Irgendwie setzt sich der Eindruck fest, dass kaum wer von den Entwicklungen rund um die kurdische Stadt Kobané Notiz nimmt. Wahrscheinlich liegt das daran, dass immer noch viele nicht genug wissen um die Nachrichten einordnen zu können – abgesehen davon, dass manche vor antiimperialistischen Brettern vorm Kopf einfach keine klare Sicht haben (ihr glaubt nicht was für volliditiosche E-Mails mir ins Postfach rauschen…). Wenn ich damit jemandem jetzt Unrecht tue, bitte ich um Entschuldigung.
Also, kurze Infos zur Lage :
Seit mehreren Tagen (seit dem 15.09.) läuft im „Herzen von Rojava”, rund um die 500.000 Einwohner*innen-Stadt Kobane, eine Offensive des IS. Gehört hat mensch hier in der Regel nur von den „Flüchtlingsströmen”, die in der letzten Zeit die Grenze zur Türkei überquert haben.
Die Richtung der Flüchtlingsbewegung ergibt sich aus der Tatsache, dass Kobane als Zentrum der Selbstverteidigungskräfte der YPG gleichzeitig von Westen, Osten und Süden angegriffen wird. So steht den Menschen nur der Nordweg (in Richtung türkische Grenze) offen.
Die Kräfte der YPG kämpfen mit Handfeuerwaffen und Kalashnikovs gegen schwere Waffen des IS. Dieser verfügt u.a. angeblich über 50 erbeutete US-Panzer, mit denen er die Guerilla-Stellungen beschießen. Seit Dienstagabend scheint der Belagerungsring um Kobane so gut wie geschlossen, dier IS soll laut einigen Meldungen bis auf zwei Kilometer an die Stadt herangerückt sein. Andere Meldungen geben den Bewohner*innen der Stadt (noch etwa 200.000, nicht nur Kurd*innen, auch Araber*innen und Geflüchtete) noch einen Puffer von sechs Kilometern. In jedem Fall scheint der IS mittlerweile 75% der Region zu kontrollieren. Die Hilferufe von dort in den sozialen Medien klingen mehr als verzweifelt. Der IS hat für den Fall der Einnahme der Stadt bereits Massentötungen angekündigt und führt diese in den schon eroberten Dörfern rund um Kobane an den dort verbliebenen Menschen auch bereits aus.
In den Medien erfährt man vom angekündigten Völkermord in Kobané so gut wie nichts.
Warum ist das so ?
Eine mögliche Antwort ist, dass Kobané das Herz von Rojava ist, und Rojava (der syrische Teil Kurdistans) von linken Kräften verwaltet wird, während die ebenfalls durch den IS gefährdeten Gebiete im Nordirak, die von Mehsut Barzani regiert werden, mit der NATO und der Türkei engstens zusammenarbeiten. Tatsächlich handelt es sich bei dem weitestgehend basisdemokratisch verwalteten, multiethnischen und multireligiösen Rojava um eines der wenigen Verwaltungsgebiete weltweit, mit dem staatsferne Linke Sympathien verbinden können. Sowohl die PYD als auch die PKK haben offiziell das Konzept „Staat” zu den Akten gelegt. Das soll nicht heißen, dass Öcalan jetzt Autonomer ist, aber trotzdem wird das Leben in Rojava eher lokal und dezentral organisiert. Mit diesen Strukturen schafften es die Menschen der Gegend bislang, im syrischen Bürgerkrieg und gegen die radikal-islamistischen Gruppen standzuhalten. Wenn die westlichen Medien über die dramatische Lage des Gebietes nichts berichten, liegt das sicher auch im Interesse der Türkei, die ein selbstverwaltetes, linkes kurdisches Projekt Rojava wesentlich mehr fürchtet als die nordirakische Autonomieregion unter Barzani, mit der die AKP-Regierung in vielen Bereichen zusammenarbeitet – vor allem auch gegen die PKK.
Bis heute gibt es auch immer wieder Berichte über personelle und logistische Unterstützung der Türkei für den „Islamischen Staat”. Hinzu kommt, dass die Türkei die Grenze nach Kobané nach Gutdünken schließt und öffnet. Für Flüchtlinge ist sie zwar meist offen, kurdische Kämpfer*innen in Gegenrichtung werden jedoch teils mit Waffengewalt am Grenzübertritt gehindert. Manche sprechen auch von einem Deal der Türkei „Geiseln gegen Kobané” (bezüglich der vom IS freigelassenen türkischen Geiseln).
