Für die Zeit vom 02.bis zum 05.November rufen UnterstützerInnen zu dezentralen Solidaritätsaktionen für das „#refugeecamp” der hungerstreikenden Flüchtlinge am Pariser Platz in Berlin auf. Der Ansatz zur dezentralen Aktion ist richtig und wichtig.
Der Zorn wächst, wenn von zermürbenden Polizeischikanen und -auflagen gegen die Streikenden am Brandenburger Tor berichtet wird. Unweigerlich fallen einem Vokabeln wie « Schweinestaat« ein. Mit jedem eingezogenen Schlafsack, mit jeder weggenommen Decke und jeder Aufforderung « übermäßige Kleidung » auszuziehen, entsteht der Impuls, den Betroffenen vor Ort zu helfen und solidarisch zu sein. Letzte Nacht war es wieder so, als es Verhaftungen wegen eines getragenen Ponchos gegeben haben soll, nachdem zuvor bereits endlich herangekarrte Rollstühle, (die Protestierenden dürfen sich eigentlich nicht auf den Boden setzen) von den bürokratisch argumentierenden Cops konfisziert werden sollten. Die Schikanen gegen die vom Hungerstreik inzwischen geschwächten Menschen offenbaren dabei eine große Unmenschlichkeit und eine ungebrochene, vorauseilende deutsche Hörigkeit seitens der eingesetzten Beamten gegenüber angeblichen Befehlen.
Und dennoch : Es ist grundfalsch, wenn im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsprotest am Brandenburger Tor nur die fehlende Menschlichkeit beklagt wird und die Streikenden als « verzweifelt » bezeichnet werden. Die Situation ist verzweifelt, die Menschen sind es nicht – im Gegenteil, sie haben sich in den letzten Wochen Stück für Stück ihre menschliche Würde und eine eigene Entscheidungsfähigkeit zurückgeholt. Und das ist genau der Grund für den deutschen Staat mithilfe seinen Schergen gezielt und hart gegen diesen Protest vorzugehen. Ginge es nur um Verbesserungen der Situation, um eine Aufstockung der Essensrationen oder eine renovierte Dusche – man hätte sie längst « großzügig » gewährt – alleine um die Öffentlichkeit zu beruhigen.
Das, was die Furie Staat so wild macht, ist der Versuch einer wiedererlangten Autonomie – der Verstoß gegen eine der urdeutschen Lebensmaximen. « Schuster bleib’ bei deinen Leisten!«, war der Satz, den mir eine meiner Großmütter immer vorhielt, wenn ich als junger Mensch versuchte, aus der Starrheit auszubrechen. « Schuster bleib’ bei deinen Leisten!«, das heißt : Stell’ die Bedingungen deines Daseins nicht in Frage. Akzeptiere, dass du ein Mensch geringerer Ordnung bist. Stell’ nicht zu hohe Ansprüche an Freiheit und Umstände. Und auch : Nimm’ es hin, wenn dich die ARGE schikaniert, hinterfrage nicht, warum dein Chef dir nur dreifuffzig für eine Stunde deines Lebens zahlen will. Mach’ bloß keinen Ärger ! Das bekommt dir nicht ! Und genau diese Drohung versucht der Staat am Exempel des Refugeecamps zu erhärten und glaubwürdig zu machen.
Wenn die « Niedrigsten » – die deren Lebensumstände jeder Beschreibung spotten, die, die nicht entscheiden können, wohin sie gehen, die, die vielfach nicht entscheiden können, was sie von den paar Krumen, die ihnen gewährt werden, einkaufen, die, die jederzeit mit Gewalt aus dem Land gebracht werden können – wenn diese Menschen anfangen, nicht länger « bei ihren Leisten zu bleiben », wenn sie sich ihre Würde und ihr Menschsein zurückholen, dann darf das nicht ungestraft bleiben. Das Beispiel könnte ja Schule machen – vielleicht gar über die Situation der nach Deutschland Geflohenen hinaus. Die selbstbewussten Streikenden in den Camps von Berlin und Frankfurt sind eben auch für uns, die wir zwar unter ungleich besseren Bedingungen leben, gleichwohl aber ebenso isoliert von einem „besseren, selbstbestimmten Dasein” sind wie sie, ein Vorbild. Das, und nicht die gefühlte Herzlosigkeit, ist der Hintergrund der Polizeieskaltion am Pariser Platz, das ist der Grund für den Medienblackout und für die teilweise zu lesenden menschenverachtenden Kommentare.
