Unfähigkeit zu Trauern

 

Wupper Nachrichten vom 03.07.1993
Seite 6

Unfähigkeit zu Trauern
Persönliche Betrachtung nach Solingen – von Öndar Erdem

Pfingsten, Samstagmorgen. Beim Aufbruch in den Wochenendurlaub, den ich gemeinsam mit meinem Freund Peter, dessen Tochter Lisa (9) sowie dem mir sehr nahestehenden türkischen Jungen Cihan (10) zu verbringen gedachte, erfuhr ich von den Solinger Morden an fünf Türkinnen. Trotz eines momentanen Schocks gelang es uns nach einer kurzen Weile, diese "Nachricht" den Kindern in recht schonender Weise, wie wir meinten, mitzuteilen. Kinder sind mitunter nachdenklicher als wir Großen, doch entging mir nicht deren reservierte, wenn nicht gar unbekümmerte Aufnahme der Mordnachricht. Es fiel mir daraufhin leichter, in kurzer Zeit die Bilder von Toten und brennenden Häusern zu verdrängen. Zuweilen konnte ich drohende Tränen mit der mir selbst eingeredeten EinflussIosigkeit verdrängen.

Nie jedoch habe ich die immer präsenten inneren Beben von Wut und Tränen gänzlich verschwinden lassen können. Das Schuldgefühl, der Trauer bis dahin nicht richtig zu ihrem Recht und zu ihrem Ausdruck verholfen zu haben, trieb mich nach unserer Heimkehr zu den Solinger Demos. Ich hoffte, dort irgendeine Form des gemeinschaftlichen Ausdrucks der Trauer finden zu können.

Das vorgefundene Szenario war eine elende Enttäuschung. Auf der einen Seite waren türkische Linke, die offenbar eine Chance sahen, der dumpfen Lethargie ihrer politischen Bedeutungslosigkeit zu entkommen und sich als die Bannerträger des Antifaschismus zu profilieren, auf der anderen Seite die rechten Türken, welche nun ihrerseits der rassistischen Barbarei einen ebenso barbarischen und dummen türkischen Chauvinismus "entgegenstellten". Beide Seiten hatten mehreres gemeinsam; beide betrieben die Objektivierung der Opfer. Deren Leiden wurde ausgeschlachtet, das Übriggebliebene weiterverarbeitet zu Propagandamaterial, ihr Gewebe zur Frischzellenkur für welke politische Gruppen verwendet.

Beide Seiten hatten etwas mit der kollektiven Geschichte der Mörder gemeinsam. Die Geschichte der (deutschen) Mörder ist von der Verdrängung der Massenvernichtung bestimmt, die institutionelle und alltäglichen Behandlung der Bevölkerung nichtdeutscher Herkunft von einer Terminologie geprägt, die den Keim des Massenmordes immer in sich getragen hat. Andererseits kann die Ignoranz so mancher Gegendemonstranten gegenüber dem konkreten Schicksal der Toten zum Aufbau eines Gegenhasses führen. Dieser verdrängt die Existenz der deutschen Mitbürgerlnnen als Menschen, als Individuen, als Schicksalgenosslnnen, die womöglich auch unter dem rassistisch verzerrten Antlitz der Gesellschaft zu leiden haben. Als Ergebnis entsteht schließlich eine politische Kultur der Destruktion, in der durch die Verdrängung des Menschlchen bereits die Möglichkeit eines Auswegs verbarrikadiert wird.

Das ist die "Unfähigkeit zu trauern", die Verdrängung zugunsten rationaler Zielsetzungen; die Entpersonifizierung der Opfer. Die Entmenschlichung der Opfer führt früher oder später dazu, daß sich das eigene Gesicht nicht mehr von der Fratze der Mörder unterscheiden läßt.

Um einer zeitraubenden, polemischen und überflüssigen Auseinandersetzung zuvorzukommen betone ich, daß hier keine Gleichsetzung von Nazis und ihren (vermeintlichen) Gegnern vorgenommen wird. Vielmehr will ich auf ein mögliches Reaktionsmuster hinweisen, daß uns keinen .Ausweg aus der herrschenden politischen Kultur weist.

Margarete und Alexander Mitscherlich wiesen ja auf die Gefahr hin, zu der Verdrängung führen kann; sie führt zur Einschränkung der Realitätswahrnehmung mit der Folge sich ausbreitender Stereotypisierung von Vorurteilen. Der entstehende Mangel an sozialer Gestaltungskraft und Phantasie führt letztendlich zu Lösungsmechanismen, die den mechanischen Charakter der Vorurteile in Taten umsetzen. Mit anderen Worten: Die ausbleibende "Problembewältigung", die im Freudschen Sinne eine Folge von Erkenntnisschritten ("erinnern, wiederholen, durcharbeiten") darstellt, führt statt zur Lösung von Problemen zu ihrer "Beseitigung" - in diesem Falle zu Mord. Das Problem der Bewältigung und Reflexion ist eine mühselige Arbeit, die keine einfachen Antworten erlaubt...

