Ein Begriff des Irrsinns ?

Das Geschehen um die belagerte Stadt Kobane hält viele in Atem und bringt sie um den Schlaf. Es wird aber auch vieles verän­dern, die Echtzeit­in­for­ma­tion zeigt Wirkung. Aus Ohnmacht kann Wider­stand werden, der angesichts der neuen Heraus­for­de­rungen nötiger denn je erscheint.

Eine Einschät­zung.

irrsinn

« Derweil wird der Name der syrischen Stadt Kobane zu einem Begriff des Irrsinns », so machte am Abend des 3.Oktober die Haupt­nach­rich­ten­sen­dung des ZDF einen Beitrag über die zu diesem Zeitpunkt bereits seit Wochen belagerte kurdi­sche Stadt auf. Und die Begleit­um­stände des ausschließ­lich von den Selbst­ver­tei­di­gungs­kräften der YPG/YPJ geführten Vertei­di­gungs­kampfes lassen tatsäch­lich an einen, einer irren Phantasie entsprun­genen Plot denken : Während in der Stadt hoffnungslos unter­le­gene Verteidiger*innen mit veral­teten Waffen und schwin­dender Munition gegen moderne Panzer und Artil­lerie des « IS » um ihr Leben kämpfen, wird auf dem einen Kilometer entfernten inter­na­tio­nalen Presse­hügel über das Catering am nächsten Mittag verhan­delt.

« Kobane fällt – und die Welt schaut zu ! » Selten war ein knapper Slogan präziser in der Beschrei­bung eines komplexen Vorgangs. Trotzdem trifft der Begriff « Irrsinn » nicht das, was da « vor aller Augen » in einer kleinen Stadt in Rojava, dem syrischen Teil Kurdi­stans, passiert. Die krasse Scheiße hat nämlich Kalkül. Der Master­plan hinter dem Geschehen ist in Ankara entstanden, und in der Umset­zung der eigenen Ideen zeigt sich die türki­sche Regie­rung konse­quent : Während Milizio­näre des « Islami­schen Staates » scheinbar nach Belieben die Grenze zwischen der Türkei und Syrien passieren dürfen, werden schwer verwun­dete Kämpfer*innen der YPG/YPJ beim Errei­chen der türki­schen Grenze von Geheim­dienst­lern und Grenz­po­li­zisten verhaftet. Der türki­schen Regie­rung geht es um ein Benutzen des « IS » für ihre eigene Agenda gegen die kurdi­sche Autonomie und auch gegen das Assad-Regime.

Appelle an die Adresse Ankaras, in den Krieg einzu­greifen, ignorieren die gar nicht heimliche Allianz eines autori­tären Systems mit den brutalen Mördern des « IS ». Niemand fordert auf kurdi­scher Seite ein Eingreifen der Türkei – diese Vorstel­lungen existieren nur in Brüssel oder Washington. Jenen Macht­zen­tren, in denen die Tatsache, dass es bereits entschlossen kämpfende Frauen und Männer « am Boden » gibt, komplett negiert wird. Washington sucht angeb­lich „Verbün­dete am Boden” und will den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Anders als berichtet wird, wird kein Eingreifen der türki­schen « IS»-Komplizen gefor­dert, sondern die Unter­stüt­zung der sich Tag für Tag aufop­fernden Kämpfer*innen der YPG/YPJ. Das könnte leicht geschehen. Ein Korridor, über den militä­ri­sches Gerät und auch perso­nelle Verstär­kung nach Kobane gelangen könnte, würde schon sehr helfen. Denn die Verstär­kung steht seit Tagen in Massen bereit : Tausende Kurd*innen warten an der Grenze darauf, den Volks­ver­tei­di­gungs­mi­lizen zu Hilfe zu kommen, werden von der Türkei jedoch gewaltsam am Grenz­über­tritt gehin­dert.

