Griechenland - einen Schritt weiter ? Interview.

Die Ignoranz der Deutschen ärgert

Die Ignoranz der Deutschen ärgert.

Die meisten Deutschen wüssten nicht, dass in Griechen­land fast alles von mittel­eu­ro­päi­schen Firmen verkauft wird. Zum Beispiel von Lidl. « Das bisschen Geld, das nicht für die Bankzinsen des Staates drauf­geht, geht also sofort wieder in die Taschen deutscher Konzerne. » Die griechi­sche Landwirt­schaft liegt längst am Boden. « In griechi­schen Geschäften wird deutsche Butter und Milch verkauft und hollän­di­sche Tomaten. Zu wesent­lich höheren Preisen als hier. » Daran ist auch die EU schuld. Als Griechen­land Mitglied der EU wurde, wurde die griechi­sche Agrar­pro­duk­tion im Inter­esse nieder­län­di­scher und deutscher Produ­zenten umstruk­tu­riert. Mit dem Ergebnis, dass auf dem europäi­schen Markt nur noch griechi­scher Schafs­käse und Olivenöl wettbe­werbs­fähig blieben. Andere Grund­nah­rungs­mittel werden heute impor­tiert.

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Am Anfang der Krise hat einer zu mir gesagt : Ihr faulen Griechen - immer liegt ihr am Strand rum. Damit ist jetzt Schluss. Dann hat er auf eine Karte gezeigt und gefragt, welche Insel er kaufen soll. Da war ich sauer. Ich habe ihm gesagt, er braucht sie nicht zu kaufen, er solle sie sich einfach so nehmen. Das hätten die Deutschen schließ­lich schon einmal gemacht, sich Griechen­land einfach genommen…» Die Erinne­rung an die deutsche Besat­zung während des 2.Weltkriegs sitzt tief im histo­ri­schen Gedächtnis.

Wir kommen auf die Frage zurück, warum das linke Wahlbündnis Syriza im Endef­fekt die Wahl doch nicht gewinnen konnte. « Schuld sind vor allem die Medien – als die Regie­renden gemerkt haben, dass Syriza vielleicht die Wahl gewinnen kann, haben die mit einer großen Propa­ganda angefangen,» sagt Selina. « Dabei habe ich von Syriza nie gehört, dass es aus der EU raus will. Es hat auch nicht gesagt, dass das Land die Schulden nicht bezahlen will. Es wollte nur die Sparpa­kete neu verhan­deln. » Sie sagt, dass sich viele junge Leute außerdem sicher sind, dass es bei den Wahlen nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. « Nicht auf dem Land, wo jeder jeden kennt. Aber in den Städten. Da, wo die Stimmen mit Automaten ausge­zählt wurden. »

Dann spricht Selina die Nazis an, die mancher­orts in den Städten die Hegemonie auf den Straßen haben, nachdem sie zweimal Wahler­folge erzielen konnten. « Viele hatten Angst, dass bei einer Links­re­gie­rung noch mehr Migranten ins Land kommen. Da gab es Gerüchte. Ein Bekannter, eigent­lich ein Wähler der Konser­va­tiven, hat gesagt, er würde jetzt die Faschisten wählen. Ich war entsetzt und habe gefragt, was das soll, warum er nicht links wählt. Da hat er gesagt, weil er gelesen hätte, Syriza wolle auch noch alle Verwandten der Einwan­derer ins Land holen. »

Flücht­linge, Migranten und Migran­tinnen stranden in hoher Zahl in den griechi­schen Städten. In der aktuellen Krise bleibt ihnen oft gar nichts mehr zum Leben. Sie wollen dort gar nicht bleiben, sie wollen meist weiter : nach Deutsch­land oder nach Frank­reich. Die EU verhin­dert jedoch, dass die vielfach nach einer langen und trauma­ti­sie­renden Flucht in Griechen­land Angekom­menen weiter­reisen. So bleiben sie dort hängen. Und werden von vielen wirtschaft­lich und sozial Abgehängten als Konkur­renten um immer kleinere Krümel des Daseins wahrge­nommen.

Mit dem Rücken zur Wand.

