Eine Freundin von uns befindet sich zur Zeit in Süd-Kurdistan, also im nördlichen Irak, nur wenige Kilometer von Mossul entfernt. Die Millionenstadt Mossul wurde vor einigen Tagen von den radikal-islamistischen Milizen der « ISIL » («Islamischer Staat im Irak und der Levante») besetzt. Während die Situation im Irak nach anfänglicher Schockstarre der Medien inzwischen in den Top-Nachrichten und Sondersendungen angekommen ist, gibt es zur Lage in der autonomen kurdischen Region kaum Berichte. Dabei spitzt es sich auch in den kurdischen Gebieten insgesamt weiter zu. Wir haben uns daher entschlossen, aus den verschiedenen E-Mails unserer Freundin einen Bericht zusammenzustellen.
Nachdem die nahgelegene Millionenstadt Mossul in die Hand der radikal-islamistischen « ISIL » (ISIS) gefallen ist, ist die Situation in der gesamten Region extrem gefährlich. Durch den fluchtartigen Rückzug der irakischen Armee aus Mossul hat der Terror der islamistischen Kämpfer nun auch den Norden des Irak und die Grenze zur bislang einigermaßen stabilen Region des autonomen kurdischen Gebietes erreicht. Letzteres ist das Ziel zehntausender – die Medien sprechen von bis zu 500.000 – auf der Flucht befindlicher Menschen. Entgegen den Beteuerungen der « ISIL » fallen immer wieder auch Zivilisten den Terrorgruppen zum Opfer. Deren Ankündigung, die Menschen hätten « nichts zu befürchten, solange sie nicht Schiiten » seien, spricht nicht nur für einen unglaublichen Zynismus, sondern auch für eine menschenverachtende Ideologie. Ihre Bereitschaft zur brutalen Ermordung Unbewaffneter haben sie schon seit geraumer Zeit im benachbarten kurdischen Gebiet des bürgerkriegserschütterten Syrien («Rojava») unter Beweis gestellt. Immer wieder kam es in Rojava zu fürchterlichen Massakern an der kurdischen Zivilbevölkerung durch ISIS-Millizen. Die Mörder der ISIL/ISIS kommen auch aus Europa und Deutschland. Die Rekrutierungen laufen über soziale Netzwerke im Internet und bei regelmäßigen Veranstaltungen. Unsere Freundin stellte beim Betrachten der Bilder von der Besetzung Mossuls fest, dass ihr die Fahne der Islamisten erst kürzlich begegnet ist : Die Security des islamistischen Predigers Pierre Vogel trug bei seinem Auftritt in Wuppertal das gleiche Logo auf ihren Shirts.
Die Verteidigung der kurdischen Bevölkerung in Syrien musste dabei alleine von den Guerillas der YPG geleistet werden. Sie sind die Selbstschutzeinheiten der kurdischen Gebiete in Syrien. Die Peschmerga, die Streitkräfte des autonomen kurdischen Gebietes im Irak, hatten hingegen in der Vergangenheit versucht, sich möglichst aus den Konflikten in der Region herauszuhalten. Jetzt – nach der Flucht der regulären irakischen Armee – stellen die Peschmerga die einzige Schutzmacht für die Zivilbevölkerung des nördlichen Irak dar. Ungeachtet traditioneller Konflikte zwischen arabischer und kurdischer Bevölkerung des Nordirak versuchen auch viele arabischstämmige Flüchtlinge die Region um Arbil und Dohuk zu erreichen. Nachdem sie anfänglich die Grenze noch passieren konnten und größtenteils bei Familien und privat untergebracht wurden, haben die Peschmerga inzwischen begonnen die hereinströmenden Menschen aus Furcht vor einsickernden Islamisten zu kontrollieren. Die Folge sind lange Schlangen Wartender an der Grenze zwischen Irak und Süd-Kurdistan. Ein Teil der Geflüchteten lebt jetzt in hastig errichteten Zeltlagern. Viele mussten die knapp 100 Kilometer zwischen Mossul und Süd-Kurdistan zu Fuß zurücklegen, weil ihnen verboten wurde, ihre Autos mitzunehmen, oft haben sie wenig mehr mitnehmen können, als das, was sie gerade dabei hatten als die Milizen der ISIL in die Stadt kamen.
