Interview mit einem in Wuppertal lebenden Ehepaar aus Griechenland.
Anfang 2012 wurde in Athen ein weiteres Sparpaket beschlossen, mit dem auf Anordnung der « Troika » aus EU-Kommission, EZB und IWF die so genannte Staatsschuldenkrise in Griechenland bekämpft werden sollte. Die Maßnahmen trafen Rentner, Kranke und junge Menschen, sie betrafen das Sozialsystem, die Bildung und das Gesundheitswesen. Außerdem wurden Rechte der ArbeitnehmerInnen beschnitten und Stellenstreichungen verkündet. Die Rechte aller auf Wohnen, Bildung, Gesundheit und Teilhabe wurden innerhalb der EU erstmals offen zur Disposition gestellt. Auf den Straßen Athens und vieler anderer Städte explodierten die Proteste der Bevölkerung – Griechenland schien am Rande eines Aufstandes zu stehen.
Damals trafen sich Menschen in Wuppertal, um ein örtliches Solidaritäts-Komitee zu gründen – denn viele Menschen in Griechenland hofften seinerzeit auf Solidarität, vor allem auch in Deutschland. Immerhin wurden aus Berlin die Forderungen der EU-Troika maßgeblich mitbestimmt.
Die ersten Treffen des « so_ko_wpt » fanden im Restaurant der in Wuppertal lebenden Griechin Selina* statt (*Name geändert). Sie und ihr Mann beteiligten sich engagiert an den Diskussionen. Bei aller Bestürzung über das geplante Sparpaket war die Atmosphäre zu Beginn des Frühjahres von vorsichtigem Optimismus geprägt – niemand wollte sich vorstellen, dass die angekündigten Einschnitte tatsächlich durchgesetzt werden könnten. Viele Hoffnungen richteten sich seinerzeit auf die kommenden Wahlen, bei denen neue Kräfteverhältnisse erwartet wurden.
Doch stand Griechenland seinerzeit am Abgrund, ist es nun einen Schritt weiter. Vor den Wahlen setzte eine ungeheure Stimmungsmache ein, die den von den Herrschenden befürchteten Wahlsieg der linken Allianz « Syriza » knapp verhinderte. Die Austeritätspolitik ging einfach weiter. Viele Griechinnen und Griechen haben inzwischen vor allem damit zu tun, das Nötigste für ihre Existenz zu organisieren. Neue Zahlen belegen eine Arbeitslosenquote von fast 25% – bei einer Arbeitslosenunterstüzung von wenig mehr als 300 Euro, die darüberhinaus auch nur für ein Jahr gewährt wird. Medikamente gibt es nur noch sporadisch, Schwerkranke werden nicht mehr regelmäßig versorgt. Den Schulen gehen die Lehrmittel aus, und viele Familien mit Kindern sind inzwischen wohnungslos.
Obwohl unter diesen Umständen vom angekündigten Aufstand inzwischen wenig übrig blieb, kämpfen die Menschen in Griechenland weiter. Zu beobachten am 9.Oktober, als die deutsche Kanzlerin nur mit antidemokratischen Gesetzen aus der Zeit der griechischen Militärjunta und unter dem Schutz von Aufstandbekämpfungseinheiten einen Staatsbesuch in Athen machen konnte. Mehr als 50.000 Menschen trotzten dem Demonstrationsverbot und gingen zum Syntagma-Platz.
Dennoch scheint die Aufbruchstimmung des Frühjahrs vorbei. Das untere gesellschaftliche Drittel, das nie vom System profitierte, ist längst abgehängt und vergessen. Doch auch die sogenannte « Mittelschicht », aus der viele bei den Wahlen ihre Stimme noch den Konservativen gaben, ist abgestürzt. Politisch profitieren davon zur Zeit die erstarkenden Nazis der « Chrysi Avgi » («Goldene Morgenröte»), deren offener Straßenterror gegen alles Fremde und Linke von rassistischer Sozialarbeit flankiert wird – etwa, wenn organisierte Blutspendeaktionen von « Griechen für Griechen » durchgeführt werden, oder faschistische Armenküchen Essen nur an Griechinnen und Griechen austeilen.