Es sollen doch Waffen an „die Kurden” geliefert werden.
Warum ist deren Lage trotzdem so verzweifelt ?
Weil die Aussage schlicht falsch ist. Waffenlieferungen gab es nur an die Peschmerga, und die Peschmerga sind Barzanis Armee im Nordirak. Während die Guerilla der YPG nach dem Fall Mosuls den Peschmerga von Syrien aus sehr schnell zur Hilfe eilte, ist jetzt allerdings von einer Unterstützung Rojavas durch die Peschmerga nichts bekannt. Mehr noch : Die Peschmerga haben sich dem Westen gegenüber verpflichtet, gelieferte Waffen keinesfalls an die PKK oder die YPG weiterzureichen. Das versteht die Bundesregierung unter „Zuverlässigkeit”. Die YPG Kämpfer*innen haben inzwischen nicht einmal mehr Munition für ihre Kalashnikovs.
Die Amis führen doch jetzt Luftschläge aus.
Wird das den „Islamischen Staat” nicht aufhalten ?
Nein. Bisher nicht. Die Luftschläge der „Koalition” haben in den letzten Tagen sollten den IS hauptsächlich aus Raqqa vertreiben. Das hat bei den IS-Kämpfern eine Bewegung in den Norden Syriens ausgelöst. Und das ist da, wo Kobané liegt. Die Front um Kobané blieb weitgehend ohne Unterstützung. Insgesamt sind die Operationen für Kobané bisher eher kontraproduktiv. Die „Koalition” bombardiert lieber Ölfelder, die unter Kontrolle des IS sind, als die Angreifer der Stadt Kobané. Meinungen, nach denen die IS-Milizen lediglich versuchen, sich vor den US-amerikanischen Luftangriffen in der Türkei in Sicherheit zu bringen, erscheinen unsinnig. Die Medien des IS lassen diesen Schluss nicht zu, auch der Belagerungsring um Kobané spricht dagegen. Solche Aussagen sind daher eher den von der vorgeblichen militärischen Stärke begeisterten USA-Fans zuzuschreiben.
Ist das also doch imperialistische Kackscheiße ?
Ja klar doch. Ohne einen antiimperialistischen Ansatz lassen sich die Gesamtentwicklungen in der Region nicht verstehen. Vor allem das Erstarken der IS-Terrorgruppen und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg ist etwas, das auch auf die Kappe der üblichen Verdächtigen geht. Andererseits : Ist die Ursachenforschung derzeit die dringlichste Aufgabe ? Spielt das in dem Moment wirklich eine große Rolle, in dem sich die Dinge ganz offensichtlich verselbstständigt haben und die Auslöschung eines linken Experiments und von zehntausenden Menschen bevorzustehen scheint ? So, wie die Sache aussieht, werden die Kurd*innen den IS wahrscheinlich nur aus Kobane heraushalten können, wenn sie effektiv unterstützt werden. Und da wir keine internationalen Brigaden auf die Füße bekommen, bleiben offensichtlich nur die US-Amerikaner als militärische Hoffnung. Bisher verhallten alle Appelle nach Unterstützung ungehört. Wenn die „Imperialisten” nicht helfen, wird das dann eine wahrhaft imperialistische (Nicht-) Handlung sein, die den türkischen Mittelmacht-Interessen dient. Alles scheiße kompliziert eben.
Was tun ?
Mist. Wir können eigentlich gar nix tun. Nur in Gedanken bei den Menschen in Rojava sein, die um ihr Leben fürchten.
Aber : Interessiert euch ! Bildet euch ! Haltet euch auf dem Laufenden ! Unter dem Hashtag #Kobane bekommt ihr bei Twitter das meiste mit – dort wird auch englisch gepostet, und zwar hauptsächlich von kurdischer Seite. Die IS-Ärsche und ihre Fans nutzen für den Kampf um Kobané eigene Hashtags.
Weitere Infos :
roarmag.org/2014/09/kobane-rojava-is-turkey
civaka-azad.org/ein-abgekartetes-spiel-mit-der-tuerkei
facebook.com/perspektivekurdistan
P.S. Es ist eigentlich zusammen mit dem so_ko_wpt eine Infoveranstaltung zu Rojava und zum Kampf gegen ISIL in Vorbereitung. Gedacht war daran, soetwas für Mitte Oktober zu organisieren. Derzeit sieht es aber so aus, als käme sie zu spät – traurig aber wahr.