Die Bundes--und Landesregierung verfolgt konsequent die unselige deutsche Verdrängungsstrategie und macht in perverser Umkehrung der Ursachen die rebellierenden Jugendlichen zum Hauptgegenstand der öffentlichen Debatte. Es folgt eine Verschiebung der Schuldzuweisung, es wird polarisiert; die türkischen und kurdischen jugendlichen Protestierenden finden sich auf der anderen Seite der Nazimedaille wieder. In der Tat gelingt es, dem Bewußtsein eines Teils der deutschen Bevölkerung die Rebellierenden als den rassistischen Mördern ebenbürtige Kriminelle zu präsentieren. Gleichfalls sehen auch die Rassisten die in der Polarisierung liegende Chance, es folgt eine Kette von Anschlägen, deren mögliche Zielsetzung in der weiteren Aufheizung der Atmosphäre zu suchen ist. Die deutsche Bevölkerung sieht sich von der offiziell verordneten Trauer befreit und darf nun wieder um die 'friedliche' Betreibung ihres AIItagsgeschäfts bangen. Es liegt nun auf der Hand, wo die Störenfriede zu suchen sind: in den Reihender "türkischen Randalierer".

Auf zynische Weise bewahrheitet sich die These der Mitscherlichs, daß die "Unfähigkeit zu trauern" solange weiterbestehen wird, wie für den "Kranken", der darunter leidet "der Gewinn aus der Verdrängung größer ist als das Leiden am Symptom".  Nun scheint es drei Parteien zu geben, die aus diesem Prozeß der Polarisierung ihren Nutzen ziehen: die deutschen Regierungsinstanzen sowie Teile der Bevölkerung, die vermittels Kriminalisierung den strukturellen Rassismus verdrängen; die deutschen Nazis, die die Chance sehen, diesen Rassismus zu schüren; und die türkischen Faschisten, die hierin ihre Chance zum politischen Aufschwung sehen.

Die türkischen Jugendlichen haben die Verhältnisse zum Tanzen gebracht, aber auch die zahllosen türkischen und deutschen 'Normalbürger', Teile der deutschen Linken. Sie alle versuchten mühsam, die Trauerarbeit nicht in Opferausschlachtung, sondern in bewußter sich erinnernder Umgestaltung münden zu lassen.

Nur müssen wir alle.uns bei jeder Drehung darüber im klaren sein, auf wessen Hochzeit wir tanzen!

Es gibt die Gefahren einer vereinzelten, militanten Straßenrebellion. Türkische und kurdische Kids befinden sich in diesen Formen der Auseinandersetzungen immer in der Gefahr, als Outlaws, gebrochene Persönlichkeiten, Opfer rechtlicher Sanktionen herauszukommen. Dies alles ist möglich, und doch hatte die Rebellion wohl auf viele eine befreiende Wirkung. Sie war unausweichlich! Das Gefühl der Machtlosigkeit nach Mölln war unauslöschlich.

Solingen brachte den Zwang, ein Fanal zu setzen: Den unbedingten Willen zum Widerstand. Nur: Dieser Widerstand ist ein Aufbegehren ohne Mittel, ohne Macht!

Die Nächte von Solingen nach der Mordnacht haben signalisiert, daß es ohne Rechte, ohne alternative Mittel zum Widerstand gegen rassistische Bedrohungen keinen Frieden in diesem Land geben wird. Ihre Trauer verbindet sich mit dem physisch spürbaren Gefühl der Angst, die ein wehrloses Wild auf freier Fläche hat. Die Wut ist lediglich die nach außen gekehrte Angst: die Gewalt!

Wir alle sind potentielle Opfer, wir alle sind gezwungen zu reflektieren. Und wir müssen uns vor allem eines klar werden: Wir sind eine lebendige Realität der deutschen Gesellschaft, weder nur das Eine noch nur das Andere. Wir sind beides!

Der Rückzug auf eine nationalistisch geprägte türkische Identität kann für uns nur Verstümmelung und Verlust bedeuten. Erinnern wir uns deshalb an den Aufruf Ralph Giordanos:

"Niemals werden wir unseren Todfeinden wehrlos gegenüberstehen - niemals. Lasst uns mithelfen, Verhältnisse zu schaffen, unter denen nicht Deutsche guten Willens, nicht Ausländer, nicht Fremde, nicht Juden gefährdet leben, sondern Nazis, Neonazis und Skins."

Öndar Erdem

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