AntiRep 2 - Unberührbare Polizei, der neue §114

Das so_ko_wpt hat mit einem Infor­ma­ti­ons­abend am 28.3.in Wuppertal versucht, einige der für Deutsch­land derzeit wichtigsten repres­siven Entwick­lungen zusam­men­zu­fassen und zu einem Gesamt­bild zusammen zu fügen. Mit zwei Artikeln versu­chen wir eine thema­ti­sche Reflek­tion des Infoabends. (Teil 1 : Repres­sion hält sich nicht an Filter-Bubbles)

Wann wird es für den Staat opportun, seine repres­siven Werkzeuge anzuwenden, und warum bestimmt Sicher­heits­po­litik eigent­lich die politi­sche Tages­ord­nung ? Und wie müsste unsere Reaktion angesichts dessen ausfallen ? Am Beispiel des neuen §114, der so genannte „tätliche Angriffe gegen Vollstre­ckungs­be­amte und ihnen gleich­ge­stellte Personen” in Zukunft mit mindes­tens drei Monaten Knast sanktio­nieren soll, lassen sich einige grund­sätz­liche Überle­gungen anstellen ; und eine Betrach­tung erfol­gender Reaktionen von linker Seite auf das Geset­zes­vor­haben verweist auf einige eigene Irrtümer und einer damit einher­ge­henden Unfähig­keit angemessen zu reagieren. Diese Reaktionen reduzieren die Auswir­kungen des neuen Gesetzes meist auf ein Demons­tra­ti­ons­ge­schehen. Wer jedoch das staat­liche Motiv für dieses mit dem alten Wider­stands­pa­ra­gra­phen 113 symbio­tisch verknüpfte neue Gesetz verstehen will (das auch in der Rechts­wis­sen­schaft höchst umstritten ist), muss sich mit der Insti­tu­tion der Polizei und der ihr in der Gesell­schaft zugedachten Aufgabe beschäf­tigen (das Argument des Schutzes von Rettungs­diensten kann getrost beiseite gelassen werden ; gemeint ist die Polizei.)

Wenig erstaun­lich ist, dass es die weitver­brei­tete Meinung gibt, Rolle und Aufgabe der Polizei seien eigent­lich klar. Denn Lobby­ver­treter der Polizei und Medien arbeiten kräftig an einem einfa­chen Bild : Aufgabe der Polizei ist es, Verbre­chen aufzu­klären, zu verfolgen und möglichst zu verhin­dern. Die Polizei sei daher eine Insti­tu­tion für die „Sicher­heit” einzelner in der Gesell­schaft. Dementspre­chend laufen auch die öffent­li­chen Debatten um zu wenig Personal, zu alte Ausrüs­tung und zu wenig Befug­nisse ab. Referenz sind Einzel­fälle, beson­ders empörens­werte Fälle von krimi­nellen Handlungen und indivi­du­elle Bedro­hungs­sze­na­rien. Sugge­riert wird damit, „Polizei“ käme jedem zugute. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Entste­hungs­ge­schichte der Insti­tu­tion „Polizei” zeigt, dass es, als es – beispiels­weise in England oder in einigen Städten der USA – im 19. Jahrhun­dert zur Gründung einer zwischen Militär und selbst­or­ga­ni­siertem Schutz angesie­delten Insti­tu­tion „Polizei“ kam (vgl. dazu hier) gar nicht um eine Bekämp­fung von Verbre­chen ging. Die Notwen­dig­keit zur Gründung einer solchen Insti­tu­tion ergab sich aus einer rasanten Verän­de­rung der Städte zu Beginn der Indus­tria­lie­rung ; anwach­sende Bevöl­ke­rungen, die Umstruk­tu­rie­rung der Arbeit zur Lohnar­beit und das Entstehen einer neuen Klassen­ge­sell­schaft, die ein zuvor bestim­mendes, nachfeu­dales Stände- und Zünfte­system ablöste, führten in den großen Städten zu zuneh­menden Inter­es­sen­kon­flikten einzelner Bevöl­ke­rungs­gruppen mit anderen : Unter­neh­mens­be­sit­zern und Arbei­tern, Arbei­tern und Tagelöh­nern aber auch von Altein­ge­ses­senen mit neu in die Stadt drängenden Einwan­de­rer­gruppen.