Update (25.09., am Nachmittag):
Nachdem es in der gestrigen Nacht ganz schlimm aussah und die Eroberung Kobanés durch den IS ausgemachte Sache schien, gab es im Laufe des heutigen Tages die erfreuliche Nachricht, dass die YPG-Kämpfer*innen den von Süden vorgetragenen Angriff des IS zunächst zurückschlagen konnten. Die Angriffe des IS setzen sich den Tag über fort. Dabei soll es in der späten Nacht auch tatsächlich zu Unterstützung aus der Luft gekommen sein, laut Pressemitteilung des YPG-Sprechers allerdings „sehr spät” und auch „nicht ausreichend”. Während sich die deutsche Verteidigungs-Uschi zusammen mit Barzani in Erbil für die Unterstützung der Peschmerga feiern lässt, fehlen der YPG noch immer schwere Waffen zur Verteidigung. Die Munition wird immer knapper. Die Lage bleibt unvermindert dramatisch.
Peschmerga und im Irak befindliche PKK-Truppen haben mittlerweile verlauten lassen, dass sie nicht zu Hilfe kommen können, weil ihnen der Weg nach Kobané abgeschnitten ist. Die YPG fordert die Peschmerga verzweifelt auf, ihr Waffen zur Verfügung zu stellen. Die Aufmerksamkeit in Deutschland wächst langsam. Für Samstag wird zu einer landesweiten Kundgebung für Kobane/Rojava in Düsseldorf aufgerufen.
Update (02.10., am Nachmittag): Kobané vor dem Fall
Vor einer Woche konnte noch gehofft werden, dass die Untätigkeit der „Koalition” auf einer mangelnden Kenntnis beruhen könnte. Das ist inzwischen Geschichte – die Lage in und um Kobané hat die Weltöffentlichkeit erreicht, die Medien berichten ausführlich über die dramatische Situation. Heute, am 2.Oktober, muss deshalb festgestellt werden, dass die sich selbst als „freie Welt” titulierenden Länder taten- und gnadenlos in eben jenen Medien einfach zusehen, wie die Verteidiger*innen einer antipatriachalen, multiethnisch und multireligiösen Gemeinschaft im Dauerbeschuss der Angreifer verbluten.
Die Selbstverteidigungskräfte der YPG haben sieben weitere Tage mit völlig unterlegenen Mitteln standgehalten. Seit einigen Tagen liegt Kobané unter schwerem Artilleriebeschuss, gegen den sich die Belagerten nur durch Selbstmordkommandos wehren können, die einzelne Panzer der IS-Milizen ausschalten. Die immer wieder herbeigeredeten Luftschläge der „Koalition” gegen den IS haben zu keiner Zeit wirklich stattgefunden. Auch eine Bewaffnung der kurdischen Verteidiger*innen gab es nicht. Lediglich eine einzelne moderne „Milan”-Panzerabwehrwaffe konnte offenbar in die Stadt gebracht werden. Seit gestern versucht die YPG die Zivilisten aus der Stadt in Sicherheit zu bringen, nachdem das letzte Dorf vor Kobané in die Hand des IS gefallen ist. Berichten zufolge sollen 80% der zivilen Bevölkerung rausgekommen sein und nun in der Geröllwüste vor der türkischen Grenze auf eine Einreiseerlaubnis in die Türkei warten. Die in der Stadt verbliebenen Kämpfer*innen bereiten sich auf einen Straßenkampf „bis zur letzten Kugel” vor. Seit 14:00 Uhr werden Meldungen verbreitet, Kobané sei gefallen. Sie sind noch unbestätigt.
Die Türkei hat in den letzten Tagen massiv Truppen und Panzer an die syrische Grenze bei Kobané verlegt. Heute soll das türkische Parlament über den Einsatz von Bodentruppen entscheiden, die in Rojava entlang der Grenze eine „Pufferzone” errichten sollen. Wie nicht anders zu erwarten, wird dies erst geschehen, wenn die kurdische Selbstverteidigung aufgerieben wurde. Um diesen Prozess zu beschleunigen, hat die Türkei spätestens gestern ihre Grenze für IS-Kämpfer geöffnet, die von der Türkei aus nach Kobane wollen. Unterdessen hat der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan verlauten lassen, dass der Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der PKK definitiv beendet sei, wenn in Kobané ein Massaker geschehe. Im kurdischen Amed kam es aus Solidarität mit den Belagerten in Rojava heute zu einem Generalstreik, der von Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und „Sicherheitskräften” überschattet wurde.