Repression in der Türkei und in Deutschland

Manchmal verbinden sich im Fokus befind­liche politi­sche Themen­felder auf eine Weise, die kurz zuvor noch nicht erwartet werden konnte. Oft genug sind das Momente großer Anspan­nung. Uns ergeht es derzeit so : Die solida­ri­sche Arbeit im Rahmen der Beglei­tung des §129-Prozesses gegen unsere Freundin Latife und unsere Koope­ra­tion mit kurdi­schen Freund*innen verbinden sich im Moment auf drama­ti­sche Weise.

Repression in Gazi Mahallesi

Repres­sion in Gazi Mahal­lesi

Seit Ende letzter Woche rollt in der Türkei eine Verfol­gungs­welle gegen linke Revolutionär*innen und Kurd*innen, die in ihrer Härte und Breite an dunkelste Phasen türki­scher Repres­sion in den achtziger und neunziger Jahren erinnert. Mitten in diese neuer­liche Phase der Unter­drü­ckung in der Türkei platzte nun gestern die Meldung eines sehr brutalen Urteils in Stutt­gart-Stamm­heim : Vier angeb­liche Unterstüzer*innen der türki­schen DHKP-C wurden zu langjäh­rigen Haftstrafen verur­teilt. Sie waren am selben Tag im Juni 2013 verhaftet worden wie unsere Genossin Latife. Die ihnen gemachten Vorwürfe waren lächer­lich. Der deutsche Staat leistet damit erneut Beihilfe für ein autori­täres Regime. Ein Verhalten, das Tradi­tion hat.

Getötete Gefan­gene in der Türkei

Weit über tausend Menschen wurden inzwi­schen in der Türkei verhaftet - einige wenige so genannte Unterstützer*innen des « IS », vor allem aber türki­sche und kurdi­sche Linke. Die Staats­macht geht dabei mit großer Bruta­lität vor : So wurde Gunay Özarslan, mutmaß­liche Aktivistin der militanten DHKP-C, im Zuge ihrer versuchten Verhaf­tung von über zehn Kugeln der Antiter­ror­cops getroffen und regel­recht hinge­richtet. Anfäng­liche Behaup­tungen der Polizei, es hätte ein Feuer­ge­fecht gegeben, stellten sich im Nachhinein als Lüge heraus. Nach der Ermor­dung der seit Jahren bekannten Aktivistin der außer­par­la­men­ta­ri­schen Linken insze­nierte der türki­sche Staat beim Versuch, die Trauer­ze­re­monie durch ihre Freund*innen und Angehö­rigen in einem alevi­ti­schen Gemein­de­zen­trum zu verhin­dern, eine Art Bürger­krieg auf den Straßen des Istan­buler Viertels Gazi Mahal­lesi, der mehrere Tage anhielt und viele Verletzte und am Ende auch das Leben eines Polizisten einfor­derte.

Die DHKP-C, wegen einiger recht fragwür­diger militanter Aktionen auch bei vielen Linken oft in der Kritik, verfügt, ebenso wie die kurdi­sche PKK, in Gazi Mahal­lesi und in anderen Vierteln türki­scher Städte über eine in Deutsch­land viele erstau­nende Massen­basis : An der nach vier Tagen schließ­lich durch­ge­setzten Beerdi­gung Özarslans nahmen trotz der Bedro­hung durch die Polizei mehrere tausend Menschen teil. Begründet ist diese Massen­basis vor allem im Wider­stand militanter Organi­sa­tionen in der langen und blutigen Geschichte des autori­tären türki­schen Staates, die nicht nur bis zu den Zeiten des Militär­put­sches 1980 zurück reicht. Linke Revolu­tio­näre und die kurdi­sche Bewegung haben in den letzten Jahrzehnten viele tausend Todes­opfer zu beklagen – manche, wie die während des so genannten « Todes­fas­tens » der DHKP-C Verstor­bene, waren durchaus selber zu verant­worten, die aller­meisten jedoch kamen durch Folter oder Tötung durch die türki­sche Polizei oder das türki­sche Militär ums Leben.