Die Polizei wurde erfunden um die Stadtgesellschaft zu kontrollieren

Die zuneh­menden Zusam­men­rot­tungen und Streiks ließen sich mit bis dahin agierenden neben­be­ruf­li­chen, durch Land- oder Firmen­be­sitzer zusam­men­ge­stellte Truppen oder Freiwil­lige, die in einem meist rotie­renden System eine „Wächter­funk­tion” ausübten, nicht länger zuver­lässig unter Kontrolle bringen ; zumal nicht sicher war, ob sie in einem Konflikt nicht selber darüber entschieden, ob sie flüch­teten oder gar die Seite wechselten. Die neu geschaf­fene Insti­tu­tion Polizei sollte die (stadt-) gesell­schaft­li­chen „Neben­be­rufler“ deshalb durch haupt­be­ruf­liche Kräften ersetzen. Denn in Fällen, in denen die Kontrolle zu entgleiten drohte, wurde zur Bekämp­fung von Streiks und Aufständen zuvor im Notfall Militär einge­setzt, was oft zu gewalt­tä­tigen Einsätzen gegen die Menschen­mengen führte. Unter Strei­kenden kam es zu vom Militär getöteten Arbei­tern, was nicht selten eine noch größere Entschlos­sen­heit der Strei­kenden beim nächsten Mal auslöste. Die Kontrolle der neuen Stadt­ge­sell­schaften, die Aufrecht­erhal­tung der „Ordnung” und die Siche­rung der Klassen­ge­gen­sätze war lücken­haft. Die „Polizei” sollte diese Lücke füllen und zu einem effek­tiven, in der Regel aber weniger letalen Mittel werden, gesell­schaft­liche Konflikte einzu­hegen und möglichst schon vor dem Entstehen zu erkennen. Von Anfang an wurde die Polizei, anders als das beim kaser­nierten Militär möglich war, deshalb als eine im Alltag der Menschen veran­kerte Insti­tu­tion konzi­piert. Die Übertra­gung von Verbre­chens­be­kämp­fung von einer allge­meinen „Aware­ness” auf die neue Insti­tu­tion diente dazu als Vehikel. Wo zuvor wortwört­lich ein „Haltet den Dieb” zum kollek­tiven Versuch führte, eine Tat zu verhin­dern und bedrohtes Eigentum zu schützen, wendeten sich von Diebstahl Betrof­fene fortan an die im Viertel präsenten Polizisten. Sie wurden nach und nach zu den umgangs­sprach­lich noch lange präsenten „Schutz­män­nern“, die vor Ort in den Vierteln respek­tiert werden und so durch ihre Kennt­nisse und Kontakte frühzeitig von sich anbah­nenden gesell­schaft­li­chen Konflikten erfahren sollten.

Die Polizei befasst sich “mit Menschen­mengen, Wohnvier­teln, anvisierten Teilen der Bevöl­ke­rung – alles kollek­tive Einheiten. Sie mögen das Gesetz anwenden, um dies zu tun, aber ihre allge­meinen Richt­li­nien erhalten sie in der Form von Vorgaben ihrer Vorge­setzten oder aus ihrer Berufs­er­fah­rung. Die Direk­tiven haben regel­mäßig offen kollek­tiven Charakter – etwa die Kontrolle über ein wider­spens­tiges Viertel zu erlangen.” (aus „Origins of the police”)

