aber auch : Wenn irgend­je­mand, oder irgend­eine Organi­sa­tion sagt, er oder sie hätte die Kontrolle über die politi­sche Situa­tion : Stellt das in Frage ! Die Situa­tion entwi­ckelt sich in einer sehr spontanen Weise, es ist sicher, dass viele unter­schied­liche Akteure eigene Ziele verfolgen. Für heute, 2.Juni, versucht eine Koordi­na­tion linker Fraktionen die Aktionen auf dem Taksim-Platz rein technisch zu organi­sieren.

Update am Abend des 2.Juni : Bemer­kens­wert ! Der Taksim war noch nie so ordent­lich. Der Platz wurde auf wunder­same Weise zu einem heiligen Wallfahrtsort umgewan­delt, den ganze Familien besuchten, um Urlaubs­fotos vor verbrannten Polizei­autos usw. zu machen. Die sozialen Medien sind voll mit solchen Fotos…

• Die neue Bewegung hat sich im ganzen Land verbreitet, überall fanden Ausein­an­der­set­zungen statt. Es ist nicht mehr nur eine Taksim/Gezi-Park Bewegung. Der Taksim ist ein Symbol oder ein Code geworden, der nicht mehr für exklu­sive Inhalte steht. Sie ist zu einer Massen­be­we­gung mit einem sehr weiten Spektrum und einem starken säkularen Unterton geworden. Zu einer Bewegung aller Säkula­risten, die prinzi­piell oder zumin­dest aktuell der autori­tären konser­va­tiven Regie­rung gegen­über­stehen.

Update am Abend des 2.Juni : Kemalis­ti­scher Autori­ta­rismus war heute vor Ort der sicht­barste. Die Menschen schrien für Stunden : « Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal ». (Das ist aber immer noch besser als : « Armee komme und rette uns ! » , womit sie die Militär­herr­schaft legiti­miert hatten!) Gleich­zeitig waren sie aber irgendwie auch sehr « folklo­ris­tisch » in gewisser Weise.

• Das bedeutet : Der „Recht auf die Stadt” Charakter der ursprüng­li­chen Bewegung ist kaum mehr sichtbar. Es ist keine eine echte « Besetzer-» oder « Recht auf Stadt»-Bewegung mehr. Wenn der Begriff angemessen ist : « occupy » ist politisch « occupiert » worden. Ein Beispiel : Gruppen wie die antika­pi­ta­lis­ti­schen Muslime, die integraler Bestand­teil des ursprüng­li­chen Recht auf die Stadt-Wider­stands waren, haben sich offiziell zurück­ge­zogen (zumin­dest bezüg­lich ihrer Banner…). Irgend­welche Parolen zum « Taksim-Projekt », wie sie am Anfang die Bewegung beherrschten, sind nicht mehr zu hören. Das war vorher noch der Fall, auch noch am Freitag, als fast 50.000 Menschen zum Park gingen und immer noch versuchten ihren eigenen Müll aufzu­sam­meln als sie längst schon mit Tränengas beschossen wurden.

Update am Abend des 2.Juni : Heute sind die antika­pi­ta­lis­ti­schen Muslime wieder aufge­taucht, nicht zahlreich, aber sichtbar. In « fried­li­cher Koexis­tenz ». Sie standen auf dem Platz unmit­telbar neben einigen Hardcore-Kemalisten. Die nonmus­li­mi­schen Antika­pi­ta­listen dienten dabei offen­sicht­lich als Puffer­zone. Keine andere Ursache hätte sie alle zuvor auf dem gleichen Platz zusam­men­bringen können. Es war eine Premiere. Auch Kurden erschien auf dem Platz, gut zu erkennen, ebenso wie LGBTT

• Aus persön­li­cher und aus Massen­per­spek­tive hat die Situa­tion eine immense emanzi­pa­to­ri­sche Wirkung. Es ist ein unbestreitbar sehr « revolu­tio­närer » Moment für alle. Nach der « Befreiung des Taksim » haben hundert­tau­sende junger Menschen, oft mir ihren Familien, dieses « Once in a Lifetime»-Gefühl dort besucht. Es ist ein großes Fest der Freiheit.