So beispiels­weise beim Sturm der Gefäng­nisse im Dezember 2000, der dem zuvor erwähnten « Todes­fasten » voraus­ging. Ein Hunger­streik von 1.000 politi­schen Gefan­genen gegen die Einfüh­rung der « F-Typ»-Isolationshaft sollte mit Gewalt nieder­ge­schlagen werden – mindes­tens 30 Gefan­gene starben bei dieser Aktion. Jene « F-Typ»-Isolationshaft war nach bundes­deut­schen, in Stamm­heim und anderwo erprobten Isola­ti­ons­kon­zepten entworfen worden und als es darum ging, die oft wider­stän­digen Gefäng­nis­trakte mit politi­schen Gefan­genen in der Türkei zu zerschlagen, stand der deutsche Staat den Sicher­heits­be­hörden mit Rat und Tat zur Seite. (Einen ganz guten Einblick in das Wesen der türki­schen Iso-Haft gibt der von Grup Yorum produ­zierte Spielfim « Typ F »). Die deutsche Kolla­bo­ra­tion mit dem türki­schen Staat hat seit den Tagen von « Aghet », dem Genozid an den Armenier*innen, eine lange Tradi­tion. (Darüber sprachen wir u.a. auch bei unserer Tagung « Repres­sion in der Türkei » mit Vertreter*innen verschie­dener türki­scher und kurdi­scher Gruppen im Spätsommer 2013)

Drasti­sche Urteile in Deutsch­land

In diesem Zusam­men­hang müssen auch die §129-Verfahren gesehen werden, mit denen kurdi­sche und türki­sche Aktivist*innen in Deutsch­land überzogen werden. in ihnen kommen völlig ungeniert « Erkennt­nisse » türki­scher Sicher­heits­be­hörden zur Anwen­dung, die diese teilweise mittels Folter oder mit fragwür­digen « Deals » « gewonnen » haben. Nachge­wiesen wird den Angeklagten in der Regel ledig­lich eine Sympa­thie für militante Organi­sa­tionen in der Türkei – eine Sympa­thie, mit der sie, wie erwähnt, absolut nicht alleine stehen, und die als solche in der Bundes­re­pu­blik auch nicht strafbar ist. In einem dieser Verfahren, in denen mit dem Willkür­pa­ra­gra­phen 129 normale politi­sche Tätig­keiten verfolgt werden, kam es gestern – ausge­rechnet auf dem Höhepunkt der Repres­si­ons­welle in der Türkei – zu drasti­schen Verur­tei­lungen von vier nach §129 Angklagten in Stutt­gart. Es waren Urteile, als wäre Tayip Erdogan höchst­selbst der Richter gewesen.

Die Angeklagten Muzaffer Dogan, Yusuf Tas, Sonnur Demiray und Özgür Aslan wurden zu Haftstrafen zwischen vierein­halb und sechs Jahren verur­teilt. Der Haupt­vor­wurf : Sie hätten Eintritts­karten für ein Konzert der revolu­tio­nären Musik­gruppe « Grup Yorum » verkauft, das zur Zeit der Gezi-Proteste in der Türkei beinahe 15.000 Zuhörer*innen in die Oberhau­sener « Arena » lockte. Wie so oft zuvor, waren für die Verur­tei­lung Aussagen maßgeb­lich, die fragwür­dige Zeugen gegen­über dem türki­schen Geheim­dienst über die angeb­liche Struktur der DHKP-C gemacht hatten. Wie auch im erst Mitte Juni begon­nenen Verfahren gegen unsere Gefährtin Latife vor dem OLG Düssel­dorf wurde auch in Stutt­gart dabei weniger über die tatsäch­liche Tätig­keit von Muzaffer Dogan, Yusuf Tas, Sonnur Demiray und Özgür Aslan verhan­delt, als vielmehr der DHKP-C der Prozess gemacht. Eine Betei­li­gung an deren, in den Presse­be­richten zum Verfahren viel zitierten Aktionen wurde den vier Beschul­digten gleich­wohl nicht vorge­worfen.