Polizei” ist seit ihrer „Erfin­dung” als Ordnungs­faktor zur Einhe­gung von Menschen­mengen im öffent­li­chen Raum inten­diert. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, soll sie dieje­nigen die sich dort aufhalten, kontrol­lieren. Sie wurde dafür mit der Defini­ti­ons­macht ausge­stattet, darüber zu befinden, was die „Ordnung” öffent­li­cher Räume bedroht oder stört und was eben nicht. So aufge­fasst, sind viele Entschei­dungen heutiger Einsatz­lei­tungen oft weniger ideolo­gisch als system­im­ma­nent zu verstehen. Eine angemel­dete Demo ist nach Polizei-Defini­tion beispiels­weise zunächst nicht per se eine Störung der Ordnung des öffent­li­chen Raums, zählt zu ihr doch (leider) auch das Recht, in einem eng von der Polizei bestimmten Rahmen demons­trieren zu dürfen. Da eine Demo jedoch dennoch stets eine Gefähr­dung für die Ordnung darstellt, wird sie mit großem Einsatz beobachtet und begleitet. Der polizei­liche Rahmen wird bei „Class­less Kulla“ treffend so beschrieben : „Die Polizei legt fest, wer wann und wo demons­triert, welche Auflagen vorher laut vorge­lesen werden müssen, wann sich die Demo wie schnell bewegt und wann sie stehen­bleibt, wie die Betei­ligten gekleidet sind, wie groß ihre Trans­pa­rente sind, und in vielen Fällen auch, wann und wo die Demo endet.“ Gegen­de­mons­tra­tionen, zum Beispiel gegen einen angemel­dete Nazi-Aufmarsch, entspre­chen hingegen prinzi­piell nicht der polizei­li­chen Defini­tion eines „geord­neten” Ablaufs. Sie richten sich gegen die Ordnung der Ursprungs­kund­ge­bung und sie stören und bedrohen noch weiter die von der Polizei gesetzten Rahmen­be­din­gungen. Die Polizei betrachtet sie feind­lich und engt ihren Spiel­raum noch weiter ein. Diese, Alltag und Äußerungen eines Jeden (mit-) bestim­mende Rolle der Polizei wurde und wird freilich nicht von vornherein akzep­tiert. Um eine Insti­tu­tion zu imple­men­tieren, die defini­to­risch wie durch das ihr zugedachte „Gewalt­mo­nopol” ganz faktisch jeder­zeit bestimmen kann, wo öffent­li­cher Raum beginnt, wo er aufhört und wie sich belie­bige Situa­tionen in ihm zuzutragen haben, bedarf es neben einer entspre­chenden Gesetz­ge­bung einer weiteren, psycho-sozialen Voraus­set­zung : Sie benötigt beson­deres Ansehen und eine heraus­ge­ho­bene Stellung gegen­über den zu Kontrol­lie­renden. Sie benötigt den Respekt der Kontrol­lierten und im Konflikt­fall auch die Unter­stüt­zung der anderen im öffent­li­chen Raum Anwesenden.

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Aus Dutertes Phantasma lernen ? Veranstaltungsbericht Teil 2

Am 22. Januar startete unsere Veran­stal­tungs­reihe „Politik in der Rechts­kurve“ zum Wahljahr 2017 mit einer Veran­stal­tung, die sich mit bereits 2016 statt­ge­fun­denen Wahlen beschäf­tigte. Wir nutzten einen Besuch unseres in Manila lebenden Freundes, des Sozio­logen Niklas Reese (u.a. Heraus­geber des „Handbuch Philip­pinen“), um über den Wahler­folg Rodrigo Dutertes bei den philli­pi­ni­schen Präsi­dent­schafts­wahlen zu reden und dessen seit Sommer 2016 umgesetzte Politik des „Kriegs gegen Drogen“ näher zu betrachten. Unter anderem wollten wir wissen, ob es – bei allen Beson­der­heiten der philli­pi­ni­schen Politik – auch Gemein­sam­keiten des autori­tären Politik­kon­zepts Dutertes mit aktuellen rechten europäi­schen, bzw. US-ameri­ka­ni­schen Bewegungen gibt.

Unsere Erkennt­nisse aus der Diskus­sion mit Niklas Reese haben wir in zwei Berichten zur Veran­stal­tung aufge­schrieben. Im ersten Teil geht es um notwe­nige Infor­ma­tionen zur Politik Rodrigo Dutertes, in diesem zweiten Teil widmen wir uns mögli­chen Schlüssen daraus für die eigene politi­sche Arbeit.

Was lässt sich aus Dutertes Erfolg lernen ? Veranstaltungsbericht Teil 2

In den Philli­pinen regiert seit einem dreiviertel Jahr ein Präsi­dent mithilfe eines Phantasmas, nach dem Drogen­händler und Drogen­nutzer für fast alle gesell­schaft­li­chen Probleme des Landes verant­wort­lich sind. Bei der ersten Veran­stal­tung unserer Reihe „Politik in der Rechts­kurve“ hat der in Manila lebende Sozio­loge Niklas Reese ausführ­lich darüber berichtet. Mit seiner Art zur Etablie­rung eines autokra­ti­schen Systems ist Rodrigo Duterte sicher ein Vorreiter von Politik­kon­zepten, die auch in anderen Teilen der Welt Erfolge erzielen, in der Türkei, in den USA und nicht zuletzt auch in weiten Teilen Europas. Im zweiten Teil unseres Artikels beschäf­tigen wir uns mit der Frage, was wir aus Dutertes Erfolg lernen können, um ähnliche Erfolge rechter Politik zu verhin­dern.

