Politische Prozesse : Schweigen aus Staatswohl

Im Vorfeld der Veran­stal­tung am 25. August in der CityKirche Wuppertal-Elber­feld und zu einem Zeitpunkt des Verfah­rens, an dem die Vertei­di­gung in die Offen­sive geht, wurde von der Gruppe ihrer Freunde und Freun­dinnen ein viersei­tiges Infoblatt veröf­fent­licht, mit dem die Öffent­lich­keit in Wuppertal und darüber­hinaus über die Situa­tion ihrer Freundin, Nachbarin und Kollegin infor­miert werden soll, die von den lokalen Medien fast unbemerkt am frühen Morgen des 26.6.2013 durch ein in ihre Wohnung stürmendes SEK in eine trübe Mélange aus Außen­po­litik, „Staats­wohl“, Koope­ra­tion der Geheim­dienste und Repres­sion hinein­ge­stoßen wurde.

Wir übernehmen hier die Artikel des Infoblatts zum Verfahren, die online erstmals auf der Website zum Prozess veröf­fent­licht wurden.

Teil 1
Schweigen aus Staats­wohl
Inter­view mit Latife Cenan-Adigüzel
Übersicht laufender 129b-Verfahren
Inter­view mit dem Anwalt Yener Sözen


Politi­sche Prozesse : Schweigen aus Staats­wohl
(aus : Prozess­in­for­ma­tion – Sommer 2016 –– Erstver­öf­fent­li­chung)

Über die Lage in der Türkei wird spätes­tens seit dem geschei­terten Putsch am 15. Juli und den Ereig­nissen danach viel geschrieben und disku­tiert. Die Öffent­lich­keit nimmt eine zuneh­mend kriti­sche Haltung ein. Massen­ver­haf­tungen und Massen­ent­las­sungen werden kriti­siert, Ausnah­me­zu­stand und Aufkün­di­gung der Europäi­schen Menschen­rechts­kon­ven­tion werden besorgt kommen­tiert. Zuletzt bestä­tigte die Bundes­re­gie­rung auf eine parla­men­ta­ri­sche Anfrage gewunden, dass die Türkei eine „Aktions­platt­form für militanten Islamismus“ ist. Eine offenere Antwort könne es „aus Gründen des Staats­wohls“ nicht geben, bedau­erte der Staats­se­kretär im Innen­mi­nis­te­rium aller­dings.

Gleiches gilt wohl auch für die im Inter­esse der Türkei in der Bundes­re­pu­blik geführten politi­schen Prozesse, die kaum Aufmerk­sam­keit in der Öffent­lich­keit finden. Erst im Juni begann in München eines der größten politi­schen Verfahren der Nachkriegs­ge­schichte, in dem zehn Angeklagte vor Gericht stehen. In dem „Pilot­ver­fahren“ (Staats­an­walt­schaft) werden sie der Mitglied­schaft in einer „auslän­di­schen terrro­ris­ti­schen Verei­ni­gung“ beschul­digt – der türki­schenen TKP/ML, die auf keiner europäi­schen Terror­liste auftaucht. Gleich­zeitig wird immer wieder in Deutsch­land lebenden Menschen der Prozess wegen angeb­li­cher Mitglied­schaft in der kurdi­schen PKK gemacht. So aktuell in Hamburg, Celle, Stutt­gart und Düssel­dorf.

Dort wird seit einem Jahr auch gegen eine Wupper­ta­lerin verhan­delt, die seit Jahrzehnten in Deutsch­land lebt. Der zweifa­chen Mutter, die ein Geschäft in Elber­feld hat und als Betreuerin für alte Menschen arbeitet, soll Mitglied der militanten DHKP-C in der Türkei sein. In dem absurden Verfahren, das ausschließ­lich auf der Basis ihres Engage­ments in einem migran­ti­schen Verein und ihrer legalen politi­schen Arbeit in der Bundes­re­pu­blik geführt wird, droht Latife Cenan-Adigüzel eine mehrjäh­rige Haftstrafe. Doch auch wenn es „nur“ zu einer Bewäh­rungs­strafe kommen sollte, sind die mögli­chen sechs­stel­ligen Kosten des Prozesses existenz­be­dro­hend.

