Wahn und Wirklichkeit Dutertes - Veranstaltungsbericht Teil 1

Am 22. Januar startete unsere Veran­stal­tungs­reihe „Politik in der Rechts­kurve” zum Wahljahr 2017 mit einer Veran­stal­tung, die sich mit bereits 2016 statt­ge­fun­denen Wahlen beschäf­tigte. Wir nutzten einen Besuch unseres in Manila lebenden Freundes, des Sozio­logen Niklas Reese (u.a. Heraus­geber des „Handbuch Philip­pinen”), um über den Wahler­folg Rodrigo Dutertes bei den philli­pi­ni­schen Präsi­dent­schafts­wahlen zu reden und dessen seit Sommer 2016 umgesetzte Politik des „Kriegs gegen Drogen” näher zu betrachten. Unter anderem wollten wir wissen, ob es – bei allen Beson­der­heiten der philli­pi­ni­schen Politik – auch Gemein­sam­keiten des autori­tären Politik­kon­zepts Dutertes mit aktuellen rechten europäi­schen, bzw. US-ameri­ka­ni­schen Bewegungen gibt.

Unsere Erkennt­nisse aus der Diskus­sion mit Niklas Reese haben wir in zwei Berichten zur Veran­stal­tung aufge­schrieben. Im ersten Teil geht es um notwe­nige Infor­ma­tionen zur Politik Rodrigo Dutertes, im zweiten Teil widmen wir uns mögli­chen Schlüssen daraus für die eigene politi­sche Arbeit.

Dutertes Phantasma – Veranstaltungsbericht Teil 1

Der philli­pi­ni­sche Präsi­dent Rodrigo Duterte ist sicher soetwas wie ein Vorreiter wahnhafter Politik­in­sze­nie­rungen zur Etablie­rung eines autokra­ti­schen Systems. Sein Konzept, das das Wirken von Drogen­händ­lern und -nutze­rinnen für fast alle Probleme der philli­pi­ni­schen Gesell­schaft verant­wort­lich macht, führte Mitte 2016 zu seinem Sieg bei den Präsi­dent­schafts­wahlen. Der in Manila lebende Sozio­loge Niklas Reese war im Januar zu Gast bei der ersten Diskus­sion unserer Reihe „Politik in der Rechts­kurve“.

Kurz nach unserer Diskus­sion mit Niklas Reese im Wupper­taler „ADA“ verkün­dete Duterte, er beabsich­tige nunmehr, seinen ursprüng­lich bis März 2017 ausge­ru­fenen „Krieg gegen Drogen“ bis zum Ende seiner Amtszeit im Jahr 2022 zu verlän­gern. Die bishe­rige Quote extra­legal Hinge­rich­teter hochge­rechnet, ist diese Ankün­di­gung für mindes­tens 60.000 Menschen gleich­be­deu­tend mit einem Todes­ur­teil. In den sieben Monaten seit seiner Wahl kam es in den Philli­pinen zu 7.500 Morden an angeb­li­chen „Drogen­händ­lern“, aber auch vermeint­li­chen „Drogen­süch­tigen“. Ob es sich bei den ermor­deten um Menschen handelt, die mit Drogen etwas zu tun haben, ist oft völlig unklar, sagt Niklas Reese. An den Leichen, die jeden Morgen in den Straßen Manilas liegen, wird häufig ledig­lich ein Zettel mit einer entspre­chenden Behaup­tung hinter­lassen.

Laut Niklas Reese werden die „extra­le­galen Hinrich­tungen” sehr häufig von Polizisten begangen, die sich mit den Exeku­tionen eine Prämie verdienen. Nachdem es einen Skandal um einen irrtüm­lich ermor­deten südko­rea­ni­schen Geschäfts­mann gab, hat Duterte jedoch inzwi­schen Umstruk­tu­rie­rungen im Hinrich­tungs­busi­ness angekün­digt. Er versucht damit, sich Teilen der hochkor­rupten Polizei zu entle­digen. Zukünftig könnte teilweise auch die Armee den Job machen. Doch im Geschäft mit extra­le­galen Tötungen sind ohnehin auch noch andere Gruppen tätig : Rivali­sie­rende Gangs entle­digen sich unter dem Deckmantel des „Kriegs gegen Drogen” ihrer Wettbe­werber, und auch „einfache Leute denken jetzt, dass Töten die schnellste und effizi­en­teste Art ist, mit Problemen fertig zu werden,“ zitierte Niklas Reese Ana Marie Pamin­tuan, Kolum­nistin des „Philip­pine Star“. Ein Straf­rechts­system, das selbst bei Morden ohne Kläger oder Klägerin keine weiteren Ermitt­lungen vorsieht, macht die Willkür- und Selbst­justiz relativ risikolos. Schließ­lich können poten­ti­elle Kläger selber zum nächsten Opfer werden, wenn die Gefahr besteht, dass sie eine Tat zur Anzeige bringen.