Trotz aller Unter­schiede zu rechten oder „rechts­po­pu­lis­ti­schen“ europäi­schen oder US-ameri­ka­ni­schen Entwick­lungen – so präsen­tiert sich Duterte zum Beispiel als Vorreiter für sexuelle Selbst­be­stim­mung und Frauen­rechte und pflegt gute Bezie­hungen auch zu den musli­mi­schen Bevöl­ke­rungs­teilen auf Mindanao – zeigte der erste Vortrag unserer Reihe durchaus Paral­lelen zu politi­schen Entwick­lungen in Europa oder den USA auf. Nur vorgeb­lich „aus dem Nichts“ der Provinz kommend, hat Duterte bishe­rige Seilschaften und Sphären politi­schen Einflusses der von ihm so genannten „alten Eliten“ haupt­säch­lich deshalb aufmi­schen können, weil es seiner Kampagne gelang, eine auf ihn und sein Programm zugeschnit­tene Beschrei­bung der philli­pi­ni­schen Realität durch­zu­setzen. In der sind die „Elitisten“ identisch mit den „Feinden des Volkes“, zumin­dest paktieren sie mitein­ander. Dutertes ziemlich bizarre Erzäh­lung von der Verant­wort­lich­keit der Drogen­händler und -nutzer für alle gesell­schaft­li­chen Probleme ist dabei das Äquiva­lent jener Schimären, mit denen rechte Bewegungen in den USA oder in Europa komplexe Zusam­men­hänge auf einfache Verant­wort­li­chen­keiten und Schuld­zu­wei­sungen reduzieren. In ihren Parallel-Wirklich­keiten kann ein „Feind“ eindeutig benannt werden – um welchen es sich jeweils handelt, erscheint austauschbar. Die Konstruk­tion eines „Feindes” erfor­dert in jedem Fall „Lösungen“ die es erfor­der­lich machen können, zuvor allge­mein anerkannte Grenzen zu überschreiten. Die hallu­zi­nierte Bedro­hung für das gleicher­maßen hochsti­li­sierte wie anderer­seits auf eine handhab­bare definierte Größe reduzierte Gemein­wesen, wo man sich kennt und dem Handeln morali­sche Erwägungen zugrun­de­liegen, erfor­dert kollek­tive Vertei­di­gung. Dabei scheint es egal, ob es sich dabei um eine „Region”, eine „Nation”, „das Abend­land” oder eine Religion handelt. Demokra­ti­sche oder rechts­staat­liche Prinzi­pien sind dabei hinder­lich. Sie werden deshalb mit dem „Feind“ assozi­iert. Rodrigo Duterte sieht Menschen­rechts-NGOs als Teil einer westli­chen Verschwö­rung mit den Drogen­kar­tellen am Werk, Recep Tayip Erdogan unter­stellt der Presse, im Auftrag von „Terro­risten” zu berichten, für AfD und Pegida haben sich  „Gutmen­schen“ und „Lügen­presse” verschworen, den „Volkstod” zu betreiben.