Diese Verfahren nach § 129b, die alle auf fragwür­digen „Geheim­dienst­er­kennt­nissen“ und auf zum Teil in der Türkei erfol­terten Aussagen beruhen, richten sich immer gegen migran­ti­sche Menschen, die eine kriti­sche Haltung zur Regie­rung in der Türkei haben. Die gegen sie geführten Anklagen beruhen dabei auf ebenso willkür­li­chen Defini­tionen von „Terro­rismus“, denen in der Türkei Rechts­an­wälte, Journa­lis­tInnen und selbst Richter zum Opfer fallen.

Es zeigt sich ein doppeltes Gesicht der deutschen Politik : Während die willkür­liche Defini­tion von Terror in der Türkei als Hindernis für eine Visafrei­heit bezeichnet werden, findet vor deutschen Gerichten aufgrund gleicher Defini­tionen eine Hexen­jagd auf politsch aktive Migran­tInnen statt. Diese Verfahren weiten die repres­siven Möglich­keiten gegen politisch Aktive aus und unter­höhlen rechts­staat­liche Prinzi­pien. Sie bedrohen jede Initia­tive und opposi­tio­nelle Arbeit : Wie schnell sich neue repres­sive Möglich­keiten gegen alle und jeden richten können, ist derzeit in der Türkei schließ­lich gut zu beobachten.

Inter­view mit Latife : „Ich habe mir nicht vorstellen können, dass mir sowas passieren würde”
(aus : Prozess­in­for­ma­tion – Sommer 2016 –– Erstver­öf­fent­li­chung)

Latife, das Verfahren gegen dich läuft nun seit mehr als einem Jahr. Was macht das mit dir, wie bestimmt der Prozess deinen Alltag ?

Am Anfang war es für mich sehr stressig. Ich wusste nicht, wie ich das schaffen sollte. Ich wusste nur, ich muss mich vertei­digen, aber die Mittel dafür kannte ich noch nicht. Inzwi­schen denke ich jedes Mal, wenn das Gericht neue „Beweis­mittel“ gegen mich einführt, wie lächer­lich das eigent­lich ist. Das Gericht macht sich lächer­lich mit der Anklage gegen mich. Anderer­seits weiß ich ja, dass auch andere schon wegen lächer­li­chen Beweisen verur­teilt worden sind.… Natür­lich hat man das Verfahren immer im Hinter­kopf, und es frisst auch viel Zeit und Kraft im Alltag. Mindes­tens zwei Tage die Woche bin ich nur mit dem Prozess beschäf­tigt, und nebenbei arbeite ich in unserem Kiosk und als Alten­pfle­gerin. Es ist schon eine Belas­tung für die ganze Familie. Und es ist ein Hindernis auch für meine politi­sche Arbeit, denn ich bin ja nur unter Auflagen auf freiem Fuß. Vielleicht gehört so etwas aber einfach zum Leben, wenn man politisch arbeitet. Aber ich kann meine Augen ja nicht zumachen.

Hättest du denn vor deiner Verhaf­tung 2013 gedacht, dass du jemals für deine politi­sche Tätig­keit vor Gericht stehen würdest ?

Nein, habe ich nicht. Als Vorsit­zende der Anato­li­schen Födera­tion habe ich völlig legale politi­sche Arbeit für Migranten und Migran­tinnen gemacht und mir nicht vorstellen können, dass mir so etwas passieren würde. Die Anato­li­sche Födera­tion ist eine Selbst­or­ga­ni­sa­tion von Familien mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Ich habe viel Arbeit mit türki­schen und kurdi­schen Frauen gemacht, damit die Frauen stärker werden und sich gegen Gewalt von Männern und gegen Rassismus organi­sieren ; deshalb haben wir sehr viel Bildungs­ar­beit zur Unter­drü­ckung der Frauen und zum Kampf der Frauen für Gleich­be­rech­ti­gung gemacht. Ein anderer wichtiger Teil war unsere Arbeit für migran­ti­sche Jugend­liche. Viele unserer Jugend­li­chen kommen aus ärmeren Arbei­ter­fa­mi­lien und haben wegen fehlender Ausbil­dung und auch wegen Rassismus schlechte Chancen.

