Wupper Nachrichten vom 05.06.1993
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"Das waren anständige Leute"
Gerüchteküche nach dem Anschlag / Nachbarinnen entsetzt
Die türkische Familie Genc lebt seit 30 Jahren in Solingen. Das Haus an der Unteren Wernerstraße kaufte sie vom mühsam ersparten Gastarbeiterlohn vor ca. 12 Jahren, als Heim für eine Großfamilie. Zum Zeitpunkt des Anschlags sind 19 Bewohnerinnen gemeldet, ein Mädchen ist zu Gast. Das im Eingangsbereich unter Verwendung eines Brandstarters (wahrscheinlich Benzin) gelegte Feuer kostet fünf junge Frauen und Mädchen das Leben.
Drei sterben in den Flammen, ein Mädchen erliegt nach seiner Bergung den Verletzungen, eine Frau kommt bei einem Sprung aus dem Giebelfenster ums Leben, ihr Kind erleidet schwere Verletzungen. "Warum hat die Feuerwehr nicht ein Sprungtuch ausbreitet", fragen Leute, die sich am Tag nach dem Mordanschlag an dem Tatort einfinden, Fragen die auch über die Medien verbreitet werden. Der Oberstadtdirektor wird später für lles eine Erklärung haben. Er wird auch dementieren, daß die Feuerwehr erst 20 Minuten oder gar eine halbe Stunde nach dem ersten Anruf am Tatort war, wie an diesem Tag mehr als ein Nachbar behauptet.
Die Löschzüge in Solingen setzen keine Sprungtücher sondern Sprungpolster ein, die sich selbst aufblasen, Sie haben - so die Feuerwehr-den Vorteil geringerer Verletzungsgefahr und benötigen auch nicht "16 ausgebildete Kräfte", zum Zeitpunkt des Todessprungs standen nur 6 Feuerwehrleute zur Verfügung. Trotz der Zurufe der Feuerwehr und der Nachbarinnen, auszuharren, sprang die Frau und schlug mit dem Kopf auf den Beton. Das Kissen war noch nicht aufgeblasen, die Leiter noch nicht ausgefahren, aber die Frau hatte keine andere Wahl, "sie wäre verbrannt", wie Oberstadtdirektor Deubel sagt.
"Ich bin von den Schreien aufgewacht, ja, und dann hab' ich auf die Uhr geguckt und es hat 2O Minuten gedauert, bis die Polizei kam und die Feuerwehr. Ich hab' gedacht, mein Gott, warum kommt denn keiner und dann kam zuerst ein Feuerwehrauto und dann kam die Polizei und dann haben die versucht, da Wasser zu kriegen, aber bis die da erst mal suchen müssen, wo das Wasser ist, das dauert lange Zeit. Es war schlimm, es war wirklich schlimm", so eine Nachbarin am Nachmittag nach der Tat zu WN. Die Feuerwehr hatte erst später Gelegenheit, ihre Stellungnahme abzugeben: "In solchen Situationen werden Minuten zu Stunden", sagt später Oberstadtdirektor Deubel "Der Eindruck, die Feuerwehr habe nicht zügig gearbeitet, sitzt sehr tief, aber er ist nicht richtig. Jeder Einsatz der Feuerwehr wird exakt protokolliert, Über den objektiven Ablauf besteht vollständige Klarheit." Nach dem Bandmitschnitt soll das erste Löchfahrzeug fünf Minuten nach Eingang des ersten Anrufes eingetroffen sein, die erste Drehleiter nach sieben Minuten, weitere Fahrzeuge nach neun Minuten. "Bereits bei Eintreffen der ersten Kräfte stand das Haupthaus vom Erd- bis zum Dachgeschoß vollkommen in Flammen. Ein Eindringen war nicht mehr möglich", vermerkt das Feuerwehrprotokoll. Das Treppenhaus war bereits zusammengebrochen. Der Oberstadtdirektor hat türkischen Mitgliedern des Ausländerbeirates zugesichert, die Protokolle zu überprüfen.
Inmitten der properen Neubauten und Reihenhäuser wirkte das bergische Fachwerkhaus am Steilhang zum Bärenioch wie ein Relikt vergangener Tage Seit den frühen Morenstunden des 29. Mai ist es ein Mahnmal rassistischer Gewalt.