Auf der anderen Seite scheint es für die US-geführte « Koali­tion gegen ISIS » nicht nur unmög­lich zu sein, auf freiem Feld stehende Panzer zu zerstören, auch der Nachschub für die « IS»-Milizen kommt offenbar ungehin­dert aus dem Süden ins Kampf­ge­biet. So werden einzelne Erfolge der Verteidiger*innen, die unglaub­li­cher­weise immer noch in der Lage sind, die Killer teilweise aus der Stadt zu vertreiben, umgehend zunichte gemacht. So konnte der « IS », dank neuer Waffen und neuer Kämpfer, am 8.Oktober erneut in Kobane einfallen, nachdem es der YPG/YPJ in der Nacht zuvor gelungen war, weite Teile der Stadt zu befreien.

Die Situa­tion in und um Kobane erinnert so an Namen und Ereig­nisse, die sich ins Kollek­tiv­ge­dächtnis einge­graben haben : Madrid, Sarajevo, vor allem aber auch an Warschau, wo Stalins Rote Armee aus Macht­kalkül in Reich­weite tatenlos verharrte, als die faschis­ti­sche Wehrmacht den Aufstand in der Stadt restlos vernich­tete. Der Name der kurdi­schen Klein­stadt Kobane wird sich nun ebenso ins Gedächtnis einbrennen. Es ist jedoch zu bezwei­feln, dass das mit dem Begriff des « Irrsinns » geschieht. Denn die Tatsache, dass die Welt in Echtzeit zusieht, wie die Verteidiger*innen im Stich gelassen werden, unter­scheidet die Situa­tion von den genannten histo­ri­schen Beispielen.

Denn die angesichts der Situa­tion von vielen empfun­dene unerträg­liche Hilflo­sig­keit und Ohnmacht  beginnt sich auflösen. Was aus ihr wird, ist offen. Zu hoffen ist, dass es Wut und Zorn über die von der Türkei und dem Westen gewollte versuchte Zerschla­gung eines linken gesell­schaft­li­chen Experi­ments in Rojava sein werden. Die Zeichen stehen bereits auf Sturm : In der gesamten Türkei haben Aufstände begonnen, die glaub­haften Quellen zufolge, von kurdi­schen und türki­schen Linken gemeinsam auch unter Einsatz militanter Mittel getragen werden. In Ahmed, Batman, aber auch in Istanbul – immerhin die Stadt mit der größten kurdi­schen Popula­tion – gelingt es der Regie­rung nur unter Einsatz des Militärs und in Koope­ra­tion mit Faschisten und « IS»-Fans, die Lage halbwegs zu kontrol­lieren.

Auch in Europa hat sich die Lage verän­dert. War die europäi­sche Linke, von einigen Tradi­ti­ons­ver­bänden einmal abgesehen, anfangs zöger­lich, beginnt inzwi­schen eine breitere Solida­ri­täts­be­we­gung. Sicher auch beein­druckt von den noch immer vorhan­denen Möglich­keiten der kurdi­schen Freund*innen, die nicht nur blendend mobili­sieren, sondern auch noch immer in der Lage sind, beispiels­weise mehrere deutsche Verkehrs­knoten gleich­zeitig zu besetzen, wo wir für einen einzelnen Haupt­bahnhof schon lange Vorbe­rei­tungen benötigen.

Den Anfang machten mit ARAB und NAO gewis­ser­maßen « übliche Verdäch­tige », deren Spenden­kam­pagne « Waffen für die YPG/YPJ » zunächst etwas belächelt wurde – wurden einige Stellung­nahmen der Initiator*innen doch von einer bei ihnen ebenso üblichen Selbst­über­schät­zung begleitet. Inzwi­schen hat aber ein Umdenken einge­setzt – angesichts von Berichten über sich mit ihrer letzten Kugel selbst­tö­tende YPG/YPJ-Kämpfer*innen ist schließ­lich allen klar, dass schon gespen­dete Munition konkret Leben retten kann. (Was kosten heute auf dem Schwarz­markt eigent­lich 100 Schuss für eine AK47?)