Wie reagiert dein Umfeld, bekommst du genug Unter­stüt­zung ?

Ja. Solida­rität ist schon da. Auch wenn nicht so viele Leute zu den Gerichts­ter­minen kommen, fühle ich mich nicht alleine. Einige Freunde und Freun­dinnen sind immer da, viele sind in Gedanken solida­risch bei mir. Viele verfolgen sehr genau was passiert, und fragen mich immer mal wieder. Letztens habe ich in der Initia­tive, die die Geflüch­teten am Ölberg unter­stützt, eine Frau getroffen. Ich kannte sie vorher gar nicht, aber wir kamen ins Gespräch, und als ich ihr meinen Namen sagte, meinte sie : „Ach, du bist also unsere Latife, gegen die der Prozess gerade läuft!“. Jetzt sind wir Freun­dinnen. Es gibt viel Solida­rität in der Nachbar­schaft.

Drecks­ar­beit für Erdogan
(aus : Prozess­in­for­ma­tion – Sommer 2016 –– Erstver­öf­fent­li­chung)

Laufende Verfahren nach § 129b in Deutsch­land : Prozesse gegen angeb­liche Mitglieder der TKP/ML, der PKK und der DHKP-C in Düssel­dorf, München, Stutt­gart und Celle

Mitte Juni diesen Jahres begann vor dem OLG in München einer der größten politi­schen Prozesse der Nachkriegs­zeit in Deutsch­land. Angeklagt sind zehn in Europa lebende türki­sche Kommu­nis­tInnen, denen Mitglied­schaft in der türki­schen TKP/ML, einer marxis­tisch-leninis­ti­schen Partei, vorge­worfen wird. Diese taucht auf keiner Terror­liste der EU auf und ist nicht verboten. Gleich­wohl waren die zehn Angeklagten - neun Männer und eine Frau - zu Prozess­be­ginn bereits seit vierzehn Monaten in U-Haft. Vier von ihnen lebten zuvor in anderen europäi­schen Staaten und wurden erst auf Betreiben der Bundes­re­pu­blik verhaftet und auf Grund­lage des europäi­schen Auslie­fe­rungs­ab­kom­mens an Deutsch­land überstellt.

2010 beschloss der BGH, dass die kurdi­sche PKK auch in Deutsch­land als “terro­ris­ti­sche Verei­ni­gung” einzu­stufen sei ; 2011 erteilte der Justiz­mi­nister die Verfol­gungs­er­mäch-tigung.  Derzeit laufen vor dem OLG Düssel­dorf, Celle und Stutt­gart Verfahren gegen vier in Deutsch­land lebende Menschen kurdi­scher Abstam­mung, weil ihren Tätig­keiten für die kurdi­sche PKK vorge­worfen werden ; sieben weitere wurden bereits verur­teilt, zuletzt erhielt ein Angeklagter in einem Prozess in Hamburg eine dreijäh­rige Haftstrafe.

Seit Juni 2015 steht ebenfalls in Düssel­dorf die Wupper­ta­lerin Latife Cenan-Adigüzel vor Gericht ; ihr wird vorge­worfen, als Vorsit­zende der Anato­li­schen Födera­tion für die linke türki­sche DHKP-C tätig gewesen zu sein. Özgür Aslan, Sonnur Demiray, Yusuf Tas und Muzaffer Dogan, die wie Latife Ende Juni 2013 verhaftet worden waren, wurden in der Zwischen­zeit vom OLG Stutt­gart zu Haftstrafen zwischen vierein­halb und sechs Jahren verur­teilt.