Ein frontaler strategischer Angriff Gläubiger

Hinter den, die rechten Politik­kon­zepte befeu­ernden absurden Beschrei­bungen der Wirklich­keit verbirgt sich mehr als ein irres Phantasma. Sie sind ein frontaler strate­gi­scher Angriff auf Grund­rechte und Demokratie. In (West-) Europa oder den USA befindet sich dieser Angriff bislang noch im Stadium des Versuchs zur Durch­set­zung alter­na­tiver Reali­täts­be­schrei­bungen ; von vielen wird er bislang nicht als Strategie erkannt. In den Philli­pinen ist die Entwick­lung weiter­ge­diehen. Dort ist bereits zu erleben, wie der Umbau kollek­tiver Wirklich­keits­be­schrei­bungen und die daraufhin einge­lei­teten „Maßnahmen zur Vertei­di­gung des Vokes“, eine zuvor nur phanta­sierte Bedro­hung für die Bevöl­ke­rungs­mehr­heit nach und nach ganz real werden lassen. Die reale Verun­si­che­rung nähert sich sukzes­sive dem vorher nur sugge­rierten „gefühlten“ Bedro­hungs­sze­nario an. Die Lage der Einzelnen wird tatsäch­lich bedroh­lich, ohne dass sich die Betrof­fenen jedoch gegen jene wenden würden, die das ganze Szenario überhaupt erst erschaffen haben, wie aktuelle Umfragen in den Philli­pinen belegen. Ausschlag­ge­bend dafür ist die Wirkmäch­tig­keit des einmal etablierten Phantasmas ; die anwach­sende Unsicher­heit wird nicht auf die tatsäch­liche Bedro­hung, also auf Dutertes „Death-Squads“, zurück­ge­führt, sondern deren vorgeb­lich notwen­dige Härte ist vielmehr Ausweis der wachsenden Stärke und Bedroh­lich­keit des imagi­nierten „Volks­feindes“. Mithilfe des zur Wirklich­keit mutierten und zur Grund­lage staat­li­chen Handelns gemachten Phantasmas wird nach und nach die Lebens­wirk­lich­keit der Menschen real verän­dert. Die „Macht der Drogen­händler” wird als ursäch­lich für die eigene zuneh­mende Bedro­hung durch den „Krieg gegen Drogen” angesehen. Folge ist, dass außer­halb der alter­na­tiven Wirklich­keits­er­zäh­lung angesie­delte Alter­na­tiven zu noch größerer Härte und zu noch mehr Morden kaum noch vorstellbar sind. Beängs­ti­gend ist, mit welcher Geschwin­dig­keit dieser Prozess nach dem ersten Erfolg der Duterte’schen Erzäh­lung in den Philli­pinen ablief : Vom Phantasma vor der Präsi­dent­schafts­wahl bis zur tatsäch­li­chen Reali­täts­ver­än­de­rung dauerte es nur wenige Monate.

Eine Kritik an rechten Politik­kon­zepten, die sich haupt­säch­lich an den „verrückten Argumenten” oder an der vorgeb­li­chen Dummheit der damit Argumen­tie­renden festmacht, erweist sich deshalb als verhäng­nis­voll. Sie verkennt einfach , dass es einen „Plan” gibt und dass es sich um wohlüber­legte Strate­gien zur Umwäl­zung der Gesell­schaft handelt. Der Plan fußt nicht auf argumen­ta­tiver Ratio­na­lität, sondern auf Gläubig­keit. Dutertes Erzäh­lung von der „Schuld der Drogen­händler” basierte nie notwen­di­ger­weise auf Fakten, ebenso wenig wie die Behaup­tung einer Bedro­hung durch Migran­tInnen in Europa. beides wird schlicht geglaubt. Die Diffa­mie­rung zuvor glaub­wür­diger Quellen wie NGOs oder unabhän­giger Medien ist dabei kalku­lierter Teil der Strategie. Sie bereitet die Immuni­sie­rung der an die jewei­lige „alter­na­tive Realität” Glaubenden gegen jegli­chen Einwand vor. Dieser Irratio­na­lität Gläubiger argumen­tativ entge­gen­zu­treten ignoriert vollkommen, dass alle Versuche dazu beim Gegen­über glaubens­ver­stär­kend wirken, denn sie stellen eine Handlung „feind­lich einge­stellter Menschen“ dar, deren einziges Ziel es ist, das Erkennen der imagi­nierten „Wahrheit“ zu verhin­dern. Basis dafür ist ein empfun­denes „Innen” und ein abgren­zend definiertes „Außen”. Religiöse Sekten funktio­nieren genauso. Wer die Glauben­grund­sätze zu diskus­si­ons­wür­digen Meinungen gesell­schaft­li­cher Diskurse macht, besorgt daher das Geschäft der rechten Strategen. Die Kontra­henten einer Diskus­sion werden im Glauben bestärkt aus der Debatte hervor­gehen, gleich­zeitig werden ihre Thesen für neutra­lere Betei­ligten mehr und mehr zu norma­li­sierten Debat­ten­bei­trägen. Auch das ist rechtes Kalkül : Es geht nicht darum, dass die neutra­lere Betei­ligten – die sich gerne „unpoli­tisch“ oder „nicht rechts und nicht links“ nennen – anfangen, den Glauben zu übernehmen. Vielmehr sollen sie durch die vorge­tra­genen diffe­rie­renden „Fakten“ zuneh­mend verun­si­chert werden. Am Ende soll möglichst niemand mehr wissen können, was denn nun stimmt. Dieses Verwi­schen und unkennt­lich machen gehört zur rechten Diskurs­stra­tegie : Die „Neutralen“ sollen so aus Diskus­sionen heraus­ge­halten und wortwört­lich „neutra­li­siert” werden.

