„Es gibt zu viele Mitbürger, die den Menschen in Uniform provozieren.“
„Es gibt zu viele Mitbürger, die den Menschen in Uniform provozieren.“
Wenn Fälle von durch Dienstmüdigkeit oder Corpsgeist bedingten Krankschreibungen und Schmerzen in Abzug gebracht werden, ist die verbleibende Diskrepanz nicht allein durch Gegenanzeigen oder Kriminalisierungsversuche durch die Polizei erklärbar. Ein nicht unwesentlicher Teil muss auf dem subjektiven Gefühl basieren, tatsächlich bedroht oder angegriffen zu werden. Doch woher kommt das Gefühl der Polizei, sich auf so unsicherem Terrain zu bewegen ? Es gibt dafür auch objektive Umstände. Beispielsweise ist die Polizei zwar auf ihrem ureigenen Terrain, der Kontrolle von Menschenmengen und Aufstandsbekämpfung so gut ausgerüstet wie nie zuvor, im für das subjektive Gefühl entscheidenden Polizei-Alltag ist sie jedoch materiell oft im Hintertreffen. Wo Berichte noch auf einem Uralt-Rechner verfasst werden müssen, agiert das Gegenüber mittlerweile mit schnellen und mobilen Devices und Verschlüsselungstechnologien. Meldungen zu vom schmalem Gehalt selbst gekauften Schutzwesten und wegen versagender Funkkommunikation bei Einsätzen bevorzugten Mobiltelefonen tragen sicher auch zum Gefühl der Unterlegenheit und Verunsicherung bei. Und dort, wo PolizistInnen den für die Kontrolle eines Viertels benötigten Respekt auch der Kontrollierten erfahren müssten, erleben sie teilweise das Gegenteil. Das nach Anerkennung heischende Bild vom in der Mitte der Gesellschaft befindlichen Polizisten, funktioniert nicht, wenn es auf Menschen trifft, die sich ihrerseits gar nicht als Teil der Gesellschaft erfahren. Die immer weiter manifestierte soziale Spaltung der Gesamtgesellschaft führt bei jenen 20%, für die die Polizei nicht (mehr) eine Institution ist, der Vertrauen geschenkt wird, zu einem verändertem Verhalten. Menschen, die sich nicht mehr sorgen, bei „Aufmüpfigkeit“ exkludiert zu werden, weil sie auf Inklusion ohnehin keine Aussicht haben, kündigen den seit der „Erfindung“ der „Schutzmänner“ geschlossenen Pakt. Feindliche Blicke begleiten den „Kontaktbereichsbeamten” oder den Streifenwagen, als „Frechheit“ empfundene Reaktionen im Alltag nehmen zu, Widersprüche häufen sich und Anordnungen der Polizei wird nicht immer umgehend und widerspruchslos Folge geleistet. „Es gibt zu viele Mitbürger, die den Menschen in Uniform provozieren und ständig herausfinden wollen, wer der Stärkere ist.” (Gewerkschaft der Polizei im März 2017) Solch „aufsässiges“ Verhalten eines Gegenüber ist für das Verunsicherungsgefühl von PolizistInnen entscheidender als die – ohnehin zurückgehende – reale Gefahr, auf die Fresse zu kriegen. Wie groß der Frust über den Verlust ihrer „unberührbaren” Stellung im Polizeialltag ist, ist dann bei jeder linken Demo zu erleben ; also sobald die Polizei auf jenes Spielfeld gelangt, auf dem sie den Vorteil einer weit überlegener Ausrüstung hat.