Verfahren am Schei­deweg“

Inter­view mit Yener Sözen, Rechts­an­walt von Latife und im Münchner TKP/ML-Prozess

Du hast neben dem Mandat von Latife auch ein Mandat im Münchner TKP/ML-Prozess. Gibt es Unter­schiede ?

Im Grunde laufen diese Verfahren nach dem gleichen Strick­muster. Nach der Erklä­rung des Bundes­an­waltes handelt es sich in München um ein Pilot­ver­fahren, da die TKP/ML weder in der BRD noch auf der EU Ebene verboten ist. Auch steht sie nirgendwo auf der so genannten Terror­liste. Sie versu­chen zu beweisen, dass es sich bei der TKP/ML um eine auslän­di­sche terro­ris­ti­sche Verei­ni­gung handelt. Bisher gilt TKP/ML nur in der Türkei als solche und ist nur dort verboten.

In München sind zwanzig Anwäl­tInnen invol­viert, das ist viel Sachver­stand. Erhoffst du dir davon neue Impulse in der langen Ausein­an­der­set­zung um den § 129 ?

In der Tat erhoffen wir uns weitere Impulse. Wir haben Kolle­gen­Innen, die viel Ahnung in anderen juris­ti­schen Berei­chen, wie z.B im Völker­recht haben. Wir arbeiten arbeits­teilig in alle Richtungen und werden alle juris­ti­schen Möglich­keiten nutzen, um die Rechts­wid­rig­keit des § 129 zu beweisen.

In eurem Einstel­lungs­an­trag im Verfahren gegen Latife geht ihr auf die Lage in der Türkei nach dem versuchten Putsch ein. Erhofft ihr euch einen positiven Effekt für das Verfahren ?

Das ist eine unserer Hoffnungen. In München sprach der Vorsit­zender Richter von einem „Schei­deweg im Verfahren”.

Hast du in deiner Zeit als Anwalt eine ähnlich absurde Beweis­füh­rung wie im Prozess gegen Latife schon einmal erlebt ?

Bis dato nicht, aber in München ist die Beweis­füh­rung genauso…

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Prozess gegen Latife : Presseerklärung der Anwälte

Am 28.Januar 2016 wurde am 23.Prozesstag gegen unsere Genossin Latife der erste Teil einer persön­li­chen Erklä­rung verlesen, in der Latife ihren Werde­gang und ihr Leben als Kind und Jugend­liche in der Türkei schil­derte, das von staat­li­cher Gewalt und Verfol­gungen geprägt war – u.a. durch die Militär­put­sche der Jahre 1971 und 1980.

Nach Latifes Erklä­rung beantragten ihre Vertei­diger – Roland Meister und Yener Sözen – die Einstel­lung, bzw. die Ausset­zung des Verfah­rens. Dabei verwiesen sie in eindring­li­chen Worten auf die aktuelle repres­sive Entwick­lung in der Türkei und den grausamen Krieg des türki­schen Militärs gegen die kurdi­sche Zivil­be­völ­ke­rung. In der Begrün­dung des Antrages beschul­digten sie das Bundes­jus­tiz­mi­nis­te­rium der “Unter­stüt­zung eines terro­ris­ti­schen Regimes”, wenn die Ermäch­ti­gung zur Straf­ver­fol­gung nicht zurück­ge­nommen werde. Heute veröf­fent­lichte die Vertei­di­gung eine Presse­mit­tei­lung zum vergan­genen Prozesstag und zum Einstel­lungs­an­trag.

Am Mittwoch, den 10.2.2016 wird im Verfahren der zweite Teil der persön­li­chen Erklä­rung unserer Freundin einge­bracht. Über eine solida­ri­sche Beglei­tung wird sich Latife freuen.

Wir dokumen­tieren die Presse­mit­tei­lung der Vertei­di­gung im Wortlaut.