Update am Abend des 2.Juni : Heute würde man es klar benennen : am Taksim, gibt es eine revolu­tio­näre Situa­tion unter einer Glasglocke. Die Menschen können sie besuchen, herein­kommen, sie erleben, atmen, und genießen. Dann verlassen sie die Oase wieder, gehen zu Fuß eine Meile bis zum nächsten öffent­li­chen Verkehrs­kno­ten­punkt und zurück zum « business as usual ». In den zwei Tagen sind Millionen von « Istan­bu­litis » nur durch die sozialen Medien motiviert worden vorbei zu kommen und die Revolu­tion zu besuchen. Es ist karne­valesk und sehr befreiend im positivsten Sinne.

Es hat jedoch eine extreme Polari­sie­rung durch die Medien begonnen, die durch die Fokus­sie­rung auf Unter­stützer der Regie­rung und auf Kemalisten alles auf ein schwarz-weisses politi­sche Bild reduziert. Farben und Nuancen gehen verloren. Deshalb brauchen wir Social Media so dringend.

Die Kreati­vität und der Humor von Graffiti kennen keine Grenzen. Ich bin jedes Mal erstaunt.

• Die neue Situa­tion am Taksim am 1. Juni, d.h. die Zerstö­rung der Polizei-Station am Eingang des Gezi-Parks, sowie des Sitzes der Baufirma (beide befanden sich in benach­barten, vorge­fer­tigten Contai­nern, sie « besetzten » also bereits seit Monaten den Eingang zum Park) scheint einen weit verbrei­teten Konsens der versam­melten Masse zu reflek­tieren. Alle anderen öffent­li­chen Einrich­tungen wie Busbahn­höfe usw. waren von Zerstö­rungen unberührt. Es fand ledig­lich ein selek­tiver Rückbau statt… In der Nacht gab es weitere Zerstö­rungen von Bauma­schi­nenn für den im Bau befind­li­chen Taksim-Tunnel.

Update am Abend des 2.Juni : Es ist immer noch so. Die zerstörten Container sind zu « Mekkas des Revolu­tion-Tourismus » geworden. Sehr ordent­lich und aufge­räumt. Als ob sie eigens für eine Filmku­lisse geschaffen worden wären.

Da es in der Gegend keinerlei Autorität mehr gibt, insbe­son­dere bei Nacht, sind von unbekannten Personen weitere Zerstö­rungen auch an anderen Einrich­tungen begangen worden – normal in solchen Fällen. Es wird erwartet, dass die Mainstream-Medien darüber umfang­reich berichten werden.

Update am Abend des 2.Juni : Diese Tendenz blieb nur auf die erste Nacht beschränkt. « Autorität » oder nennen wir es besser « gesunder Menschen­ver­stand », ist zurück­ge­kehrt und hat zu einem verant­wort­li­chen kollek­tiven Verhalten geführt. Ich bin ein weiteres Mal erstaunt. Die Diszi­plin der ersten Zeit, als die Occupy-Bewegung haupt­säch­lich aus einigen Angehö­rigen der intel­lek­tu­ellen Elite bestand, wurde auf einer sehr allge­meinen Massen­basis wieder­her­ge­stellt.

• Die neue Parole der Demons­tra­tionen ist die Forde­rung, die Regie­rung solle zurück­treten. (Nicht nur nach vorge­zo­genen Neuwahlen, oder nach einer Änderung des unfairen Wahlsys­tems.) Die Worte des Republi­kaner-Führers Kilicdar­oglu vor einer Woche vor der Sozia­lis­ti­schen Inter­na­tio­nale, als er Erdogan mit Assad verglich und ihn einen Diktator nannte, und die in einer sehr kalten Reaktion zu seinem Ausschluss aus der Versamm­lung geführt hatten (auf den gewählten Status Erdogans gegen­über Assad hinwei­send), spiegeln diese aktuelle Stimmung sehr gut. (An dieser Stelle muss darauf hinge­wiesen werden, dass die Republi­kaner seit drei Wahlpe­ri­oden die Wahler­geb­nisse nicht akzep­tieren. Sie hatten am 31.Mai eine auf der asiati­schen Seite geplante Demons­tra­tion abgesagt und statt­dessen eine Massen­mo­bi­li­sie­rung zum Taksim am 31. Mai gemacht.)

• Phantasmen der anderen Seite über die staat­liche Rück-Erobe­rung des Taksim driften drama­tisch ausein­ander, sie werden auch « maxima­lis­tisch » : Noch am selben Tag (1. Juni), sprach Minis­ter­prä­si­dent Erdogan über eine neue Polizei-Blockade und die « Säube­rung » des gesamten Platzes, über das Abholzen aller Bäume, die Weiter­ent­wick­lung der Gebäude im Gezi-Park, und er ging sogar noch weiter : er sprach vom Abriss des Opern­hauses am Taksim (…was derzeit mit staat­li­chen Geldern restau­riert wird!) Eine neue Polizei Barri­kade gab es aber nicht.