Der Druck, den Lobbyvertreter der Polizei gemacht haben, ein Gesetz wie den neuen §114 einzuführen, ist vor allem auch als Handreichung für eine im Dienst zunehmend frustrierte Polizei zu verstehen. Die durch den neuen §114 von der Justiz auf das Feld der Polizei verlagerte individuelle Macht, ein „aufsässiges“ Gegenüber zukünftig qua Anzeige eines vermeintlichen „tätlichen Angriffs“ quasi selber mit drei Monaten Haft zu „bestrafen“, wird ihre Wirkung vor allem im Alltagsgeschäft entfalten. Sie soll die Kräfteverhältnisse zwischen Kontrollierenden und Kontrollierten und das subjektive Überlegenheitsgefühl von PolizistInnen wieder herstellen. Dass die Politik dem, aller juristischen Vorbehalte gegen das Gesetz zum Trotz, nachkommt, spricht auch für politische Verunsicherung. Die Tatsache zunehmend revoltierender reaktionärer Bevölkerungsschichten in der Kombination mit einer im Alltag frustrierten Polizei, die oft ohnehin eine berufsbedingte Nähe zu reaktionären Protesten aufweist, ist für Herrschende gefährlich. Können sie sich nicht mehr auf die unbedingte Loyalität der hauptberuflichen „Wächter“ verlassen, gerät die Grundlage ihrer Herrschaft in Gefahr – heute nicht anders als zu Zeiten, in denen die Polizei als Institution „erfunden“ wurde. Wie soetwas in der Praxis aussehen kann, konnte nicht nur in Sachsen inzwischen mehrfach beobachtet werden : Die Polizei kommt ihrem Auftrag zum Schutz von Politikern einfach nicht nach oder lässt rechte Mobs schlicht gewähren. Zumeist bleibt so ein Verhalten ohne Konsequenzen. Hierin findet sich die eigentliche Bedeutung des Wortes „Polizeistaat“, das zumeist auf die Bedeutung ausgeübter Polizeigewalt reduziert wird. „Polizeistaat“ bedeutet über versprühtes Pfefferspray hinaus vor allem jedoch, gegenüber den „Auftraggebern“ in einer effektiven Machtposition zu sein. Denn während die „Auftraggeber“ – also die Innenminister als Dienstherren – bei Wahlen regelmäßig um ihre Position fürchten und dabei u.a. von der durch die Polizei zu gewährleistenden „Aufrechterhaltung der Ordnung“ abhängig sind, sind die örtlichen PolizeipräsidentInnen und PolizistInnen beamtet und werden auch noch den nächsten Innenminister im Job überleben. Die Politik ist vom „Gehorsam” der Polizei gewissermaßen abhängig und kann sich Forderungen aus deren Reihen nur schwer entziehen.
Wenn die in Wuppertal tätige Polizeipräsidentin Birgitta Radermacher in der Anhörung des Rechtsausschuss des Bundestages zur Einführung des §114 fordert, in Zukunft das Fotografieren und Filmen von Polizeieinsätzen zu verbieten (womit Betroffenen auch die letzte Beweismöglichkeit für nicht stattgefundene „tätliche Angriffe“ genommen würde, während die Polizei in Wuppertal gleichzeitig nach Belieben ihre eigene Sicht filmisch mit „Bodycams“ dokumentieren kann), dann muss davon ausgegangen werden, dass diese Forderung über kurz oder lang von der Politik auch umsetzen wird, weil sie im Grunde durch die Polizei erpressbar und verunsichert ist. Diese, auf den real existierenden „Polizeistaat“ verweisende politische Verunsicherung steht in krassem Gegensatz zum beständig vorgetragenen Mantra eines „Rechtsstaats“, das aus unerfindlichen Gründen auch in der Linken tief verankert ist. Empörte Verweise auf das Grundgesetz bei der nächsten Umsetzung polizeilicher Forderungen und hilflose Presseerklärungen nach der nächsten gewaltsamen Auflösung eines Protestes zeugen von einer linken Unklarheit bezüglich der konkreten Lage und der Verfasstheit der Gesellschaft allgemein. Ähnliches gilt, wenn unter Verweis auf „islamistischen Terror“ und auf rechte Propaganda von der Politik ständig neue Gesetze diskutiert und umgesetzt werden, die fundamental in jenen imaginierten „Rechtsstaat“ eingreifen. „Zensurbehörden“ für soziale Medien oder Fußfesseln für an keiner Stelle definierte „Gefährder“-Gruppen sind nur zwei Beispiele. Vor allem die Fußfesseln für „Gefährder“ sind ein gutes Beispiel für die weiter ausgreifende Verlagerung polizeilicher Definitionsmacht in einen „präventiven“ Bereich. In diesem wird es der Polizei und anderen Sicherheitsbehörden künftig möglich sein, ihre Funktion unter vollständigem Verzicht auf bestehende Gesetze auszuüben, denn ein „Gefährder“ hat ja noch gegen gar kein Gesetz verstoßen. Je nach „Lage“, wie die Polizei es nennt, könnte er oder sie es jedoch in Zukunft vielleicht tun. Überrumpelt von einer, den inzwischen sechzehnjährigen „Krieg gegen den Terror“ mit ständigen Bedrohungsszenarien begleitenden Gehirnwäsche, bleibt linkes Interesse an solchen Gesetzesvoeränderungen eher bescheiden. Oft wird nur wahrgenommen, was für uns selbst bedrohlich ist. Dass uns das meiste des Diskutierten nicht sofort trifft, liegt traurigerweise jedoch nur daran, dass wir zur Zeit nicht ernsthaft als „Gefährder“ wahrgenommen werden. Auch für den §114 trifft das zu, trotz seiner Verabschiedung im Bundestag am 27. April, also noch „rechtzeitig“ vor den Protesten zum G20-Gipfel in Hamburg.
- Inhaltsverzeichnis
- Seite 1 : Unberührbare Polizei, der neue §114
- Seite 2 : Himmlers Freunde und Helfer
- Seite 3 : „Es gibt zu viele Mitbürger, die den Menschen in Uniform provozieren.“
- Seite 4 : Neue Strategien entwickeln : Der neue §114 trifft hauptsächlich andere anderswo.