Dutertes „Krieg gegen die Drogen“ ist planmäßig organi­siert. „Jedes Stadt­viertel ist angehalten, eine Liste mit den mutmaß­li­chen Drogen­ab­hän­gigen und Dealern der Gegend anzufer­tigen. Wenn sich nicht genügend Verdäch­tige finden lassen [um die vorge­ge­bene Quote zu erfüllen], sehen sich die Ortsvor­steher gezwungen, die Liste mit anderen aufzu­füllen“, beschreibt Niklas Reese die hierar­chi­sche Organi­sa­tion der Arbeit der Todes­schwa­drone. Die Armen­viertel werden durch­kämmt, Bewoh­ne­rInnen bei „Besuchen“ von der Polizei einge­schüch­tert und gewarnt, sie könnten „die nächsten“ sein. Über sechs Millionen Häuser hat die Polizei bereits aufge­sucht. Ihre „Erfolge“ werden öffent­lich ausge­stellt. Duterte und die Polizei­füh­rung sind stolz auf die Morde : An Manilas Police-Headquarter wird die Zahl getöteter „Drogen­händler“ großfor­matig an der Fassade verkündet und regel­mäßig aktua­li­siert. Wer das Glück hat und nicht getötet wurde, wird verhaftet. Etwa 50.000 Menschen sind so in Gefäng­nisse verschleppt worden, die hoffnungslos überfüllten Kerkern ähneln.

Eine Million Filipinos hat sich bereits „ergeben”

Im Klima der Angst haben es viele vorge­zogen, sich selbst zu bezich­tigen. Ein Prozent der Gesamt­be­völ­ke­rung, eine Million Filipinos also, hat sich so inzwi­schen der Polizei „ergeben“, wie es in der vorherr­schenden Kriegs­rhe­torik heißt. Der „Krieg“, in den Rodrigo Duterte die Bevöl­ke­rung geführt hat, richtet sich vorgeb­lich gegen einen von der Drogen­mafia kontrol­lierten Staat und gegen die, „die das erkannt haben und jenen, die nicht wollen, dass die Mehrheit klarsieht“, wie Reese das Feind­bild der Regie­rung beschreibt. Ihre Feinde sind alte „Elitisten“, westliche Regie­rungen und auslän­disch kontrol­lierte NGOs, die durch ihr Verhalten den von Duterte mit seinem Wahlslogan propa­gierten „wirkli­chen Neuan­fang“ angeb­lich verhin­dern wollten. Menschen­rechts­ak­ti­vis­tinnen und Rechts­an­wälte, die bereit sind, sich der Bedrohten anzunehmen, wird mit ihrer Ermor­dung gedroht – indem sie sich um die Verdäch­tigen kümmerten, verzö­gerten sie schließ­lich die Lösung des Drogen­pro­blems. Im Zweifel wird auch ihnen vorge­worfen, direkt in den Handel mit Drogen verstrickt zu sein.