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Presse­mit­tei­lung der Vertei­di­gung zum Verfahren gegen Latife Cenan-Adigüzel vor dem OLG Düssel­dorf – Gelsen­kir­chen, Remscheid, 1.2.2016

Antrag auf Einstel­lung des Verfah­rens am 28.1.2016

Anläss­lich des inzwi­schen 23. Verhand­lungs­tags im Verfahren gegen unsere Mandantin Latife Cenan-Adigüzel vor dem 5. Senat (dem so genannten Staats­schutz­senat) des Oberlan­des­ge­richts Düssel­dorf möchten wir uns als ihre Anwälte mit einer Erklä­rung an die Öffent­lich­keit wenden.

Am Donnerstag, den 28.1.2016, haben wir die Einstel­lung, bzw. eine Ausset­zung des laufenden Verfah­rens gegen Latife Cenan-Adigüzel gefor­dert.

In Kürze zum Hinter­grund des Verfah­rens :

Unserer Mandantin wird durch die General­staats­an­walt­schaft Düssel­dorf die Mitglied­schaft in einer auslän­di­schen terro­ris­ti­schen Verei­ni­gung – gemeint ist die in der Türkei aktive DHKP-C – nach §129b StGB vorge­worfen. Die Inhaf­tie­rung unserer nicht vorbe­straften Mandantin erfolgte während einer bundes­weiten Aktion der Bundes­an­walt­schaft im Juni 2013. Seit August 2013 befindet sich Latife Cenan-Adigüzel wieder auf freiem Fuß, seit dem 18. Juni 2015 wird vor dem OLG Düssel­dorf gegen sie verhan­delt.

In sieben Monaten Prozess­dauer konnte die General­staats­an­walt­schaft bislang keinen Beleg für die durch sie behaup­tete Mitglied­schaft unserer Mandantin in der DHKP-C erbringen. Dies, obwohl unserer Mandantin eine beinahe lücken­lose Überwa­chung im Zuge der Ermitt­lungen zuteil wurde. So wurde monate­lang ihre Telekom­mu­ni­ka­tion überwacht und mithilfe eines Peilsen­ders am PKW ein minutiöses Bewegungs­profil angefer­tigt. Nach den im bishe­rigen Prozess­ver­lauf durch die Staats­an­walt­schaft einge­brachten Beweise hat keine dieser Maßnahmen zu verwert­baren Erkennt­nissen hinsicht­lich des behaup­teten Vorwurfs geführt.

Der zutage tretende Verfol­gungs­willen gegen­über unserer Mandantin, einer zweifa­chen Mutter die seit 34 Jahren in Deutsch­land lebt und in Wuppertal einen Laden für Presse­er­zeug­nisse und Tabak­waren betreibt sowie behin­derte Menschen betreut, ist der Ausdruck des politi­schen Willens der Bundes­re­gie­rung zu einer unkri­ti­schen Koope­ra­tion deutscher und türki­scher Polizei­be­hörden und Geheim­dienste. Das Verfahren gegen Latife Cenan-Adigüzel ist nur deshalb möglich, weil durch das Bundes­mi­nis­te­rium für Justiz (BMJ) eine entspre­chende Ermäch­ti­gung erteilt wurde. Demnach sind die vorge­wor­fenen Delikte der Unter­stüt­zung, bzw. der Mitglied­schaft in der als terro­ris­ti­sche Verei­ni­gung einge­stuften DHKP-C in Deutsch­land zu verfolgen.

Eine seit Jahrzehnten skanda­löse Praxis

Wie unsere Mandantin im Rahmen einer am 23. Verhand­lungstag abgege­benen Erklä­rung zu ihrem eigenen Werde­gang deutlich machte, ist ihre eigene, wie auch die gesamte türki­sche Geschichte der letzten Jahrzehnte eine Abfolge menschen­rechts­wid­riger Verfol­gungen, Pogrome und eines Staates, der vor der vielfa­chen Ermor­dung seiner Gegner und Gegne­rinnen nicht zurück­schreckt. Auch die alevi­tisch-kurdi­sche Familie unserer Mandantin hatte in der blutigen Geschichte der Türkei Opfer zu beklagen, etwa ihren Urgroß­vater, der 1938 bei einem Massaker an alevi­ti­schen Geist­li­chen bei leben­digem Leib verbrannt wurde. Wie das Beispiel zeigt, reicht die blutige Verfol­gungs­ge­schichte in der Türkei weit zurück. Im Gedächtnis unserer im Dorf Bargini in Dersim geborenen Mandantin hinter­ließ sie tiefe Spuren aus ihrer Kindheit, die in die Zeit der Putsch­re­gimes von 1971 und 1980 fiel.