Die sich bislang blockierenden Verhältnisse auf kurdischer Seite – so ließ der Präsident der autonomen kurdischen Region im Irak, Masud Barzani von der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), in der Vergangenheit auch schon die Grenze zu Rojava für Flüchtlinge aus Syrien schließen – geraten jedoch in Bewegung. Die Rivalitäten zwischen der Autonomieregierung und den Strukturen in Rojava, die der kurdischen Arbeiterpartei PKK nahestehen sollen, treten angesichts der Lage in den Hintergrund. Nachdem unsere Freundin am Dienstag (10.06.) noch berichtete, ein Angebot der YPG an die Peschmerga zur gemeinsamen Verteidigung gegen die Islamisten sei ohne Antwort aus Süd-Kurdistan verblieben, wurde einen Tag später von der kurdischen Guerilla, die über bis zu 40.000 KämpferInnen verfügen soll, verlautbart, dass sie ab sofort zusammen mit den Peschmerga koordiniert die Verteidigung der kurdischen Bevölkerung in ganz Kurdistan übernommen haben. Das wurde wenig später auch in den Nachrichtensendungen Süd-Kurdistans offiziell bestätigt.
Die Überwindung der starken Rivalität zwischen der KDP Masud Barzanis und der PKK-nahen Guerilla YPG ist aufgrund der für Süd-Kurdistan dramatischen Lage wichtig. Auch wenn es dort noch nicht zu direkten Kampfhandlungen gekommen ist, stellt der Fall Mossuls ein ernstes Problem dar. Die gesamte Versorgung der Region ist von Wegen abhängig, die über Mossul führen und die deshalb die Hauptschlagader des autonomen kurdischen Gebietes sind. So berichtete unsere Freundin schon am Montag von ersten Engpässen in der Benzinversorgung, die kurz darauf tatsächlich zusammenbrach. Tausende Menschen befanden sich am Dienstag auf der vergeblichen Suche nach Treibstoff. Eingezwängt zwischen dem zunehmend umkämpften Mossul und der Türkei, sitzen die Menschen Süd-Kurdistans in einer Art Falle, denn über die Situation an der Grenze zur Türkei gibt es widersprüchliche Meldungen. Einmal heißt es, die Grenze sei in beide Richtungen geschlossen, ein anderes Mal wird das bestritten. Auch Berichte über erste Gefechte an der Grenze ließen sich von Süd-Kurdistan aus nicht bestätigen. Eine koordinierte kurdische Aktion und ein Versuch, die Versorgungswege nach Süden freizukämpfen scheint jedenfalls dringend notwendig. Erste Erfolge zeichnen sich ab, die Stadt Kirkuk soll inzwischen unter kurdischer Kontrolle stehen, es gibt allerdings auch erste ernsthafte Verluste bei den Peschmerga. Die Versorgungslage der Bevölkerung hat sich mittlerweile offenbar auch wieder etwas stabilisiert. In einer der letzten E-Mails aus der Region hieß es, dass zumindest Benzin wieder zu bekommen ist. Für die flüchtende Bevölkerung in den Auffanglagern spitzt sich die Lage jedoch, trotz einsetzender internationaler Unterstützung, täglich weiter zu.