Update am Abend des 2.Juni : Große Neuig­keit ! Die Oper im Umbau wurde heute besetzt ! Die Diskus­sionen um ihr Schicksal in den letzten zehn Jahren ist der eigent­liche Grund für das ganze « Taksim-Projekt ». Erdogan wollte die Oper ursprüng­lich ganz abreissen. Von seiner Position aus betrachtet gab es durch ihn ein großes Zugeständnis : Die Renovie­rung der Oper, wenn dafür die Bauvor­haben nebenan durch­ge­führt werden. Jetzt mögli­cher­weise beides zu verlieren, ist zu viel für eine solches Ego. Er könnte alles tun, um dies zu verhin­dern. Aber ist das nicht alles zu viel Nähe zu lokalen Angele­gen­heiten für einen Premier­mi­nister ?

Eine andere sehr offene und proble­ma­ti­sche Aussage von Erdogan folgte : Eine gewählte Regie­rung soll nur alle vier Jahre von den Wählern kontrol­liert werden, in der zwischen­zeit sollte ihr jede belie­bige Inter­ven­tion ohne Frage erlaubt sein. Er gab ledig­lich zu, dass die Polizei vielleicht mit dem Einsatz von Tränengas ein bisschen zu weit gegangen sei. (Mögli­cher­weise ist das der Grund für das Experi­ment mit einem neuen Gas in Besiktas!)

• Auch zu beachten : die republi­ka­ni­sche Bewegung auf dem Taksim agiert bisher nicht wie üblich,  sie rufen nicht die « Armee zum Dienst », wie bei früheren republi­ka­ni­schen Massen­ver­an­stal­tungen vor ein paar Jahren. Wenn das so bleibt, könnte dies helfen, dass sie ihre eigene Kraft erfahren und an eigenem Selbst­ver­trauen gewinnen. Die Ereig­nisse auf dem Taksim können für die Republi­kaner ein wichtiger Meilen­stein auf ihrem Weg ins demokra­ti­sche System werden.  («Wir sind stark genug, wir brauchen keinen Big Brother der auf uns aufpasst, unsere Präsenz ist gerecht­fer­tigt, weil wir ein Teil dieses Landes sind. Niemand kann uns unsere Identität, Würde und unseren Weg des Lebens wegnehmen.»)

Update am Abend des 2.Juni : Heute wurde das unter Beweis gestellt.

Sehr seltsam, und meiner Meinung nach, sehr gefähr­lich, ist es jedoch, dass in den sozialen Medien zuneh­mend Horror­mel­dungen auftau­chen, die offen­sicht­lich Menschen mit einer republi­ka­ni­schen Gesin­nung provo­zieren sollen und auf eine Eskala­tion hinar­beiten (wie z. B. « bewaff­nete Angriffe von Muslimen auf die Demons­tranten»).

• Mit dem 1. Juni sind jeden­falls die offizi­ellen Verbote Erdogans, auf dem Taksim Platz politisch zu demons­trieren, hinfällig und Geschichte geworden. Die linken Gruppen haben das Poten­tial des Taksim-Konfliktes jeden­falls erkannt, ob aus « revolu­tio­närem Instinkt » oder als Reflex. Der 1. Juni wurde von ihnen als ein verspä­teter 1. Mai 2013 konzi­piert. Die ursprüng­liche Mai-Feier war in diesem Jahr mal wieder aus « techni­schen Gründen » verboten, und danach « für immer » unter­sagt worden. Der Taksim-Platz wurde in einer Simula­tion des Mai-Tages mit Bannern aller linken Bewegungen ausge­stattet.

Update am Abend des 2.Juni : Warum wird dieser Erfolg nicht offiziell rekla­miert ? Warum wird jetzt nicht einfach gefor­dert, das Demons­tra­ti­ons­recht auf dem Taksim für alle Zeit zu akzep­tieren ? Es wäre ein großer Sieg nach dressig Jahren des wieder­keh­renden Konflikts um den Taksim-Platz am 1.Mai. Nein, es ist bisher nicht gefor­dert worden ! Wir wollen, dass die Regie­rung geht !