Vor dem Hinter­grund dieser Historie ist die Zusam­men­ar­beit deutscher Behörden und deutscher Justiz mit einem Staat, der für Massaker und tausend­fa­chen Mord verant­wort­lich ist, seit jeher skandalös. Angesichts der aktuellen, sich immer weiter verschär­fenden Situa­tion in der Türkei ist sie für uns nun nicht länger hinnehmbar. Wir haben am 28.1.2016 deshalb die Ausset­zung, bzw. die Einstel­lung des Verfah­rens gegen Latife Cenan-Adigüzel beantragt.

Die vorlie­gende Ermäch­ti­gung des Bundes­jus­tiz­mi­nis­te­riums ist nichtig

Wir halten die vorlie­gende Ermäch­ti­gung für nichtig. Das Bundes­mi­nis­te­rium für Justiz ist einseitig den Ausfüh­rungen des türki­schen Staates und der Bundes­an­walt­schaft gefolgt, als es seiner­zeit die Ermäch­ti­gung erteilte. Menschen­recht­liche und völker­recht­liche Aspekte blieben unberück­sich­tigt. Nach unserer Ansicht ist das Verfahren gegen unsere Mandantin einzu­stellen. Wir sehen einen Mangel an der Verfah­rens­vor­aus­set­zung, da es demnach an einer entspre­chenden Ermäch­ti­gung zur Straf­ver­fol­gung durch das Bundes­mi­nis­te­rium für Justiz mangelt.

Selbst wenn davon ausge­gangen wird, dass die vorlie­gende Ermäch­ti­gung zum Zeitpunkt ihrer Ertei­lung noch nicht nichtig gewesen ist, so ist das wegen der aktuellen Entwick­lungen in der Türkei inzwi­schen zweifellos der Fall. Das Justiz­mi­nis­te­rium ist verpflichtet, diese Ermäch­ti­gung zurück­zu­nehmen, denn sie lässt andau­ernde Gewalt­akte gegen Opposi­tion, kriti­sche Journa­listen und Minder­heiten – insbe­son­dere die kurdi­sche Bevöl­ke­rung in der Türkei außer Acht. Beson­ders erwähnen möchten wir in diesem Zusam­men­hang die syste­ma­ti­sche Verfol­gung gewählter Politiker und Politi­ke­rinnen sowie von Rechts­an­wäl­tinnen und Rechts­an­wälten.

Morde auf offener Straße, Krieg gegen die Zivil­be­völ­ke­rung

So wurde Tahir Elçi, Vorsit­zender der Rechts­an­walts­kammer von Diyarbakir, am Vormittag des 28.11.2015 auf offener Straße erschossen. Viele der Umstände des Mordes deuten auf eine (Mit-) Täter­schaft des türki­schen Staates hin, der zuvor eine Kampagne gegen den Anwalt geführt hatte, weil sich Elçi vor seiner Ermor­dung bei einer politi­schen Sendung des TV-Senders CNN-Türk öffent­lich für ein Ende der Militär­ope­ra­tionen und gegen die Einstu­fung der PKK als Terror­or­ga­ni­sa­tion ausge­spro­chen hatte.