Auf diesem Boden gedeiht die Hetze der griechi­schen Nazis der « Chrysi Avgi ». Sie bilden Bürger­wehren und verbreiten mit medialer Unter­stüt­zung ihre faschis­ti­sche Propa­ganda. Oft geniessen sie den Schutz der griechi­schen Polizei, die sich nach den Jahren der Militär­junta nie wirklich gewan­delt hat. Viele Polizisten sympa­thi­sieren offen mit der « Chrysi Avgi ».

« Wenn jemand ein Problem hat, dann kümmern sich die Nazis darum. Ich habe von einer Frau aus Belgien gehört, die in Saloniki eine Wohnung besitzt und dort Urlaub machen wollte. Als sie ankam, war die Wohnung aber von vier Pakistani besetzt », erzählt uns Selina eine Geschichte, die sie selber fast nicht glauben kann. « Die ist dort zur Polizei, doch die hat ihr nicht geholfen. Die Polizei hat gesagt, Staats­an­walt­schaft, Räumungs­klage und so weiter, das würde Wochen dauern. Die Frau wollte aber nur eine Woche bleiben, und so schnell konnte sie nicht nachweisen, dass ihr die Wohnung auch wirklich gehört. Da hat sie dann von einem eine Telefon­nummer bekommen. Da solle sie anrufen, man würde ihr helfen. Die Leute am anderen Ende des Telefons haben sie dann angeb­lich über das Wochen­ende in ein Hotel einquar­tiert, und gesagt, am Montag könne sie in ihre Wohnung. Die war dann tatsäch­lich leer und frisch renoviert. Das waren Nazis – die haben die Pakistani da rausge­prü­gelt…» Diese Geschichten hört man häufiger in Griechen­land. Und wenn sie stimmen, belegen sie, dass die Nazis über enorme finan­zi­elle Mittel verfügen.

Wir reden darüber, dass die griechi­sche Antifa inzwi­schen vielfach mit dem Rücken zur Wand steht. Dass außer ihr niemand mehr da ist, der Migran­tinnen und Migranten vor den Prügel­gruppen der « Chrysi Avgi » und den Greif­trupps der Polizei beschützt. In der letzten Zeit sind in den Städten hunderte Migranten und Migran­tinnen Opfer von Polizei­ope­ra­tionen wie « Xenios Zeu » («gastfreund­li­cher Zeus») geworden. Dabei machen die Beamten brutal Jagd auf « illegale » Einwan­derer, nehmen aber häufig jeden Menschen mit, der nicht griechisch aussieht. Unter­stüt­zung erfahren sie dabei von Schlä­gern der « Goldenen Morgen­röte ». Die Antifa wird derweil mit haltlosen Prozessen überzogen, willkür­lich einge­knastet und mißhan­delt. Inzwi­schen gehen vielen die Mittel für eine vernünf­tige juris­ti­sche Beglei­tung aus. Sie ist in ihrem Abwehr­kampf gegen die Nazis dringend auf unsere Solida­rität angewiesen.

Die Lage scheint verzwei­felt. Wir wollen wissen, wie es in Griechen­land weiter­gehen kann. Selina weiß es auch nicht.

Der Winter kommt. Die Bäume werden verbrannt.

« Manche sind total sauer. Die sagen, Selbst­mord käme für sie nicht in Frage. Wenn schon, dann müßte man zum Parla­ment gehen und noch möglichst viele von denen mitnehmen…» Es sind Geschichten wie die, die sie von ihrer Schwä­gerin hört, die ohnmäch­tige Wut erzeugen. Die hatte am Tag zuvor alte Freunde besucht. « Die bekommen zusammen nur noch 700 Euro Rente im Monat. Die müssen sich auch noch um ihre beiden arbeits­losen Kinder kümmern. Die Familie hat jetzt den Stecker vom Telefon gezogen – sie kann sich die Rechnung nicht mehr leisten. Und jetzt kommt erst der Winter. Das wird ein ganz großes Problem. Das Heizöl ist so teuer geworden. In der Höhe brauchen die Leute für den Winter bei den aktuellen Preisen etwa 6.000 Euro. Bei maximal 1.000 Euro Verdienst im Monat. Wie soll das gehen ? Deshalb haben die Bürger­meister in den Bergdör­fern jetzt Angst um ihre Wälder. Viele Bäume werden wohl verbrannt werden in diesem Winter. »