Ein noch vor der Urteils­ver­kün­dung einge­reichter Antrag der Vertei­di­gung auf Ausset­zung des Prozesses, der explizit auf die laufende Repres­si­ons­welle in der Türkei verwies, wurde abgelehnt – wie auch alle vorhe­rigen Versuche, die politi­sche Situa­tion in der Türkei zu berück­sich­tigen. Die Koinzi­denz der Ereig­nisse in der Türkei und in den Gerichts­sälen macht dabei überdeut­lich, dass sich die deutsche Justiz willfährig zum Handlanger eines autori­tären Regimes in Ankara macht, indem sie mutmaß­liche Sympathisant*innen militanter Gegner des türki­schen Staates anklagt, verur­teilt und einsperrt. Es bleibt zu hoffen, dass die in Stutt­gart von der Vertei­di­gung angekün­digte Revision zustande kommt, und der vor dem OLG Düssel­dorf laufende Prozess weniger willfährig gegen­über dem türki­schen Staat verlaufen wird. Die letzten Berichte aus dem 129er-Verfahren gegen Latife, die von ihren « Freunden und Freun­dinnen » auf der Website zum Prozess veröf­fent­licht wurden, stimmen aber leider skeptisch („Die Angst des Staates” zum vierten Verhand­lungstag über die staat­liche Angst vor migran­ti­scher Selbst­or­ga­ni­sa­tion ; „Richter ohne Centen­ance” zum Eklat am fünften Prozesstag).

Wer den gestern in Stutt­gart verur­teilten Gefan­genen schreiben will :

Özgür Aslan, Muzaffer Dogan und Yusuf Tas :
Asperger Straße 60 – 70439 Stutt­gart
Sonnur Demiray :
Herlikofer Straße 19 – 73527 Schwä­bisch Gmünd

Die nächsten Verhand­lungs­tage gegen unsere Freundin Latife sind am morgigen Donnerstag (30.7.) und nächste Woche Donnerstag (6.8.) vor dem OLG Düssel­dorf im Kapellweg 36, Beginn ist jeweils um 10:30 Uhr.

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Großes Interesse am Prozess gegen Latife

Der §129-Prozess gegen die so_ko_wpt-Mitstrei­terin Latife befindet sich inzwi­schen in der dritten Woche, am Donnerstag findet der mittler­weile fünfte Verhand­lungstag statt. Die « Freunde und Freun­dinnen von Latife », die den Prozess am OLG Düssel­dorf von Beginn an verfolgen und auf ihrer Website « Solida­rität mit Latife » dokumen­tieren, nutzten die Pause im Prozess für eine Infor­ma­tions- und Solida­ri­täts­ver­an­stal­tung am letzten Dienstag. Ziel war es, eine breitere Unter­stüt­zung und ein größeres Inter­esse für den Fall zu errei­chen, der droht, die Anwend­bar­keit des Paragra­phen 129 erneut auszu­weiten – um den Preis einer Inhaf­tie­rung einer Freundin.

Wir dokumen­tieren nachfol­gend den Bericht zur Veran­stal­tung am 14.7. im Café Stil-Bruch auf dem Ölberg. Der Text ist der Website zum Prozess entnommen.