Wo es kein „Vorwärts“ mehr geben darf, bleibt nur ein „Zurück“

Die „alter­na­tiven Reali­täts­be­schrei­bungen” diskursiv zu ignorieren, heißt freilich nicht, die Ursachen ihrer zuneh­menden Akzep­tanz auszu­blenden. Es ist notwendig, sich mit den Gründen für den Erfolg hallu­zi­nierter „Parallel-Reali­täten“ zu beschäf­tigen. Das passiert scheinbar auf allen Kanälen und in jeder zweiten Talkshow. Doch die angegrif­fenen Gesell­schaften offen­baren bei den Debatten um die Gründe für den Erfolg der von ihnen so genannten „Populisten” einen blinden Fleck, der sie im Zweifel die inhalt­liche Diskus­sion einer analy­ti­schen vorziehen lässt. An zu vielen Stellen befinden sie sich selbst in Erklä­rungsnot – ein Großteil des Bestehenden basiert seiner­seits auf nicht-fakti­schen, „alter­na­tiv­losen” Reali­täts­be­schrei­bungen. Während es der so genannten „Elite“ der Philli­pinen nie gelang, weit verbrei­tete große Armut als Folge von Korrup­tion und herrschenden neoli­be­ralen Verhält­nissen wahrzu­nehmen, haben die europäi­schen Gesell­schaften ihre blinden Flecken, wenn es beispiels­weise um eigene Verant­wort­lich­keiten für weltweite Flucht­ur­sa­chen geht und konkret hilfreiche Gegen­maß­nahmen einzu­leiten ; also Waffen­handel zu stoppen oder wirklich wirtschaft­lich fair zu handeln. Die Verla­ge­rung der Probleme von den Flucht­ur­sa­chen auf die Flüch­tenden bietet sich so zwangs­läufig an. Anfäl­lig­keit für einfache Reali­täts­kon­struk­tionen kann auch eine Flucht vor dem Anerkenntnis eigener Verant­wor­tung sein. Dass Mittel­schichten angesichts fehlenden Problem­be­wusst­seins und fehlender wirkli­cher Lösungs­an­sätze in beson­derem Maß für einfache Reali­täts­be­schrei­bungen anfällig sind, ist demnach weniger einer immer wieder von Politik und Medien angeführten „Angst vor einem Absturz“ geschuldet, sondern vielmehr Ausdruck eines nicht einge­stan­denen Wissens um eigene Verant­wort­lich­keit und der eigenen Unfähig­keit, daraus Konse­quenzen zu ziehen. Die Mär von der „Absturz­angst” perpetu­iert vielmehr die eigene alter­na­tiv­lose Erzäh­lung neoli­be­raler Gesell­schaften : Für ihre Politik und Medien ist es einfa­cher zu behaupten, Menschen hätten Angst vor einem gesell­schaft­li­chen Abstieg als real vorhan­dene Ängste vor notwen­digen Verän­de­rungen anzuspre­chen. Ohne eine Thema­ti­sie­rung der Ursachen tatsäch­lich bestehender Probleme können die attakierten bürger­li­chen Schichten für uns  jedoch keine Hilfe im Kampf gegen eine „Politik in der Rechts­kurve“ sein.