Auch über die Möglichkeit eines militärischen Eingreifens der Türkei wird in Süd-Kurdistan zunehmend spekuliert, nachdem die Islamisten türkische Staatsangehörige als Geiseln genommen haben. Was ein solches Eingreifen für das autonome kurdische Gebiet im Nordirak und den kurdischen Abwehrkampf in Rojava bedeutete, ist nur sehr schwer einzuschätzen. Denn trotz einer in der Vergangenheit teils erstaunlichen wirtschaftlichen Zusammenarbeit Barzanis mit Erdogans AKP-Regierung gibt es ein tiefsitzendes Mißtrauen. Auf kurdischer Seite ist dies nicht zuletzt in einer bis vor kurzem fortgesetzten türkischen Unterstützung für die islamistischen Gruppen in Syrien begründet, einige sehen hinter der Entwicklung im Irak sogar einen türkischen Masterplan am Werk. Die Türkei wiederum fürchtet eine weitere kurdische Autonomie an ihrer Grenze. Die jetzt bekanntgewordene Zusammenarbeit von Peschmerga und YPG wird türkische Nationalisten auf den Plan rufen.
Die sich überschlagenden Ereignisse fallen in eine Zeit, in der die Entwicklung in der Region und in Kurdistan ohnehin an einen kritischen Punkt gelangt war – nur wenige Tage, nachdem der Waffenstillstand zwischen der türkischen Regierung und der PKK ernstlich infragegestellt wurde. Nachdem bei friedlichen Massenprotesten gegen die Errichtung neuer Militärstützpunkte in Kurdistan in Lice mehrere Demonstrierende durch das türkische Militär getötet worden waren, schien der « Friedensprozess » an ein Ende gelangt. Zunächst sah es zwar danach aus, dass der im Gefängnis auf der Insel Imrali einsitzende Führer der PKK, Abdullah Öcalan, die von der PKK-Leitung verkündete Mobilisierung der KämpferInnen bei einem Gespräch mit kurdischen Politikern mit einem Machtwort gestoppt habe. Doch nur einen Tag später gab es Gerüchte, dass dem Statement von Öcalan « draußen » nicht mehr geglaubt wird. Stattdessen sollen direkte Gespräche zwischen PKK-Führung und Öcalan gefordert worden sein – ohne die Vermittlung durch die kurdischen Parteien HDP und BDP. Bis zu solchen Gesprächen soll der Waffenstillstand nicht mehr gelten. Neben der kriegerischen Zuspitzung im Irak und dem fortgesetzten grausamen Krieg in Syrien droht also auch in der Türkei selber wieder eine militärische Auseinandersetzung zwischen türkischer Regierung und PKK. Ganz Kurdistan befindet sich also in einer explosiven Situation.
Bei alldem ist die Lage in den südkurdischen Städten derzeit fast surreal friedlich – trotz der zuvor geschilderten Probleme. Unsere Freundin schreibt von einem für sie nur schwer nachvollziehbaren Vertrauen auf die Stärke der Peschmerga und in die Regionalregierung. Uns bleibt für sie und die betroffenen Menschen in Kurdistan erstmal nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt ist.
Eine Ergänzung von heute mittag (15.06.):
Es berichten jetzt auch einige westliche Medien über die Reaktion der Peschmerga auf die Situation im Nordirak. Im Fokus steht dabei die Einnahme der Stadt Kirkuk durch die Peschmerga.
Aufgrund von existierenden Gebietsansprüchen durch die kurdische Autonomieregierung von Barzani und weil die irakische Armee die Stadt offenbar ohne jeden Widerstand und unter Hinterlassung ihrer schweren Waffen übergeben hat (so der Guardian), wird die Einnahme Kirkuks als eine „historische Gelegenheit” (The National) für „die Kurden” zur Eroberung des Gebietes geschildert.
Außen vor bleibt die in unserem Bericht geschilderte Notwendigkeit, die Versorgung der EinwohnerInnen Süd-Kurdistans (und der wohl bis zu 300.000 Flüchtlinge, die unter den Schutz der Peschmerga geflohen sind) – ebenso wie die Tatsache, dass die kurdischen Truppen erst dann tätig wurden, nachdem Mossul gefallen und die irakische Armee vor den ISIL-Milizen geflohen war.
Viel Platz erhölt allerdings die türkische Auffassung, das Gebiet um Kirkuk (mit großen Ölvorkommen) gehöre eigentlich zur Türkei. Die Ausgangspositionen, „die Kurden” notfalls auch militärisch wieder zurückzudrängen, werden also schonmal gezogen.