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Bericht zur Info-Veran­stal­tung am 14.7.2015

Anti-Repres­sionar­beit ist ein undank­bares Tätig­keits­feld. Erfah­rungs­gemäß halten sich selbst viele Linke lieber davon fern, aus antizi­pierter Frustra­tion oder auch aus der Furcht heraus, mögli­cher­weise selbst in den Fokus der Ermittler zu geraten, wenn sie sich zu weit in die Nähe einer « wegen Terro­rismus » angeklagten Person begeben. Dass sich das Café Stil Bruch am Veran­stal­tungs­abend mit ca. dreißig Leuten recht gut füllte, war daher in gewisser Weise eine positive Überra­schung. Was auch daran liegen dürfte, dass Latife auf dem Ölberg (und insge­samt in Wuppertal) einfach eine beliebte und bekannte Person ist. Für ihre Freun­dinnen und Freunde verbieten sich die einfa­chen Selbst­schutz­me­cha­nismen, mit denen staat­liche Repres­sion sonst immer gerne als ein Problem « der anderen » konstru­iert wird, ohnehin.

§§129 : Paragra­phen zur Einschüch­te­rung

Die Veran­stal­tung begann mit einer Einfüh­rung zum § 129, der in Deutsch­land bereits 1871 einge­führt wurde und schon damals – neben den Sozia­lis­ten­ge­setzen – eine scharfe Waffe im Klassen­kampf von oben war. Der Paragraph wurde während des Kalten Krieges im Zuge des KPD-Verbots und später im « Deutschen Herbst » als Reaktion auf die militanten Aktionen der Stadt­gue­rilla weiter verschärft. Das in den 1970ern einge­führte Sonder­ge­setz, das sich hinter dem kleinen « a » des §129 a verbirgt, führte den nirgendwo genau definierten Begriff « Terro­rismus » in das Straf­ge­setz ein.

Eine Grund­lage für oft willkür­liche Ermitt­lungen, deren Rahmen bewusst uferlos gefasst ist, und vielfach der Einschüch­te­rung und Ausfor­schung dient : So ist es der Polizei im Rahmen einer einer laufenden 129er-Ermitt­lung u.a. erlaubt, Telefon- bzw. E-Mail-Überwa­chungen und Hausdurch­su­chungen durch­zu­führen oder auch Einblick in Konto­be­we­gungen vorzu­nehmen. Ebenso finden monate­lange Personen- und Wohnungs­ober­va­tionen statt und Peilsender werden an PKWs angebracht. Dass diese Maßnahmen ganz konkret angewendet werden, wurde im Laufe der Veran­stal­tung von Latife und ihrem RA Roland Meister bestä­tigt, als sie von den Überwa­chungen gegen Latife vor ihrer Festnahme 2013 berich­teten. Dabei wurde monate­lang jeder ihrer Schritte dokumen­tiert, zahllose Freunde und Freun­dinnen wurden gemeinsam mit ihr telefo­nisch überwacht.

Grund­lage für diese Ermitt­lungen gegen Latife war ein weiteres Sonder­ge­setz des StGB, das als § 129 b bekannt ist. Es wurde nach offizi­eller Lesart im Gefolge der Anschläge von 9/11 geschaffen – Pläne dazu gab es jedoch schon seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhun­derts. Es erwei­terte die Verfol­gung Verdäch­tiger auch auf eine behaup­tete Mitglied­schaft in (oder Unter­stüt­zung von) als „terro­ris­tisch“ definierten Organi­sa­tionen im Ausland. Eine Tätig­keit der benannten Gruppen in Deutsch­land war mit Einfüh­rung des « 129 b » keine Veraus­set­zung mehr für weitrei­chende Ermitt­lungen und Anklagen.

Mehrjäh­rige Haftstrafen für politi­sche Arbeit

Welche Gruppen von der « Terrorismus»-Definition erfasst werden, bestimmt eine « Terror­liste » der EU und der USA. Wie inter­es­sen­ge­leitet und fragwürdig die Einstu­fung von Organi­sa­tionen als « terro­ris­tisch » durch den EU-Minis­terrat ist, wird z.B. an der Tatsache deutlich, dass das faschis­ti­sche Bataillon Asow in der Ukraine nicht auf der Liste auftaucht, die gegen die IS-Milizen kämpfende kurdi­sche PKK aber immer noch genannt wird. Das führt bis heute zu Verfahren gegen hier lebende Kurd*innen die oft genug auch mit mehrjäh­rigen Haftstrafen enden.