Auch das politi­sche Bewusst­sein verän­dert sich. Einmal abgesehen davon, dass die Bilder der entschlos­senen YPJ-Kämpfe­rinnen das erste links­mi­li­tante Modemo­dell in der Celebrity-Welt auslösen, seit sich Che Guevara seine Mütze aufsetzte, nimmt auch das Wissen um die politi­sche Bedeu­tung des Kampfes in Rojava zu. Plötz­lich fällt vielen auf, dass sie Entwick­lungen in der kurdi­schen Bewegung jahre­lang schlicht ignoriert haben und dass das sukzes­sive Entstehen eines fortschritt­li­chen Gesell­schafts­ver­suchs in Kurdi­stan nicht oder kaum bemerkt wurde. Speziell in Rojava taten sich für antipa­tri­a­chale, antika­pi­ta­lis­ti­sche und basis­de­mo­kra­ti­sche Struk­turen nach dem kriegs­be­dingten Verschwinden des autori­tären syrischen Staates neue Möglich­keiten auf.

Immer mehr Menschen begreifen, dass wir vor neuen Heraus­for­de­rungen stehen. Und während sich alte Struk­turen der Antifa aus Ratlo­sig­keit auflösen, hat der neue Kampf vielleicht schon längst begonnen. Es ist ein Kampf, bei dem neue Bündnisse benötigt werden, und bei dem wir verläss­liche Bündnispartner*innen sein müssen. Dass diese Partner*innen auch in der kurdi­schen Bewegung zu suchen sind, ist fast schon ein Treppen­witz. War die Koope­ra­tion zwischen (west-) deutscher Linker und kurdi­scher Linker doch einmal sehr intensiv – im antifa­schis­ti­schen Kampf in Deutsch­land und auch in den kurdi­schen Bergen, in die nicht wenige deutsche Genoss*innen gingen, um die PKK im Kampf gegen das türki­sche Regime zu unter­stützen.

Die neuen Heraus­for­de­rungen sind die anti-emanzi­pa­to­ri­schen Bewegungen der religiösen Fanatiker. Dabei ist es gleich, ob sie ihre religiöse Konno­ta­tion aus dem Islam, der Bibel oder dem « europäi­schen Abend­land » samt „freier Markt­wirt­schaft” ableiten. Der « Kampf der Kulturen » ist keiner zwischen Religionen. Es ist einer zwischen jenen mit emanzi­pa­to­ri­schen Vorstel­lungen, wie sie beispiels­weise in Rojava umgesetzt werden sollen, und denen, die eine Befreiung der Menschen mit allen Mitteln verhin­dern wollen. In der Wahl ihrer Mittel unter­scheiden sich unsere Feinde dabei nur nach histo­ri­scher Lage. (Die Freund*innen des « Lower Class Magazines » haben zu diesem Thema einen lesens­werten längeren Artikel geschrieben.)

Es ist deshalb ungemein wichtig, jetzt solida­risch zu sein mit jenen, deren Freund*innen, Genoss*innen und Verwandte diesen Kampf aktuell am bittersten auszu­tragen haben. Wir müssen mit ihnen sein – auf unseren Straßen, auf den Gleisen in den Bahnhöfen und in den Termi­nals der Flughäfen. Alleine schon, um zu verhin­dern, dass das versuchte Anwanzen der islamo­phoben Vertreter des « Kampfes der Kulturen » irgend­einen Erfolg hat und der wahre Charakter der Heraus­for­de­rung im Kampf um eine befreite Gesell­schaft hinter dem Gewäsch von Spinnern zu verschwinden droht.

« Berxwedan Jiyane ! » « Wider­stand heißt Leben ! »

[Loba]

P.S. Das soli-komitee wuppertal (so_ko_wpt) ruft für heute in Wuppertal und für Samstag in Düssel­dorf zur Teilnahme an den Solida­ri­täts-Demos für Kobane auf. Dazu hat es einige Forde­rungen formu­liert :

