Bericht vom Protestmarsch : „Wir sind unterwegs”

Judith hat sich aus Stras­bourg gemeldet. Hier ist ihr erster, gestriger Bericht vom „March 4 Freedom”, den Geflüch­tete und Unter­stüt­ze­rInnen heute – nach drei Aktions­tagen in Stras­bourg – beginnen und der sie bis zum 20.Juni nach Brüssel führen soll. Wir hoffen auf ein paar weitere Berichte von Judith, die wir euch dann hier zur Verfü­gung stellen können.

Eindrücke vom 2. Tag des Marsches für die Freiheit.
von Judith, Stras­bourg, 19.Mai

Beim Morgen-Plenum wird spontan beschlossen, mit ein paar Leuten zum hiesigen Abschie­be­knast zu fahren. Der heißt hier Centre de Reten­cion Adminis­trativ – es handelt sich also um „Verwal­tungs­haft“. Der Knast liegt ca. 10 Kilometer außer­halb Stras­bourgs, in der Nähe einer Autobahn. Um dorthin zu kommen, fährt man über einen kleinen Feldweg, vorbei an einem See ; ein unschein­bares Hinweis­schild weist den Weg zum Gefängnis. Das Ding ist tatsäch­lich im Wald versteckt – genau wie in Büren…

Als wir eintreffen, sehen wir Police Nacional vor dem Eingang. Der Hof ist offen einsehbar, liegt aber hinter zwei Zäunen von 7 bzw. 5 Meter Höhe. Der zweite davon ist NATO-Draht-bewehrt,  deshalb erinnert er mich an Melilla und Ceuta. Immerhin, wir können uns verstän­digen mit den Leuten auf dem Knasthof – zumin­dest dieje­nigen von uns, die Franzö­sisch sprechen.

Die meisten der Einge­knas­teten freuen sich über unseren Besuch, sie rufen und heben die Fäuste, als wir „Liberte pour le Sans Papier“ rufen. Es sind etwa 25 Leute inhaf­tiert, die meisten von ihnen sehr junge Männer, vielleicht sogar noch Jugend­liche. Wir erzählen Mohamed und Aliq - beide sind Anfang zwanzig - von dem Marsch und dass wir gekommen sind, um unsere Solida­rität mit ihnen auszu­drü­cken und um zu fragen, ob wir eine Botschaft von ihnen mitnehmen können. Onassis, mit dem wir uns kurz unter­halten, gibt uns mit auf den Weg „Die Freiheit ist unbezahlbar“.

Mohamed meint, dass sein Leben vorbei ist –  er ist seit 35 Tagen dort inhaf­tiert wie ein Krimi­neller, obwohl er nichts Krimi­nelles gemacht hat. Er braucht seine Freiheit, sagt er – hier drin stirbt er langsam. „Wir wollen frei sein und ein Leben führen können.“ Aliq ezählt uns, dass ihre Anwälte wohl kämpfen würden und alles versuchten, um sie rauszu­holen. Aber sie hätten keine Chance, weil die Richter alle schlecht seien.

Helen aus dem Kongo ist die einzige Frau in dem Knast. Auch sie ist noch sehr jung, seit 25 Tagen in Haft und sie meint, dass das was drin geschieht sehr sehr hart ist, Sie berichtet, dass sie sich die Wasch­räume mit den Männern teilen muss – es gibt trotz inhaf­tierter Frauen keine eigenen Frauen­du­schen. Es gibt auch an kalten Tagen kein warmes Wasser, keine Seife, nichts. Immerhin erfahren wir, dass die Haft in Frank­reich nicht länger als 45 Tage andauern darf : Danach sind die Leute entweder abgeschoben oder werden entlassen – jeden­falls bis zur nächsten Razzia.

Die Police Nacional schaut sich unseren kleinen Aufmarsch eher distan­ziert-gelassen an. Als wir aber darauf bestehen, dass ja Besuchs­zeit ist und wir unsere neuen Freunde drinnen besuchen wollen, lehnen sie dies ab unter Verweis auf „Sicher­heits­be­denken“. Wir beraten uns, beschließen dann, dass nur einzelne dort bleiben und die Leute drin besuchen, die meisten von uns fahren wieder zurück in die Stadt. Es ist jedesmal ein bitteres Gefühl, „Au Revoir” zu sagen und von einem Knast wegzu­fahren.

bannerSpäter auf der Place Kleber, dem größten zentralen Platz der Stadt : Ein langes Kunst­stoff­banner teilt den Platz in zwei Bereiche. Auf dem Banner sind – sofern bekannt – die Namen der 17.306 Mauer­toten der Festung Europa von 1993 bis 2012 dokumen­tiert, sortiert nach Todes­zeit­punkt und den Umständen des Todes – soweit diese überhaupt jemals in Erfah­rung gebracht werden konnten. Jedem der Toten werden 10 cm gewidmet, und das Banner scheint kein Ende zu nehmen.

Viele der Passanten scheuen sich, auf das Banner zu treten oder es zu überqueren. So gehen sie an ihm entlang und lesen. Dieje­nigen, die doch drüber laufen, tun das mit einer gewissen Scheu, linkisch und etwas unsicher. Es sind mir gut bekannte Namen auf dem Banner. Mohamed Rahsepar zum Beispiel ; sein Selbst­mord war der Anlass für den ersten Refugee Protest im April 2012. Oder zwei Männer aus Sierra Leone, direkt unter­ein­ander tauschen sie auf dem Banner auf, unter dem Datum vom 7.1.2005. Beide wurden von der deutschen Polizei umgebracht.

Die Aktivis­tInnen bemalen den sonnen­durch­flu­teten Platz mit Parolen, mit Slogans und Botschaften. Damit zumin­dest die Kreide­ma­lerei noch eine Weile nachwirkt. Morgen verlässt der Marsch die Stadt. Die Stimmung ist zuver­sicht­lich.

Wir sind unter­wegs.

Foto : @Thoma­sOc­cupy
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