Duterte ist es gelungen, im Laufe einer disney­land­haft für Soziale Medien und Boule­vard­presse konzi­pierten Wahlkam­pagne das Drogen­pro­blem zur Wurzel allen Übels zu machen. Seine Wahl etablierte dieses Phantasma dann quasi als „Wahrheit”. Für Dutertes Anhän­ge­rInnen führt nur die Lösung des Drogen­pro­blems zur Lösung der Probleme der Philli­pinen ; denn erst, wenn alle Drogen­händler getötet seien, könne sich Duterte erfolg­reich um alles andere kümmern. Soziale Ungleich­heit und oligar­chi­sche Struk­turen verschwänden, wenn erst das Ursprungs­pro­blem der Drogen­sucht gelöst sein würde. Die Zahl der zu Tötenden bezif­ferte Duterte schonmal auf insge­samt vier Millionen Menschen ; eine Zahl, die Duterte zu Respekt­be­zeu­gungen für Adolf Hitler bewegte, der ein Problem in ähnli­cher Größen­ord­nung ja schon zu lösen versucht hätte. Die ständige Wieder­ho­lung falscher Tatsa­chen durch ihm ergebenen Medien im Wahlkampf erzeugte in den Philli­pinen eine regel­rechte Panik. Der Zahl von vier Millionen Drogen­ab­hän­gigen steht beispiels­weise die Erhebung der Drogen­be­hörde gegen­über, die selbst nur von knapp zwei Millionen Betrof­fenen spricht. Auch die Behaup­tung Dutertes, unter seinem Amtsvor­gänger Aquino habe sich die Krimi­na­li­tätziffer verdrei­facht und Drogen­ab­hän­gige seien für 75% der schweren Verbre­chen verant­wort­lich, hält keiner Überprü­fung stand.

Doch die perma­nente Wieder­ho­lung „alter­na­tiver Fakten“ und die daraus abgelei­tete Möglich­keit, Schul­dige in Form der Drogen­händler und -nutzer für alle Übel der philli­pi­ni­schen Gesell­schaft präsen­tieren zu können, funktio­nierte erstaun­lich gut. Noch 2015 machten sich laut Umfragen des Insti­tuts „Pulse Asia“ nur 30% der Filli­pinos Sorgen, sie könnten Opfer eines Verbre­chens werden ; die Bekämp­fung von Krimi­na­lität gehörte nur für 20% der Befragten zu den drei wichtigsten Aufgaben philli­pi­ni­scher Politik. Vor der Wahl Mitte 2016 waren es dann schon 50% der Wahlbe­rech­tigten. Duterte war es offen­kundig gelungen, im Verlauf eines Jahres die Agenda der philli­pi­ni­schen Politik neu zu bestimmen. Die Erzäh­lung von der „Schuld” margi­na­li­sierter Süchtiger war erfolg­reich – Armut und „Charak­ter­lo­sig­keit“ galten nicht länger als wesent­liche Ursachen für Krimi­na­lität. Weder von Duterte geäußerte brutale Verge­wal­ti­gungphan­ta­sien noch seine Behaup­tung, als ehema­liger Bürger­meister der Stadt Davao selber Morde begangen zu haben, führte zur einer Zurück­wei­sung seiner Konstruk­tion der philli­pi­ni­schen Realität. Bis heute hält die Wirkmäch­tig­keit der kollek­tiven „Gehirn­wä­sche“ an.

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Bericht aus dem NoBorder-Camp in Thessaloniki

Inter­view mit der w2wtal-Aktivistin Judith. Sie war im Juli im NoBorder-Camp im griechi­schen Thessa­lo­niki. Das NoBorder-Camp, für das die Uni in Thessa­lo­niki besetzt wurde, war als trans­na­tio­naler Aufbruch gegen die „Festung Europa“ gedacht. Es sollte Aktivis­tInnen aus vielen Ländern und Geflüch­tete zusam­men­bringen.

Inter­view übernommen von w2wtal.

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Judith, du bist im No Border Camp in Thessa­lo­niki gewesen, wie war es ?

Über die zehn Tage verteilt waren viele Leute da, um die 1.500. Das ist ja immer ein Kommen und Gehen. Anfangs dachte ich, dass es ein eher deutsches Camp wird, doch dann kamen immer mehr Leute aus verschie­denen Ländern des Balkan und am Montag kam die große Karawane aus Spanien mit mehreren hundert Leuten, die mit Bussen angereist sind. Die hatten unter­wegs noch einige Aktionen gemacht und kamen dann am vierten Camp-Tag in Thessa­lo­niki an. Dann wurde es tatsäch­lich ein richtig inter­na­tio­nales Camp.

Wo war das Camp unter­ge­bracht ?

Auf dem Campus der Uni in Thessa­lo­niki, eigent­lich mitten in der Stadt.

Gab’s Trouble mit den Cops ?