  • Ein sofor­tiges Ende der Unter­stüt­zung des IS durch die türki­sche Regie­rung
  • Die Öffnung eines türkisch-syrischen Grenz-Korri­dores für Nachschub, Freiwil­lige und militä­ri­sches Gerät
  • Die umgehende Freilas­sung aller an der türki­schen Grenze verhaf­teten Geflüch­teten aus Kobane
  • Die sofor­tige Strei­chung der Arbei­ter­partei Kurdi­stans (PKK) von der europäi­schen « Terror­liste »
  • Die sofor­tige Freilas­sung aller aufgrund der §§129 in D-Land einsit­zenden Kurd*innen und aller politi­scher Gefan­gener
  • Eine logis­tische und techni­sche Unter­stüt­zung der Volks­ver­tei­di­gungs­mi­lizen YPG und YPJ im Kampf gegen den IS

Außerdem veran­staltet das so_ko_wpt am Sonntag, den 19.10.2014 in Wuppertal im Hayat auf dem Elber­felder Ölberg (Schrei­ner­straße 26) eine Veran­stal­tung unter dem Titel « Für eine neue Solida­rität ! Das Projekt Rojava und die Rolle der Türkei ». Einge­laden sind Ismail Küpeli und Aktivist*innen der kurdi­schen Bewegung. (Beginn 18 Uhr, Eintritt frei)

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Kobane ? Völkermord ? Häh ?

Irgendwie setzt sich der Eindruck fest, dass kaum wer von den Entwick­lungen rund um die kurdi­sche Stadt Kobané Notiz nimmt. Wahrschein­lich liegt das daran, dass immer noch viele nicht genug wissen um die Nachrichten einordnen zu können – abgesehen davon, dass manche vor antiim­pe­ria­lis­ti­schen Brettern vorm Kopf einfach keine klare Sicht haben (ihr glaubt nicht was für volli­di­tio­sche E-Mails mir ins Postfach rauschen…). Wenn ich damit jemandem jetzt Unrecht tue, bitte ich um Entschul­di­gung.

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Also, kurze Infos zur Lage :

Seit mehreren Tagen (seit dem 15.09.) läuft im „Herzen von Rojava”, rund um die 500.000 Einwohner*innen-Stadt Kobane, eine Offen­sive des IS. Gehört hat mensch hier in der Regel nur von den „Flücht­lings­strömen”, die in der letzten Zeit die Grenze zur Türkei überquert haben.

Die Richtung der Flücht­lings­be­we­gung ergibt sich aus der Tatsache, dass Kobane als Zentrum der Selbst­ver­tei­di­gungs­kräfte der YPG gleich­zeitig von Westen, Osten und Süden angegriffen wird. So steht den Menschen nur der Nordweg (in Richtung türki­sche Grenze) offen.

Die Kräfte der YPG kämpfen mit Handfeu­er­waffen und Kalash­ni­kovs gegen schwere Waffen des IS. Dieser verfügt u.a. angeb­lich über 50 erbeu­tete US-Panzer, mit denen er die Guerilla-Stellungen beschießen. Seit Diens­tag­abend scheint der Belage­rungs­ring um Kobane so gut wie geschlossen, dier IS soll laut einigen Meldungen bis auf zwei Kilometer an die Stadt heran­ge­rückt sein. Andere Meldungen geben den Bewohner*innen der Stadt (noch etwa 200.000, nicht nur Kurd*innen, auch Araber*innen und Geflüch­tete) noch einen Puffer von sechs Kilome­tern. In jedem Fall scheint der IS mittler­weile 75% der Region zu kontrol­lieren. Die Hilfe­rufe von dort in den sozialen Medien klingen mehr als verzwei­felt. Der IS hat für den Fall der Einnahme der Stadt bereits Massen­tö­tungen angekün­digt und führt diese in den schon eroberten Dörfern rund um Kobane an den dort verblie­benen Menschen auch bereits aus.

In den Medien erfährt man vom angekün­digten Völker­mord in Kobané so gut wie nichts.
Warum ist das so ?