Es klingelt. Es ist jemand aus Griechen­land am Telefon. Als Selina zurück­kehrt, erzählt sie, worum das Gespräch ging : « Ein Freund. Ein ehema­liger Lehrer an der VHS Wuppertal, der vor zehn Jahren nach Griechen­land zurück­ge­gangen ist. Er hatte sich da als Alters­vor­sorge eine Wohnung gekauft. Jetzt überlegt er, wieder nach Deutsch­land zu kommen. Denn durch die neue Immobi­li­en­steuer – das ist die, die direkt von den Energie­ver­sor­gern einge­trieben wird – muss er für die Wohnung jährlich 800 Euro Steuern zahlen, ob er damit Einnahmen erzielt oder nicht. Und seine Mieterin - auch eine Bauin­ge­nieurin – hat seit Februar keine Miete bezahlt, weil sie kein Gehalt mehr bekam. Nun ist die Wohnung für meinen alten Freund nicht mehr bezahlbar. Er überlegt, sie zu verkaufen und zurück­zu­kehren. Mit inzwi­schen 61 Jahren ! »

Als wir uns von Selina und ihrem Mann verab­schieden, sind wir etwas ratlos.

Die Krisen­po­litik der EU hat längst Kurs auf neue Opfer genommen. Auf Portugal. Auf Spanien. Oder auf Italien. Dort sind viele jetzt auf der Straße. Zornig und entschlossen. Doch das waren die Griechen und Griechinnen anfangs auch. Es war auch ausblei­bende Solida­rität aus Deutsch­land, die dort die Menschen allein­ge­lassen hat. Aus dem Land, in dem die Haupt­ver­ur­sa­cher der Krise sitzen, kam viel zu wenig Unter­stüt­zung. Wenig war von den deutschen Gewerk­schaften zu hören und noch weniger aus der Politik.

Und in Deutsch­land regt sich noch immer nichts. Kein Mitge­fühl und kein Zorn auf die eigene Regie­rung, die im Inter­esse der Wirtschaft ganze Gesell­schaften ruiniert. Die Massen­de­mons­tra­tion und brutalen Polizei­ein­sätze in Spanien oder Italien rangierten in den letzten Wochen in der Wahrneh­mung noch immer unter « Vermischtes » – scheinbar unbetei­ligt wird beobachtet, ob sich das griechi­sche Drama nun in anderen Ländern wieder­holt. Oft scheint das neoli­be­rale Credo tief verin­ner­licht, nach dem sich jeder und jede selbst der oder die Nächste ist. Das so_ko_wpt akzep­tiert das nicht. Es trifft sich regel­mäßig und bereitet Veran­stal­tungen und Aktionen vor. Auf seiner Website wird vom Wider­stand gegen die neoli­be­rale Politik berichtet.

« Solida­rität mit dem Wider­stand - inter­na­tional, regional und lokal » steht oben auf der Seite. Wie sie organi­siert werden kann, darüber möchte das Soli-Komitee mit allen Inter­es­sierten reden. Die nächste Gelegen­heit dazu gibt es während des Nachbar­schafts­festes an der Gathe am 27.Oktober.

Wir können die Menschen nicht alleine lassen, dann würden wir uns selber alleine lassen.

Die Bilder stammen aus der Serie « learning to live with the crisis » von « space­shoe »
Das Titel­bild kommt von « popic­inio » ––– Alle Bilder stehen unter einer cc-Lizenz 2.0
Das Eingangs­zitat von Sonia Mitra­lias stammt aus einem Video, das wir Anfang 2012 dokumen­tiert haben.

Hinter­grund­infos und Berichte aus Griechen­land :
Gewerk­schafter aus vier verschie­denen Ländern waren in Griechen­land unter­wegs. Auf labournet haben sie ihre Eindrücke der Reise, die vom 15. bis 22. September 2012 dauerte, in einem Reise­ta­ge­buch geschil­dert :

www​.labournet​.de/​d​i​s​k​u​s​s​i​o​n​/​a​r​b​e​i​t​/​a​k​t​i​o​n​e​n​/​2​0​1​2​/​g​r​i​e​c​h​e​n​r​e​i​s​e​t​a​g​e​b​u​c​h​.​h​tml

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