Das Soli-Komitee wollte wissen, wie die Stimmung in « griechischen Herbst » ist. Wir sind nochmal in Selinas Restaurant gegangen, und haben uns unterhalten.
Ein zweiter Besuch – ein halbes Jahr später.
Selina und ihr Mann haben in Griechenland zwei erwachsene Kinder, die beide als Bauingenieure beschäftigt sind. Selinas Familie gehört in Griechenland zur « Mittelschicht ». Doch obwohl nicht arbeitslos geworden, geht es ihnen kaum besser als jenen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Sie haben zum Teil seit Februar kein Gehalt mehr gesehen – nur gelegentlich kommen Abschlagzahlungen auf dem Konto an. « Der griechische Staat hat für Strukturmaßnahmen kein Geld mehr. Alle großen Bauprojekte sind stillgelegt. Deshalb müssen viele immer länger auf ihre Gehälter warten. » sagt Selinas Mann auf unsere Frage, wie das sein kann.
Wir wollen wissen, wie ein Überleben ohne Gehalt überhaupt möglich ist. « Wenn der Ehepartner nicht genug verdient, sind viele auf Selbstversorgung angewiesen », sagt Selina. Ihre Familie hat Glück – ein Familienmitglied bezieht noch Gehalt, das auch pünktlich überwiesen wird. Viele aber wüssten ohne Kontakte zu Verwandten auf dem Land nicht mehr, wie sie überleben sollten. « Niemand fragt sich, wie eine Familie von 700 Euro leben kann », fährt sie fort und schildert, dass viele der Polizisten, die Angela Merkel beschützten, nicht mehr als 700 Euro verdienen. « Da müssen die doch korrupt werden », sagt sie. Leider haben sie am 9.Oktober trotzdem ihren Dienst versehen, merken wir an.
Selina, die regelmäßig Kontakt zu ihren Kindern und Freunden in Griechenland hält, kommt auf die Stimmung im Land zu sprechen. Die Menschen hätten nach den letzten Wahlen jeden Glauben an die Politik verloren. « Die Politiker sind schuld. Die Menschen erwarten nichts mehr. » Auch ihre eigenen Kinder seien am Ende nicht mehr wählen gegangen. Wie viele in Griechenland sind sie in ihren Heimatgemeinden im Wahlregister eingetragen, sie hätten 350 Kilometer hin und wieder zurück in Kauf nehmen müssen. « Zwei Tage unterwegs sein, nur um zu wählen, wofür ? »
Sie beschreibt das griechische System, wie es vor der Krise war. « Bestimmte Beamte wurden mit 52 Jahren in Rente geschickt. Mit hoher Abfindung und mit guter Rente. Die hatten auch sehr gute Löhne. » Natürlich nicht die kleinen Beamten wie Lehrer, Polizisten oder Feuerwehrleute. « Die bekamen höchstens 1.200 Euro. Das System galt nur für bestimmte Beamte. » Diese Ungleichheit und die mit diesem System verbundene Korruption sei es, was die Menschen so müde gemacht habe. Und mit ansehen zu müssen, wie « die Politiker die Bevölkerung an Merkel und Sarkozy verkauft » haben.
Wir wenden ein, dass solche Geschichten wie die von der Rente mit 52 die Vorurteile vieler Deutscher bestätigten. Ein gefundenes Fressen für die « Bild » und andere « Qualitätsmedien ». « Ja, natürlich bestätigt das die Vorurteile. Die denken, das geschieht denen Recht. Und manchen geschieht es ja auch zu Recht. Aber das sind die wenigsten. Die, die vorher profitiert haben, müssen natürlich auch jetzt auf nichts verzichten. » Selina sagt, niemand glaube, dass jene, die das Land vor der Krise ausplünderten – neben den gut gestellten Beamten natürlich auch Industrielle oder die Reeder – nun auch für die Folgen einzustehen hätten. « Bezahlen tun nur die kleinen Leute. » Die meisten, die jetzt draufzahlen, waren auch vor der Krise schon in einem ständigen Überlebenskampf. Dass viele Deutsche das nicht sehen, ärgert Selina.