• Die « Erobe­rung » des Platzes hat eine revolu­tio­näre Stimmung herauf­be­schworen : es geht jetzt darum, offiziell den Rückzug der Regie­rung zu fordern – alles weniger reicht nicht aus. (Wie einst beim russi­schen Zaren. Die Analo­gien zu Oktober­re­vo­lu­tion werden in revolu­tio­nären Kreisen nicht selten artiku­liert.) Eine einfache und logische Forde­rung nach einer Neuver­hand­lung des « Taksim-Projekts » wird jetzt einfach überhört, (was etwas naiv ist) weil « wir uns in einem revolu­tio­nären Zustand befinden ». (Sprich : « Das Park-Problem wird nach der Revolu­tion gelöst… Es ist nur ein kleines techni­sches Detail, und unsere Planer sind ohnehin besser als ihre…».)

Update am Abend des 2.Juni : Die Haupt­frage bleibt : Wo ist das Gesicht, das mit der Regie­rung verhan­deln kann ? Dieje­nigen, die maxima­lis­tisch denken, sind nicht wirklich inter­es­siert am ursprüng­li­chen Problem – an einer echten Lösung für den Gezi Park und das « Taksim-Projekt ». Wir brauchen immer noch ernst­hafte Verhand­lungs­füh­re­rInnen, die von der Regie­rung ernst­ge­nommen werden. Sonst wird es ein nutzloser Kampf werden, der eskalieren wird.

• (Für die Zukunft…) Noch eine sehr persön­liche Bemer­kung zum Schluss : Ich bin (poten­tiell) besorgt über eine mögliche Eskala­tion, angesichts des laufenden Friedens­pro­zesses in Kurdi­stan. Es gibt offen gegen den Friedens­pro­zess agierende Kreise, wie die ultra-republi­ka­ni­sche « Arbei­ter­partei », die gestern auf dem Platz offen Flagge zeigte. Es wurde auch berichtet, dass rechte, natio­na­lis­ti­sche MHP-Sympha­tis­anten an den Zusam­men­stößen mit der Polizei teilnehmen. Die linken Gruppen, die am Taksim sehr präsent sind, stehen dem Friedens­pro­zess ohnehin skeptisch gegen­über, einfach, weil er von der AKP einge­leitet wurde. Dieje­nigen, die den Friedens­pro­zess torpe­dieren wollen, könnten keine besseren Bedin­gungen vorfinden.

• Die Regie­rung sollte nicht / kann nicht so dumm sein, nicht zu sehen, dass eine Beendi­gung des Krieges im Osten des Landes nicht durch den Beginn eines neuen Krieges im Westen begleitet werden kann. Der säkula­ri­sierte Westen des Landes, hat jeden­falls sehr viele der letzten Handlungen der Regie­rung als Kriegs­er­klä­rung an ihren Lebens­stil aufge­fasst ; egal, ob das so stimmt oder nicht.  So ist öffent­li­ches Trinken beispiels­weise inzwi­schen zu einem wichtigen Bestand­teil der Proteste geworden.

• Die BDP / HDK, also Vertreter der kurdi­schen Bewegung und ihre Verbün­deten, waren in der Anfangs­phase (bei der Beset­zung) durch die Person Sirri Sureyya Onder (Parla­ment­ab­ge­ord­neter) stark präsent. Er spielte eine wichtige Rolle bei der Blockade der Bulldozer. Er wurde von einer Gas-Kartu­sche verletzt und verschwand kurz darauf. Eine stärkere Betei­li­gung der BDP und ihrer Verbün­deten würde sicher­lich helfen, die Situa­tion zu norma­li­sieren und die Wieder­her­stel­lung demokra­ti­scher Standards einzu­leiten und abzusi­chern.

Update am Abend des 2.Juni : Im Laufe des Tages konnte eine schwach ausge­prägte kurdi­sche Betei­li­gung an den Protesten in Istanbul beobachtet werden.

• Die Origi­nal­for­de­rung  « Taksim hepimizin ! / Der Taksim gehört allen ! », die dem Appell der « Taksim Platform »  zugrun­de­liegt , ein klarer Appell an eine plura­lis­ti­sche Nutzung und parti­zi­pa­tive Planung des Taksim-Platzes, wurde inzwi­schen unter­graben. Der weithin akzep­tierte säkulare Slogan « Taksim Bizim ! / Taksim gehört uns ! » ist aus meiner Sicht nicht unpro­ble­ma­tisch, weil er wie ein Anspruch auf eine ausschließ­liche Nutzung des städti­schen Raums klingt.

Die ursprüng­liche « Taksim Platform » im Internet : taksim​plat​formu​.org

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