Was in deutschen Medien zum Teil als « Bürger­krieg im Südosten der Türkei » darge­stellt wird, ist in Wahrheit ein Angriff des türki­schen Militärs auf die kurdi­sche Zivil­be­völ­ke­rung mit allen Mitteln. Städte werden mit schweren Kriegs­waffen belagert, zum Teil wird mit Geschützen auf Wohnviertel gefeuert, syste­ma­tisch wird versucht, Ortschaften von der Wasser- und Strom­ver­sor­gung abzuschneiden. Über mehr als 17 Ortschaften wurde zwischen­zeit­lich eine totale Ausgangs­sperre verhängt.

Wenn unsere Mandantin in ihrer Erklä­rung davon spricht, dass während der von ihr als Kind erlebten Ausgangsperren nach dem Putsch 1971 « die Straßen voll mit bewaff­neten Soldaten » waren, und es in der « kurzen Zeit, in der wir ausgehen durften, so gut wie nichts zu kaufen gab », schil­dert Latife Cenan-Adigüzel Situa­tionen, an die sie sich auch heute noch ganz genau erinnert. Wenn unsere Mandantin sagt « Ich habe und werde diese angst­vollen Hunger­tage nie vergessen », dann beschreibt sie ein schreck­li­ches Deja Vu für die heute dort unter den Ausgangs­sperren hungernden und leidenden Menschen.

Unter­stüt­zung eines terro­ris­ti­schen Regimes

Die Dimen­sion der Menschen­rechts­ver­let­zungen in der Türkei kann inzwi­schen nur noch als staats­ter­ro­ris­tisch quali­fi­ziert werden. Eine Aufrecht­erhal­tung der Ermäch­ti­gung zur Straf­ver­fol­gung stellt somit objektiv die Unter­stüt­zung eines terro­ris­ti­schen Regimes durch das Bundes­jus­tiz­mi­nis­te­rium dar. Wir sehen die Menschen­rechts­ver­let­zungen und die Kriegs­ver­bre­chen des türki­schen Regimes durch Urteile europäi­scher und deutscher Gerichte sowie durch Berichte von Amnesty Inter­na­tional und anderer Experten als hinrei­chend belegt an.

Durch die Ermäch­ti­gung zur Straf­ver­fol­gung durch das Bundes­mi­nis­te­rium für Justiz werden rechts­staat­liche Grund­sätz ignoriert. Die erteilte Ermäch­ti­gung wird als Mittel der Instru­men­ta­li­sie­rung der Straf­justiz genutzt, um die straf­recht­liche Verfol­gung strate­gi­schen und außen­po­li­ti­schen Inter­essen der Regie­rung zu unter­stellen. Auf dieser Grund­lage werden in Deutsch­land lebende Menschen, denen nichts als eine kriti­sche Haltung zur türki­schen Regie­rung vorge­worfen werden kann, aus Gründen der Staats­raison geopfert.

Der Krieg gegen die kurdi­sche Zivil­be­völ­ke­rung und die Verfol­gung kriti­scher Menschen in der Türkei, die auf einer täglich länger werdenden Liste so genannter Terro­risten landen – Journa­lis­tinnen und Juristen, Politiker und Politi­ke­rinnen, Gewerk­schafter oder Frauen­rechts­ak­ti­vis­tinnen und zuletzt auch Akade­miker und Akade­mi­ke­rinnen, die sich für Frieden ausge­spro­chen haben – erfährt durch die in Deutsch­land durch­ge­führten Straf­ver­fahren eine Fortset­zung im Inter­esse deutsch-türki­scher Bezie­hungen und restrik­tiver europäi­sche Flücht­lings­po­litik.

Wir fordern vor diesem Hinter­grund zumin­dest die Ausset­zung des Verfah­rens gegen unsere Mandantin und das Gericht dazu auf, sich von Amts wegen an das Bundes­mi­nis­te­rium für Justiz zu wenden, damit dieses aufgrund der aktuellen Entwick­lungen in der Türkei die bestehende Ermäch­ti­gung überprüft. Wir erwarten dazu eine Entschei­dung des Senats an einem der nächsten Prozess­tage.

Rechts­an­walt Roland Meister, Gelsen­kir­chen und
Rechts­an­walt Yener Sözen, Remscheid

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