Dasselbe « Schicksal » ereilt in der Regel Angeklagte, denen eine Mitglied­schaft in der türki­schen DHKP-C, bzw. deren Unter­stüt­zung vorge­worfen wird. Die Beweis­füh­rung für eine Mitglied­schaft bleibt fast immer diffus und selbst­re­fe­ren­tiell. Sehr häufig werden voran­ge­gan­gene Urteile aus anderen Verfahren als « Beweis » einge­bracht, oft wird auf Aussagen von in der Türkei Gefol­terten bzw. auf fragwür­dige Geheim­dienst­er­kennt­nisse zurück­ge­griffen. Dazu passte eine kurze Filmdoku zum ersten 129 b Prozess gegen linke Revolu­tio­näre, der 2009 gegen angeb­liche DHKP-C-Unter­stützer in Stutt­gart geführt wurde. Der atmosphä­risch dichte Film zeigte eindrück­lich, wie bedrü­ckend sich ein solcher « Terrorismus»-Prozess auch im Leben der Freun­dinnen und Verwandten der Beschul­digten nieder­schlägt, vor allem, weil die Angeklagten meistens für eine quälend lange Dauer vor und während des Prozesses einge­sperrt bleiben – oft genug unter den Bedin­gungen der Isola­tion. Die Veranstalter*innen sandten daher auch einen solida­ri­schen Gruß an jene vier Angklagten, die 2013 gemeinsam mit Latife verhaftet wurden und seither im Stamm­heimer Knast auf ihr Urteil warten müssen, das in Stutt­gart für Ende Juli erwartet wird.

Latife, die sich glück­li­cher­weise auf freiem Fuß befindet, berich­tete über den Ausgang jenes Stutt­garter « Pilot-Verfah­rens », dessen Urteil in späteren Prozessen immer wieder als « Beweis­mittel » diente – quasi als sich selbst bestä­ti­gendes « Perpe­tuum Mobile » : Die fünf Angeklagten erhielten Haftstrafen zwischen 3 Jahren bis zu 5 Jahren und vier Monaten. Auch damals stützte sich die Ankla­ge­be­hörde wie im Verfahren gegen Latife, auf die Konstruk­tion einer „Rückfront­or­ga­ni­sa­tionen im Ausland“, die der DHKP-C finan­ziell und ideolo­gisch zuarbeitet. Verur­teilt wurden die Angeklagten in Stutt­gart wohlge­merkt nicht für die Planung von Anschlägen, sondern weil sie etwa Geld gesam­melt, Veran­stal­tungen organi­siert und Kontakt zu Genoss*innen gehalten hatten.

Vom Zuschau­er­raum auf die Ankla­ge­bank

Latife erzählte bei der folgenden Gesprächs­runde noch einmal ausführ­lich von ihrem eigenen persön­li­chen und politi­schen Hinter­grund. Für sie war die Knast- und Anti-Repres­si­ons­ar­beit sehr prägend und bedeutsam, mit der sie als Angehö­rige eines linken Gefan­genen noch in der Türkei lebend begonnen hatte und die sie später auch in Deutsch­land bis zu ihrer eigenen Verhaf­tung im Juni 2013 fortge­setzt hatte. An vielen Prozess­tagen hatte sie in demselben OLG-Saal im Zuschau­er­raum gesessen, in dem nun das Verfahren gegen sie selbst statt­findet – viele der Richter*innen, Staatsanwält*innen und Justiz­an­ge­stellte kennen sie seit Jahren. Sie hat zahllose Kundge­bungen vor Knästen organi­siert, Briefe an Gefan­gene geschrieben und Öffent­lich­keits­ar­beit gemacht. Und sie berich­tete gerührt davon, wie viel ihr selbst es in den Wochen ihrer Haftzeit –  z.T. in Isola­ti­ons­haft sitzend – bedeutet hat, einen ersten Brief von einem Freund in den Händen zu halten, oder zu erfahren, dass ihre Freund*innen eine Kundge­bung organi­sierten.