Das zweite „Camp” am Pariser Platz war nicht unumstritten. Auch die Protestform, der Hungerstreik, ist für viele nicht das ideale Mittel. Doch die Streikenden, die ihren Körper und ihre Gesundheit bereits seit Wochen als Kampfmittel einsetzen, um tatsächliche Veränderungen herbeizuführen, haben die Entscheidung dazu selber getroffen und dann auch selber umgesetzt. Das ist die Botschaft dieses Protestes.
Und auch, wenn die Erfolgsaussichten bezüglich ihrer Forderungen skeptisch beurteilt werden müssen, sie haben viel erreicht – mehr vielleicht, als manche für möglich gehalten haben. Ein größerer Teil der Öffentlichkeit ist aufgewacht. Dass der Hashtag «#refugeecamp » inzwischen seit drei Tagen unter den häufigsten zehn Stichworten bei Twitter gelistet wird, oder dass sich das ZDF genötigt sah, doch zu berichten, weil die « Empörung im Netz » zu groß wurde, bedeutet, dass viele Menschen, die das Thema Asyl- und Flüchtlingspolitik bislang nur am Rande wahrnahmen, auf das elende Dasein der vielen in den Heimen an den Stadträndern aufmerksam geworden sind. Und die live übertragene Behandlung der Menschen am Brandenburger Tor hat viele dazu gebracht, sich eindeutig auf ihrer Seite zu positionieren.
Es wäre jetzt die Aufgabe, diesen Moment zu nutzen, und die Botschaft, die von den Streikenden und Marschierenden ausgeht, in jeden Winkel dieses Landes zu tragen. Sich selbst und andere zu ermutigen, nicht länger einfach hinzunehmen. Nicht länger in stiller Resignation bei den « eigenen Leisten » zu bleiben.
Überall in Deutschland sind Flüchtlinge unter fürchterlichen Umständen untergebracht. In unserer Region beispielsweise in Velbert oder in Heiligenhaus, wo die Menschen in ruinierten Containern leben müssen, weit ab vom Leben und bezeichnenderweise mit einer Leichenhalle als unmittelbarem Nachbarn. Überall riskieren Refugees bei einem Aufmucken mehr als wir, die wir hier geboren sind. Unmittelbare Repression ist für jede und jeden der Flüchtlinge ebenso so nah, wie für die Streikenden auf dem Pariser Platz. Wenn die « Bestrafung » einmal nicht vom Staatsapparat mit seiner Polizei und den Ausländerbehörden ausgeht, springen die Hausmeister der Flüchtlingsunterkünfte ein, die über ein großes Instrumentarium der Entwürdigung verfügen. Wer schonmal bei einer Flüchtlingsdemo war, weiß, dass diejenigen, die den Mut aufbringen, schikanöse Bedingungen anzusprechen, überall auf Schutz angewiesen sind, genauso wie die Protestierenden in Berlin. Wenn die Streikenden des Flüchtlingsmarsches jetzt schon etwas erreicht haben, ist es, dass dieser Schutz möglicher geworden ist, weil viele kapieren, wie es Geflohenen in Deutschland geht und ergehen kann.
Der Ansatz, den Protest jetzt über dezentrale Aktionen auszuweiten – am Besten zusammen mit den Flüchtlingen an den Standorten ihrer Unterkünfte – ist deshalb die richtige Konsequenz aus der öffentlichen Aufmerksamkeit, die die Streikenden in Berlin geschaffen haben. Und es ist auch die richtige Konsequenz aus den Forderungen, die sie seit Beginn ihres Streiks immer wieder formuliert haben :
- Abschaffung des Abschiebegesetzes
- Anerkennung aller Asylsuchenden als Politische Flüchtlinge
- Abschaffung der Residenzpflicht
- Abschaffung der Lager und Sammelunterkünfte für Flüchtlinge
Und noch was in diesem Zusammenhang – am 13.Nobember 2012 ab 0800 Uhr : Sammelabschiebung vom Flughafen Düsseldorf stören !
Weitere Informationen zum Refugeecamp in Berlin gibt es in Fülle bei Twitter unter dem Suchbegriff «#refugeecamp » und auf der Homepage der Flüchtlinge : refugeetentaction.net
Aktuelle Informationen zu Aktivitäten finden sich bei der Karawane und bei THE VOICE