Erstaun­lich wenig. Es ist tatsäch­lich so, dass die den Campus nicht betreten. Deren Arbeit machen eher die dort anwesenden Drogen­dealer, die oft als Spitzel für die Cops arbeiten, wie uns die griechi­schen Genos­sinnen erzählt haben. Die haben auch oft versucht, ins Camp zu kommen und auch an Workshops teilzu­nehmen. Das wurde aber nicht zugelassen.

Waren auch Refugees im Camp ?

Nachher waren es ziemlich viele. Darum wurde sich sehr bemüht, es wurde z.B. ein Shuttle mit PKWs einge­richtet, damit die Geflüch­teten aus den elf Lagern, die um Thessa­lo­niki herum existieren, ins Camp kommen konnten. So waren nach zwei, drei Tagen viele Menschen aus Syrien, Pakistan oder Afgha­ni­stan dabei. Die haben dann vom Leben in den Lagern berichtet, Wandzei­tungen erstellt und es gab auch mehrere Veran­stal­tungen zu Migran­tinnen-Selbst­or­ga­ni­sa­tion.

Gab es von den Refugees Einschät­zungen zur Gesamt­lage, nachdem die Grenzen in Europa geschlossen wurden ?

Die, mit denen ich redete, haben alle gesagt, wir müssen uns jetzt selbst organi­sieren. Inter­es­sant war auch die Perspek­tive der griechi­schen Genossen, bzw. der Refugees, die schon länger in Griechen­land leben. Die sehen natür­lich, das sich die Geflüch­teten vor allem jetzt eine Basis, z.B. ökono­misch, aufbauen müssen oder unbedingt Wohnraum brauchen.

Vom griechi­schen Staat gibt es da nichts ? Wohnungen z.B.?

Nee, die Unter­brin­gung erfogt rein privat, u.a. in Squats, in die Geflüch­tete einziehen. Auch während des Camps wurde in Thessa­lo­niki ein Haus besetzt*. Es sind ziemlich viele Häuser besetzt – in Athen z.B. das City Plaza Hotel, das « beste Hotel der Welt », wo mehrere hundert Leute leben. Von denen gab es auch nen Workshop während des No Border Camps.

Von der Hausbe­set­zung und auch von der Beset­zung der Fernseh­sta­tion zu Beginn haben wir auch hier etwas mitbe­kommen, was ist an Aktionen rund ums Camp noch so gelaufen ?

Es gab ein « Go-In » in der IOM (eine inter­na­tio­nale Migra­tions Organi­sa­tion), da sind u.a. ein paar Computer und Akten aus dem Fenster geflogen. Genaues kann ich dazu nicht sagen, ich weiß nur, dass die IOM reich­lich verhasst ist, weil die an Abschie­bungen bzw. an « freiwil­ligen Rückfüh­rungen » betei­ligt ist.

Ansonsten gab es Demos und Besuche von Camps – zu einem Besuch eines Camps in Oreokastro hast du ja auch einen Bericht verfasst…

Da gab es mehrere. Da wurden Busse gechar­tert, da sind dann Leute aus dem Camp hinge­fahren, einmal um die Situa­tion zu erfahren, aber auch um z.B. die Campzei­tung, die auf griechisch, englisch und arabisch erschienen ist, zu den Geflüch­teten in die Camps zu bringen. Die sollten ja auch auf das Camp aufmerksam gemacht und zur Betei­li­gung einge­laden werden. Das haben dann auch einige wirklich wahrge­nommen und sich betei­ligt. Deswegen waren so ab Montag eben auch recht viele Refugees im Camp : Familien, Frauen und vor allem viele Kinder. Sehr viele Kinder.

Die Demos haben in Thessa­lo­niki statt­ge­funden ?

Ja. Es gab aller­dings auch mehrere Demos an den beiden Abschie­be­knästen und dann gab es natür­lich die größere Aktion an der türkisch-griechi­schen Grenze am Samstag, wo es auch zu kleineren Riots gekommen ist. Da war ich aller­dings selber nicht dabei, deswegen kann ich dazu nicht viel erzählen.

Wie fällt insge­samt deine Einschät­zung zum Camp aus ? Was war für dich in den zehn Tagen das Positivste ?