Für sie als Antifa­schistin, Antiras­sistin und Revolu­tio­närin sei es auch immer wichtig gewesen, sich dort, wo sie lebt – also in Deutsch­land und in Wuppertal – gegen die schlechten und rassis­ti­schen Zustände zu wehren. Für sie war es z.B. selbst­ver­ständ­lich, zusammen mit deutschen und migran­ti­schen Antifaschist*innen gegen Nazis zu protes­tieren. So organi­sierte sie z.B. am 29.5. 2013 – vier Wochen vor ihrer Verhaf­tung – die Solinger Demons­tra­tion zum Gedenken an den Anschlag auf das Haus der Familie Genç mit, und betei­ligte sich an Wupper­taler Protesten gegen Nazi-Aufmär­sche. Außerdem organi­sierte sie u.a. zusammen mit der Alevi­ti­schen Gemeinde im Sommer 2013 mehrere Gezi-Solida­ri­täts­demos in Wuppertal und der Umgebung. All diese – ganz normalen und öffent­li­chen – politi­schen Aktivi­täten finden sich nun in der Anklage der Staats­an­walt­schaft wieder.

Latife hat aber auch eine ganze Menge gemacht, was öffent­lich weniger bekannt war. Zum Beispiel hat sie sich, nachdem sie 2009 zur Vorsit­zenden des Vereins Anato­li­sche Födera­tion gewählt wurde, mit anderen migran­ti­schen Frauen gegen die rassis­ti­sche Diskri­mi­nie­rung durch die deutsche Mehrheits­ge­sell­schaft und gegen die Unter­drü­ckung als Frauen durch ihre Männer organi­siert. Sie unter­stützte migran­ti­sche Familien, Frauen und Jugend­liche, organi­sierte Bildungs­ar­beit und inves­tierte viel Zeit und Energie in kultu­relle Aktivi­täten. Diese Aufzäh­lung an Aktivi­täten müsste eigent­lich bereits ausrei­chen, um die Unter­stel­lung der General­staats­an­walt­schaft, die Anato­li­sche Födera­tion sei nichts anderes als eine getarnte Umfeld­or­ga­ni­sa­tion der DHKP-C, zu demen­tieren.

Der NSU-Komplex als Kataly­sator der Anklage ?

Latife hob aller­dings noch eine weitere, nicht ganz unwich­tige Aktivität der Födera­tion hervor : Frühzeitig hatte diese nämlich lautstark öffent­lich gemacht, was inzwi­schen als offenes Geheimnis gilt : die Verwick­lung staat­li­cher Behörden, und insbe­son­dere des Verfas­sungs­schutzes, in die Mordserie des NSU. Und das tat der Verein bereits vor der Selbstent­tar­nung des NSU im November 2011, nachdem die Anato­li­sche Födera­tion Kontakt zur Familie eines der Mordopfer erhalten hatte. Im Januar 2012 startete die Anato­li­sche Födera­tion eine Kampagne zu der Mordserie. Sie betei­ligte sich an der Bündnis­demo « Verfas­sungs­schutz auflösen » im Dezember des gleichen Jahres in Köln und war zum Prozess­auf­takt gegen Zschäpe, Wohlleben und Co. mit einer Delega­tion in München. Es ist sicher nicht an den Haaren herbei­ge­zogen, dass sich manche Person in mancher Sicher­heits­be­hörde dadurch auf die Füße getreten fühlte. Nun steht also die Vorsit­zende eines migran­ti­schen Vereins, der schon sehr früh – lange bevor die meisten Medien aufmerksam wurden – die Kompli­zen­schaft des deutschen Staates mit den Nazi-Terro­risten benannte, selber wegen Terro­ris­mus­vor­würfen vor Gericht.