Eine mögliche Antwort ist, dass Kobané das Herz von Rojava ist, und Rojava (der syrische Teil Kurdi­stans) von linken Kräften verwaltet wird, während die ebenfalls durch den IS gefähr­deten Gebiete im Nordirak, die von Mehsut Barzani regiert werden, mit der NATO und der Türkei engstens zusam­men­ar­beiten. Tatsäch­lich handelt es sich bei dem weitest­ge­hend basis­de­mo­kra­tisch verwal­teten, multi­eth­ni­schen und multi­re­li­giösen Rojava um eines der wenigen Verwal­tungs­ge­biete weltweit, mit dem staats­ferne Linke Sympa­thien verbinden können. Sowohl die PYD als auch die PKK haben offiziell das Konzept „Staat” zu den Akten gelegt. Das soll nicht heißen, dass Öcalan jetzt Autonomer ist, aber trotzdem wird das Leben in Rojava eher lokal und dezen­tral organi­siert. Mit diesen Struk­turen schafften es die Menschen der Gegend bislang, im syrischen Bürger­krieg und gegen die radikal-islamis­ti­schen Gruppen stand­zu­halten. Wenn die westli­chen Medien über die drama­ti­sche Lage des Gebietes nichts berichten, liegt das sicher auch im Inter­esse der Türkei, die ein selbst­ver­wal­tetes, linkes kurdi­sches Projekt Rojava wesent­lich mehr fürchtet als die nordira­ki­sche Autono­mie­re­gion unter Barzani, mit der die AKP-Regie­rung in vielen Berei­chen zusam­men­ar­beitet – vor allem auch gegen die PKK.

Bis heute gibt es auch immer wieder Berichte über perso­nelle und logis­ti­sche Unter­stüt­zung der Türkei für den „Islami­schen Staat”. Hinzu kommt, dass die Türkei die Grenze nach Kobané nach Gutdünken schließt und öffnet. Für Flücht­linge ist sie zwar meist offen, kurdi­sche Kämpfer*innen in Gegen­rich­tung werden jedoch teils mit Waffen­ge­walt am Grenz­über­tritt gehin­dert. Manche sprechen auch von einem Deal der Türkei „Geiseln gegen Kobané” (bezüg­lich der vom IS freige­las­senen türki­schen Geiseln).

Es sollen doch Waffen an „die Kurden” gelie­fert werden.
Warum ist deren Lage trotzdem so verzwei­felt ?

Weil die Aussage schlicht falsch ist. Waffen­lie­fe­rungen gab es nur an die Peschmerga, und die Peschmerga sind Barzanis Armee im Nordirak. Während die Guerilla der YPG nach dem Fall Mosuls den Peschmerga von Syrien aus sehr schnell zur Hilfe eilte, ist jetzt aller­dings von einer Unter­stüt­zung Rojavas durch die Peschmerga nichts bekannt. Mehr noch : Die Peschmerga haben sich dem Westen gegen­über verpflichtet, gelie­ferte Waffen keines­falls an die PKK oder die YPG weiter­zu­rei­chen. Das versteht die Bundes­re­gie­rung unter „Zuver­läs­sig­keit”. Die YPG Kämpfer*innen haben inzwi­schen nicht einmal mehr Munition für ihre Kalash­ni­kovs.

Die Amis führen doch jetzt Luftschläge aus.
Wird das den „Islami­schen Staat” nicht aufhalten ?

Nein. Bisher nicht. Die Luftschläge der „Koali­tion” haben in den letzten Tagen sollten den IS haupt­säch­lich aus Raqqa vertreiben. Das hat bei den IS-Kämpfern eine Bewegung in den Norden Syriens ausge­löst. Und das ist da, wo Kobané liegt. Die Front um Kobané blieb weitge­hend ohne Unter­stüt­zung. Insge­samt sind die Opera­tionen für Kobané bisher eher kontra­pro­duktiv. Die „Koali­tion” bombar­diert lieber Ölfelder, die unter Kontrolle des IS sind, als die Angreifer der Stadt Kobané. Meinungen, nach denen die IS-Milizen ledig­lich versu­chen, sich vor den US-ameri­ka­ni­schen Luftan­griffen in der Türkei in Sicher­heit zu bringen, erscheinen unsinnig. Die Medien des IS lassen diesen Schluss nicht zu, auch der Belage­rungs­ring um Kobané spricht dagegen. Solche Aussagen sind daher eher den von der vorgeb­li­chen militä­ri­schen Stärke begeis­terten USA-Fans zuzuschreiben.