Für mich war das Wertvollste sicher, die Aktivis­tinnen aus verschie­denen Ländern kennen­zu­lernen, und Kontakte zu Ansprech­per­sonen herzu­stellen. In einem Workshop ging es zum Beispiel um Dublin und für mich war es wichtig, Leute kennen­zu­lernen aus Ländern in die Menschen aus Deutsch­land hin abgeschoben werden, z.B. aus Bulga­rien. Von denen konnte ich mal wirklich erfahren, wie die Situa­tion der Abgescho­benen tatsäch­lich ist. In Bulga­rien werden die abgescho­benen Menschen z.B. erstmal direkt inhaf­tiert.

Auf welcher Basis werden die dort inhaf­tiert ?

Das entspricht eigent­lich nicht den EU-Aufnah­me­richt­li­nien, aber das passiert einfach. Deswegen sind diese Erste-Hand-Infos aus diesen Ländern z.B. für hier tätige Rechts­an­wälte auch so wertvoll, weil die sich in den Verfahren norma­ler­weise nur auf oft geschönte offizi­elle Angaben stützen können. Deswegen gab es zuletzt eine Delega­tion von Rechts­an­wäl­tinnen nach Tsche­chien. Das kann natür­lich nicht konti­nu­ier­lich geschehen. Wenn es nun Kontakte zu vor Ort existie­renden Struk­turen gibt, ist das hilfreich.

Konntest du mit Menschen aus Polen oder Ungarn reden ? Wie lebt es sich für Aktivis­tinnen in den Visegrad-Staaten ? Haben die was erzählt ?

Die Genos­sinnen aus Bulga­rien sind z.B. in einer echt beschis­senen Lage, das sind insge­samt nur sehr wenige – deutlich weniger als z.B. in einer deutschen Großstadt. Und die Freunde aus Sofia sagen, dass es ungeheuer wichtig wäre, mehr Kontakte zu den Grenzen zu haben, wo Geflüch­tete regel­mäßig von Milizen gejagt und zusam­men­ge­schlagen werden. Und zumin­dest in Sofia würde z.B. ein Soziales Zentrum als Anlauf­punkt dringend benötigt. Im Augen­blick sind sie aber zu wenige, um soetwas durch­zu­setzen. Am liebsten hätten sie deshalb auch Support aus anderen Ländern, von Menschen, die sich vorstellen können, mal nach Sofia zu gehen und dort gemeinsam etwas aufzu­bauen.

Anfang des Jahres habe ich ja die Diskus­sionen inner­halb der radikalen Linken verfolgt, als es darum ging, ein solches Camp aufzu­ziehen. Damals haben viele ein solches inter­na­tio­nales Treffen ja noch als wichtigen Punkt in der gesamten Ausein­an­der­set­zung um eine « Festung Europa » angesehen. Seitdem haben sich die Dinge ja ungeheuer beschleu­nigt und verän­dert – ist für dich von dem Camp irgend­eine Form von « Aufbruch » gegen die Etablie­rung des Grenz­re­gimes ausge­gangen ? War es der Anfang einer « Gegen­of­fen­sive » gegen den Rollback ?

Ich wünschte, ich könnte das sagen. Aber in Griechen­land wurde z.B. durch das Ende der realen Bewegung – also der Migra­tion – auch die Dynamik gestoppt. Da ist zur Zeit auch nicht wirklich dran zu rütteln. Es kommen zwar immer mal wieder Leute durch – aber nur mit viel Geld z.B. Vielleicht wäre Italien dafür der geeig­ne­tere Ort gewesen… Über Leute vom Alarm­phone habe ich mitbe­kommen, dass an einem Tag alleine 1.800 Leute in Italien angekommen sind. Dort wird derzeit auch eher die Dynamik der Migra­ti­ons­be­we­gung sein. In Griechen­land ist das alles etwas zum Erliegen gekommen und konzen­triert sich derzeit auf den recht­li­chen Weg der Famili­en­zu­sam­men­füh­rung z.B.

Hast du also im Camp eine ähnliche Frustra­tion wieder­ge­funden, wie sie derzeit viele Menschen aus politisch arbei­tenden Initia­tiven hier haben ?