"In Solingen gibt es keine rechtsextreme Szene..." sagte der Oberbürgermeister im Fernsehen, eine Aussage, die längst überholt ist. Diejenigen, die sich auch in Solingen seit Jahren abmühen, eben diese Szene zu beobachten und zu bekämpfen, wissen: Solingen hat wie viele andere Städte auch eine mehrjährige Chronik faschistischer Aktivitäten vorzuweisen. Wiederholt war es vor allem in den letzten Monaten zu Anschlägen gekommen: auf ein türkisches Geschäft, auf eine Moschee. Es gibt langjährige Solinger Aktivisten neofaschistischer Organisationen, es gibt eine Szene rechter Jugendlicher, die bestimmte Treffpunkte aufsuchten. Mal soffen sie an einem Grillplatz im Bärenloch, Nachbarn erzählen von Gegröle und Pöbeleien. Die Medien haben daraus teilweise Wehrsportübungen gemacht oder den Eindruck eines regelrechten Faschistenlagers erweckt. So groß ist die bekannte Solinger Szene aber nicht und am Grillplatz im Bärenloch feierten auch Punker. Auch an einer nahegelegenen BP-Tankstelle traf man die Nazis des öfteren, am Abend vor der Tat wurden dort aufgrund der Kleidung der Naziszene zuzuordnende Jugendliche gesichtet. Bekannte Solinger Gesichter sollen nicht darunter gewesen sein, aber in der Antifa-Szene weiß man ohnehin von Verbindungen der hiesigen Rechten zu Düsseldorf und Langenfeld. Die Presse hat stattdessen in Wuppertal eine ,starke Naziorganisation" ausgemacht. Ähnlich desinformiert gibt sich die Polizei. Erst wollte sie von nichts etwas wissen, jetzt lautet die Entschuldigung: "Eine Glatze ist noch nicht zwangsläufig ein Straftäter". Die von den Brandanschlägen der letzten Monate betroffenen Türkinnen warten bis heute vergeblich darauf, daß ihre Anzeigen bearbeitet werden. Der Regierungspräsident hat eine Überprüfung dieser Sachverhalte zugesichert. Während überall in Solingen die Gerüchte kochen, hüllt sich die ermittelnde Bundesanwaltschaft weitgehend in Schweigen.Jetzt soll der festgenommene Jugendliche, der nahe am Haus wohnte, ein Einzeltäter gewesen sein. Kaum jemand vermag das zu glauben.
Eine Nachbarin gegenüber dem ausgebrannten Haus zu WN: "Wir haben zuerst den Krawall gehört. Aber das war öfter schon mal. Hier im Bärenloch treiben sich so viele herum, die Zoff machen und da dachte ich, mein Gott, machen die schon wieder so'n Krach - und da hab ich das Fenster aufgemacht und gehört: 'Ausländer raus'." Eine Frau aus der gleichen Wohnung: "Ich hab' da so Jugendliche gesehen, es waren fünf oder sechs, die standen hier an der Ecke an der Mülltonne, die hatten die Schuhe hochgebunden wie so Polizisten und die standen da an der Mülltonne und feixten nur..." "Die haben nicht geholfen?" "Ach nein, die haben zugeguckt und wir waren im Nachthemd, was sollen wir machen, wir zwei Frauen".
"Kannten Sie die türkische Familie?", frage ich die beiden Rentnerinnen. "Ja, die waren sauber, die waren freundlich, so liebe Menschen, das gibt's ja gar nicht. Das konnten wir uns nie denken, daß so 'was passiert. Die haben sich angepasst an uns Deutsche und waren wirklich freundlich." "Hatten Sie zu denen auch öfter Kontakte?" "Ja, das mein ich, ja, die haben gegrüßt und die sind mit den Kindern rumgefahren im Wagen, die blieben stehen und dann hat man ein bisschen gequatscht. Also ich kann nichts gegen die Türken sagen, wirklich nichts." ,Wie haben sich denn die anderen Nachbarn hier verhalten, als das Haus brannte?" "Die Nachbarn liefen auf die Straße und riefen um Hilfe. Und alle riefen, wo bleibt nur die Feuerwehr. In Morgenrock und Schlafanzug standen die da." "Haben die denn keine Leiter geholt?", frage ich nach der Hilfsbereitschaft der Nachbarn. "Doch, so eine Trittleiter, einer ist sogar rein gegangen, da unten in das erste Fenster, wo die Fahne ist, das haben die eingeschlagen und in dem Moment kamen die Flammen 'raus."
Ein anderer Nachbar ist erst vor drei Jahren hier her gezogen, aus Ostdeutschland. "Bislang haben wir die Ruhe hier geschätzt", sagt er, "aber das ist jetzt wohl erst mal vorbei." "Die türkischen Kinder von gegenüber waren sehr nett", sagt seine Frau, "auch zu dem Jungen." Der Sohn ist geistig behindert, jetzt weiß die Mutter nicht, ob sie ihn in Zukunft noch allein auf die Straße lassen soll, "wegen der Nazis". Den Zusammenhang, daß Nazis sich von dem Asylbeschluss haben ermutigen lassen, sieht der Vater nicht: "Das waren doch keine Asylanten, die waren hier seit Jahren gut integriert und anständig.." Wie er die Demonstrationen, die an diesem Samstag ja erst begonnen haben, findet? "Find ich gut, nur daß jetzt schon wieder Vermummte und Linksradikale auftauchen."
Schon am Samstag, bevor es zu den großen Protesten kommt, beherrscht dieser Vater jene Differenzierungen, die auch in den nächsten Tagen. das offizielle Bild dieser Stadt prägen werden: Linke sind es, die Krawalle machen. Stadt und Nachbarinnen sammeln Spenden, aus dem Erlös soll die Familie Genc, wenn sie in Solingen bleiben möchte, ein neues Haus erwerben können. Es sind schließlich keine ,Asylanten", sondern "Bürger dieser Stadt". Ein Differenzierungsvermögen, das die Täter offensichtlich nicht besaßen.