Ist das also doch imperia­lis­ti­sche Kackscheiße ?

Ja klar doch. Ohne einen antiim­pe­ria­lis­ti­schen Ansatz lassen sich die Gesamt­ent­wick­lungen in der Region nicht verstehen. Vor allem das Erstarken der IS-Terror­gruppen und deren Rolle im syrischen Bürger­krieg ist etwas, das auch auf die Kappe der üblichen Verdäch­tigen geht. Anderer­seits : Ist die Ursachen­for­schung derzeit die dring­lichste Aufgabe ? Spielt das in dem Moment wirklich eine große Rolle, in dem sich die Dinge ganz offen­sicht­lich verselbst­stän­digt haben und die Auslö­schung eines linken Experi­ments und von zehntau­senden Menschen bevor­zu­stehen scheint ? So, wie die Sache aussieht, werden die Kurd*innen den IS wahrschein­lich nur aus Kobane heraus­halten können, wenn sie effektiv unter­stützt werden. Und da wir keine inter­na­tio­nalen Brigaden auf die Füße bekommen, bleiben offen­sicht­lich nur die US-Ameri­kaner als militä­ri­sche Hoffnung. Bisher verhallten alle Appelle nach Unter­stüt­zung ungehört. Wenn die „Imperia­listen” nicht helfen, wird das dann eine wahrhaft imperia­lis­ti­sche (Nicht-) Handlung sein, die den türki­schen Mittel­macht-Inter­essen dient. Alles scheiße kompli­ziert eben.

Was tun ?
Mist. Wir können eigent­lich gar nix tun. Nur in Gedanken bei den Menschen in Rojava sein, die um ihr Leben fürchten.

Aber : Inter­es­siert euch ! Bildet euch ! Haltet euch auf dem Laufenden ! Unter dem Hashtag #Kobane bekommt ihr bei Twitter das meiste mit – dort wird auch englisch gepostet, und zwar haupt­säch­lich von kurdi­scher Seite. Die IS-Ärsche und ihre Fans nutzen für den Kampf um Kobané eigene Hashtags.

Weitere Infos :
roarmag​.org/​2​0​1​4​/​0​9​/​k​o​b​a​n​e​-​r​o​j​a​v​a​-​i​s​-​t​u​r​key
civaka​-azad​.org/​e​i​n​-​a​b​g​e​k​a​r​t​e​t​e​s​-​s​p​i​e​l​-​m​i​t​-​d​e​r​-​t​u​e​r​kei
facebook​.com/​p​e​r​s​p​e​k​t​i​v​e​k​u​r​d​i​s​tan

P.S. Es ist eigent­lich zusammen mit dem so_ko_wpt eine Infover­an­stal­tung zu Rojava und zum Kampf gegen ISIL in Vorbe­rei­tung. Gedacht war daran, soetwas für Mitte Oktober zu organi­sieren. Derzeit sieht es aber so aus, als käme sie zu spät – traurig aber wahr.

Update (25.09., am Nachmittag):

Nachdem es in der gestrigen Nacht ganz schlimm aussah und die Erobe­rung Kobanés durch den IS ausge­machte Sache schien, gab es im Laufe des heutigen Tages die erfreu­liche Nachricht, dass die YPG-Kämpfer*innen den von Süden vorge­tra­genen Angriff des IS zunächst zurück­schlagen konnten. Die Angriffe des IS setzen sich den Tag über fort. Dabei soll es in der späten Nacht auch tatsäch­lich zu Unter­stüt­zung aus der Luft gekommen sein, laut Presse­mit­tei­lung des YPG-Sprechers aller­dings „sehr spät” und auch „nicht ausrei­chend”. Während sich die deutsche Vertei­di­gungs-Uschi zusammen mit Barzani in Erbil für die Unter­stüt­zung der Peschmerga feiern lässt, fehlen der YPG noch immer schwere Waffen zur Vertei­di­gung. Die Munition wird immer knapper. Die Lage bleibt unver­min­dert drama­tisch.