Die totale Stagna­tion drückt natür­lich auf die Stimmung. Es gibt nicht wirklich das Gefühl, auf der politi­schen Ebene etwas bewegen zu können. Viele konzen­trieren sich momentan eher auf die recht­li­chen Ebenen : Etwa Dublin-Verfahren, Famili­en­zu­sam­men­füh­rung usw. Viele, etwa in Griechen­land, befinden sich ja auch selber in teilweise existen­zi­ellen Krisen. Denen gehen inzwi­schen die Resourcen aus – die Spenden­auf­rufe für Spiel­zeug für Kinder in den Camps sind absolut ernst­ge­meint.

Die zehn Tage waren außer­halb des Camps ja auch ereig­nis­reiche Tage. Da war Nizza, oder der versuchte Putsch in der Türkei. Habt ihr im Camp davon etwas mitbe­kommen ? Hatte das einen Impact für die Thematik des Camps ?

Die Anschläge eher nicht, aber der Putsch­ver­such in der Türkei ganz massiv. Die Beendi­gung des EU-Türkei-Deals war ja ohnehin ein zentrales Anliegen des Camps. Aber auch die Forde­rung nach sicheren Korri­doren wurde mit den Ereig­nissen in der Türkei noch dring­li­cher. Es gab eine größere Gruppe von Genos­sinnen aus der Türkei im Camp, und von denen haben sich noch in der Zeit des Camps viele überlegt, ob sie überhaupt noch in die Türkei zurück­kehren sollen. Die haben dann auch einen Protstmarsch zur türki­schen Botschaft in Thessa­lo­niki organi­siert.

Haben die etwas geäußert, was wir hier in der aktuellen Lage tun könnten ?

Manche haben vielleicht noch die Illusion, wir hätten viel Einfluss auf unsere Politi­ke­rinnen. Die wünschen sich, dass wir Druck auf die europäi­schen Regie­rungen machen, Erdogan zu kriti­sieren und den EU-Türkei-Deal zu kippen. Es geht darum, deutlich zu machen, dass die Türkei weder ein sicheres Dritt- noch ein sicheres Herkunfts­land ist. Es werden jetzt mit Sicher­heit wieder viele türki­sche Flüch­tende kommen. Einige befinden sich ja bereits in Europa.

Unterm Strich bist du mit deiner Entschei­dung, nach Thessa­lo­niki zu fahren, aber insge­samt zufrieden ?

Ja, vor allem wegen der Kontakte und weil mich das trans­na­tio­nale Netzwerk von Aktivis­tinnen schon auch sehr beein­druckt hat.

Würdest du dir wünschen, dass eine Gruppe wie welcome2wuppertal in Zukunft wieder etwas über den Talkessel hinaus­schaut und sich trans­na­tional noch besser vernetzt ?

Da würde ich mich total drüber freuen, insbe­son­dere, wenn sich Menschen betei­ligen würden, die die erfor­der­li­chen Sprach­kennt­nisse haben. Es gibt so tolle Projekte überall – z.B. das Alarm­phone, wo jeden Tag Menschen­leben gerettet werden. Da braucht es dringend Überset­zungen von Berichten oder sogar am Telefon der Seenot­ret­tung selber. Auf dem Balkan soll jetzt eine ähnliche Struktur ausge­baut werden, weil auch entlang der Route immer wieder Menschen­rechts­ver­let­zungen vorkommen. Da soll es in Zukunft auch eine Vernet­zung geben, für die noch dringend Support gesucht wird. Dafür braucht es noch Leute die spezi­elle Kennt­nisse haben und die Sprachen können. Wenn sich da Leute einbringen wollen, können die sich über die Kontakte, die z.B. bei Welcome to Europe (w2eu​.info) gelistet sind, einfach melden.

Danke.

* Am Tag nach dem Inter­view (27.7.) wurde bekannt, dass die griechi­sche Polizei drei teilweise bereits seit mehreren Monaten bestehende Squats geräumt hat. Die dort lebenden Refugees wurden in ohnehin bereits überfüllten Isolie­rungs­lager gebracht. Betroffen ist auch das im Inter­view erwähnte, während des Camps besetzte Hauspro­jekt. Dass die nominell linke Syriza-Regie­rung unmit­telbar im Nachgang des in der griechi­schen Presse heftig skanda­li­sierten No Border Camps zu Repres­sionen und Räumungen greift, verdeut­licht die verzwei­felte Lage der geflüch­teten Menschen in Griechen­land.

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