Im Anschluss an Latifes Schil­de­rung erläu­terte Rechts­an­walt Roland Meister seine Einschät­zung des Prozesses. Er kann auf reich­liche Erfah­rung mit § 129-Verfahren zurück­greifen ; Meister hat zahlreiche Verfahren gegen türki­sche und kurdi­sche Linke als Anwalt begleitet. Er hob nochmals hervor, dass der Paragraph syste­ma­tisch einge­setzt wird nicht um straf­bare Handlungen zu verfolgen, sondern dazu, Gesin­nungen und politi­sche Haltungen zu bestrafen. Er merkte an, dass die Staats­an­walt­schaft im Prozess gegen Latife aber noch über das übliche Ankla­ge­muster hinaus­geht. Denn die Anklage nimmt hier tatsäch­lich keinerlei Bezug auf irgend­eine Verbin­dung Latifes zur Türkei ; sie klagt ausschließ­lich vollkommen « normale » politi­sche Aktivi­täten in Deutsch­land an, wie die Teilnahme an Veran­stal­tungen oder die Anmel­dung von Demons­tra­tionen.

Abschlie­ßend machte Roland Meister noch einmal deutlich, wie deutsche Innen­po­li­tiker und Sicher­heits­be­hörden in mancher Hinsicht auch über das hinaus­gehen, was die oft als faschis­tisch geschol­tenen türki­schen Behörden bei ihrer Repres­si­ons­ar­beit tun : So wurde bspw. kürzlich in der Türkei ein Konzert der links­ra­di­kalen Musik­gruppe Grup Yorum zwar zwischen­zeit­lich verboten, ein türki­sches Gericht kassierte jedoch letzten Endes dieses Verbot. Das Konzert konnte wie geplant vor tausenden Zuhörer*innen statt­finden. In Deutsch­land wird der Verkauf von Eintritts­karten zu einem Grup Yorum-Konzert hingegen als Beweis­mittel für die Unter­stüt­zung einer terro­ris­ti­schen Verieni­gung in die laufenden 129b-Verfahren einge­bracht. Und die in nach wie vor frei in der Türkei erschei­nende Wochen­zei­tung « Yürüyü ? », die ebenfalls als DHKP/C-nah gilt, weil sie erst kürzlich die staat­li­chen Aussagen zur tödlich verlau­fenden Geisel­nahme eines Staats­an­waltes anzwei­felte, wurde im Mai durch das Bundes­in­nen­mi­nis­te­rium verboten.

Weitere Unter­stüt­zung erwünscht !

Der Auftritt Latifes bei der Veran­stal­tung hinter­ließ bei vielen der Teilneh­menden einen tiefen Eindruck : Entschlossen und gleich­zeitig authen­tisch schil­derte sie, wie die Ermitt­lungen und der Prozess Einfluss auf ihr Leben nehmen und wie sie versucht, sich davon nicht brechen zu lassen. Ihr weiterer Weg durch das Verfahren verdient jede Unter­stüt­zung, die wir geben können. Leider fand sich trotz zahlrei­cher Unter­stüt­zungs­be­kun­dungen – (die Spenden­kasse war am Ende gut gefüllt ; vielen Dank dafür!) – bislang noch niemand bereit, sich konkret an der weiteren Prozess­be­ob­ach­tung in Düssel­dorf zu betei­ligen. Wer Inter­esse hat, darf sich gerne an uns – Freun­dinnen und Freunde von Latife – wenden. Allen, die erstmals zu einem solchen Verfahren wollen, bieten wir an, beim ersten Mal gemeinsam nach Düssel­dorf zu fahren. (Kontakt)

Die nächsten Prozess­ter­mine sind am Montag, den 20.7., Donnerstag, den 23.7. und am Donnerstag, den 30.7.2015 am OLG in Düssel­dorf (Kapellweg 36).

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