Und noch etwas bleibt oft ausge­blendet : Die Rückkehr des Natio­nalen und der einfa­chen Wirklich­keits­be­schrei­bungen sind auch Ausdruck zuvor geschei­terter Aufbrüche und geschei­terter Alter­na­tiven. Selten wird bei der Erfor­schung von Ursachen aktueller Entwick­lungen auf das geschaut, was vor einer Genera­tion die heute handelnden Personen (mit-) geprägt hat. Es ist sicher kein Zufall, dass die Wieder­kehr offen autori­täter Politik in den Philli­pinen möglich war, nachdem eine Genera­tion das Schei­tern der mit dem Sturz von Ferdi­nand Marcos vor gut dreissig Jahren verbun­denen Hoffnungen ihrer Eltern erlebte, oder dass es auch in den osteu­ro­päi­schen Ländern wie Polen, Rumänien oder der Slowakei eine „Nach-Aufstands-Genera­tion“ ist, die sich natio­na­lis­ti­schen und einfa­chen Denkmus­tern zuwendet. Auch das Schei­tern vieler, mit großen Hoffnungen verbun­dener Aufbrüche ist mit dem Beharren herrschender Gesell­schafts­schichten auf das Bestehende eng verbunden. Vielfach haben sie schnell direkte und indirekte Wege gefunden, ihre Macht zu erhalten und aus vorgeb­li­chen Befrei­ungen und Umgestal­tungen ledig­lich eine Neuauf­lage des Alten zu machen. Zu viele, einer Zukunft zugewandte Versuche wurden schlei­chend wirtschaft­lich oder ganz brutal mit Tränengas und Gummi­ge­schossen auf der Straße beendet. Die Anfäl­lig­keit für in der Vergan­gen­heit angesie­delte Verspre­chen darf vor diesem Hinter­grund nicht überra­schen. Wenn diese Hypothese zutref­fend ist, lässt sie angesichts der fortge­setzten Reihe geschei­terter und verra­tener Revolten in den letzten Jahren (etwa im so genannten „arabi­schen Frühling“) Böses erahnen. Eine fundierte linke und kriti­sche Ausein­an­der­set­zung mit den geschei­terten Aufbrü­chen ist deshalb überfällig. Die derzeit dring­lichste Frage bleibt jedoch, wie die Durch­set­zung rechter Wirklich­keits­be­schrei­bungen durch­kreuzt werden kann und wann es für einen Kampf um vermeint­liche Mehrheiten zu spät sein könnte. Wenn die bürger­li­chen Mitte im zuvor geschil­derten Sinn „neutra­li­siert” ist, kann es nicht mehr um Mehrheiten gehen. Es geht dann um kriti­sche Massen. Angesichts der Hochge­schwin­dig­keit, mit der Autokraten dem Ausbau und Erhalt ihrer Macht dienende Maßnahmen durch­setzen, besteht die Gefahr, den Zeit für Strate­gie­wechsel zu verpassen : Sowohl die Philli­pinen als auch beispiels­weise die Türkei sind in sehr kurzer Zeit von Ländern mit ´hohem Wider­stand­po­ten­tial zu in weiten Teilen paraly­sierten Gesell­schaften geworden. Auf dem Weg dahin wurden jeweils mehrere Linien überschritten, von denen kurz zuvor noch angenommen wurde, dass ihr Überschreiten entschlos­senen Wider­stand auslösen würde.

Inzwi­schen ist in beiden Ländern eine „Exit“-Perspektive jenseits katastro­phaler wirtschaft­li­cher oder gewalt­samer Entwick­lungen kaum noch denkbar. Doch wann erreicht eine einmal von rechts etablierte Wirklich­keits­ver­zer­rung den „point of no return“ jenseits zivil­ge­sell­schaft­li­cher Korrek­tur­mög­lich­keiten ? Reicht ein Wahlsieg aus, oder müssen erst Maßnahmen wie Massen­tö­tungen in den Philli­pinen oder Massen­ver­haf­tungen wie in der Türkei begonnen haben ? Welche konkreten Schritte sind es, die  rechte Herrschaft so absichert, dass eine Opposi­tion sich und ihre Aktivi­täten neu definieren muss ? Sicher ist, dass der Prozess ein schlei­chender ist und dass es vor Errei­chen des „point of no return“ kein lautes „Alerta!” geben wird. Die Beispiele von erfolg­reich umgesetzten rechten Strate­gien können unsere Wahrneh­mung schärfen. Unsere Veran­stal­tungs­reihe wird fortge­setzt.

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