Peschmerga und im Irak befind­liche PKK-Truppen haben mittler­weile verlauten lassen, dass sie nicht zu Hilfe kommen können, weil ihnen der Weg nach Kobané abgeschnitten ist. Die YPG fordert die Peschmerga verzwei­felt auf, ihr Waffen zur Verfü­gung zu stellen. Die Aufmerk­sam­keit in Deutsch­land wächst langsam. Für Samstag wird zu einer landes­weiten Kundge­bung für Kobane/Rojava in Düssel­dorf aufge­rufen.

Update (02.10., am Nachmittag): Kobané vor dem Fall

Vor einer Woche konnte noch gehofft werden, dass die Untätig­keit der „Koali­tion” auf einer mangelnden Kenntnis beruhen könnte. Das ist inzwi­schen Geschichte – die Lage in und um Kobané hat die Weltöf­fent­lich­keit erreicht, die Medien berichten ausführ­lich über die drama­ti­sche Situa­tion. Heute, am 2.Oktober, muss deshalb festge­stellt werden, dass die sich selbst als „freie Welt” titulie­renden Länder taten- und gnadenlos in eben jenen Medien einfach zusehen, wie die Verteidiger*innen einer antipa­tri­a­chalen, multi­eth­nisch und multi­re­li­giösen Gemein­schaft im Dauer­be­schuss der Angreifer verbluten.

Die Selbst­ver­tei­di­gungs­kräfte der YPG haben sieben weitere Tage mit völlig unter­le­genen Mitteln stand­ge­halten. Seit einigen Tagen liegt Kobané unter schwerem Artil­le­rie­be­schuss, gegen den sich die Belagerten nur durch Selbst­mord­kom­mandos wehren können, die einzelne Panzer der IS-Milizen ausschalten. Die immer wieder herbei­ge­re­deten Luftschläge der „Koali­tion” gegen den IS haben zu keiner Zeit wirklich statt­ge­funden. Auch eine Bewaff­nung der kurdi­schen Verteidiger*innen gab es nicht. Ledig­lich eine einzelne moderne „Milan”-Panzerabwehrwaffe konnte offenbar in die Stadt gebracht werden. Seit gestern versucht die YPG die Zivilisten aus der Stadt in Sicher­heit zu bringen, nachdem das letzte Dorf vor Kobané in die Hand des IS gefallen ist. Berichten zufolge sollen 80% der zivilen Bevöl­ke­rung rausge­kommen sein und nun in der Geröll­wüste vor der türki­schen Grenze auf eine Einrei­se­er­laubnis in die Türkei warten. Die in der Stadt verblie­benen Kämpfer*innen bereiten sich auf einen Straßen­kampf „bis zur letzten Kugel” vor. Seit 14:00 Uhr werden Meldungen verbreitet, Kobané sei gefallen. Sie sind noch unbestä­tigt.

Die Türkei hat in den letzten Tagen massiv Truppen und Panzer an die syrische Grenze bei Kobané verlegt. Heute soll das türki­sche Parla­ment über den Einsatz von Boden­truppen entscheiden, die in Rojava entlang der Grenze eine „Puffer­zone” errichten sollen. Wie nicht anders zu erwarten, wird dies erst geschehen, wenn die kurdi­sche Selbst­ver­tei­di­gung aufge­rieben wurde. Um diesen Prozess zu beschleu­nigen, hat die Türkei spätes­tens gestern ihre Grenze für IS-Kämpfer geöffnet, die von der Türkei aus nach Kobane wollen. Unter­dessen hat der inhaf­tierte PKK-Führer Abdullah Öcalan verlauten lassen, dass der Friedens­pro­zess zwischen der türki­schen Regie­rung und der PKK definitiv beendet sei, wenn in Kobané ein Massaker geschehe. Im kurdi­schen Amed kam es aus Solida­rität mit den Belagerten in Rojava heute zu einem General­streik, der von Ausein­an­der­set­zungen zwischen Demons­trie­renden und „Sicher­heits­kräften” überschattet wurde.

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